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Pehr Henrik Nordgren

Pehr Henrik Nordgren wurde am 19. Januar 1944 auf Åland geboren. Er begann als Vierzehnjähriger, ohne das geringste theoretische Wissen Orchestermusik zu komponieren. Ab dem sechzehnten Lebensjahr schrieb er Musikkritiken. Dann studierte er Musikwissenschaft und war ab 1965 privater Kompositionsschüler von Finnlands angesehenem Symphoniker Joonas Kokkonen. 1967 wurde Nordgren mit der ersten Euphonie op. 1 für Orchester schlagartig bekannt, und mit der zweiten Euphonie konnte er 1969 seinen Durchbruch feiern. Ab Herbst 1970 studierte Nordgren als Stipendiat drei Jahre in Japan, setzte sich mit der traditionellen Musik Japans auseinander und schrieb Werke für japanisches Instrumentarium, darunter das 'Autumnal Concerto' für traditionelle japanische Instrumente und (westliches) Orchester.

Zurück in Finnland, zog Nordgren 1973 ins ostbottnische Kaustinen, das Zentrum der finnischen Volksmusik. Dort traf er den Geiger und Dirigenten Juha Kangas wieder, der ihn schon in den sechziger Jahren zur Einbeziehung finnischer Volksmusik in seinen Kompositionen angeregt hatte. Nordgren schrieb ein neues Stück für dessen neugegründetes Ostbottnisches Kammerorchester: die viersätzige Suite 'Spielmanns-Portraits', eine Volksmusik-Hommage im Geiste, aber nicht im Stile Bartóks. Bis 1996 hat dieses Orchester nicht weniger als vierzehn Nordgren-Uraufführungen unter Kangas gespielt. Inspiriert durch die Zusammenarbeit mit Kangas, hat Nordgren seit 1976 mehr Streichorchestermusik geschrieben, als dies je ein Komponist seines Ranges getan hat, darunter 'Symphony for Strings', 'Concerto for Strings', 'Transe-Choral', 'Cronaca' und 'Equilibrium'; Solokonzerte für Violine, Viola, Violoncello, Viola und Kontrabaß, Horn, Trompete, Saxophon. Daneben komponierte er u.a. vier Symphonien und weitere Solokonzerte, sieben Streichquartette, die Opern 'Den svarte munken' (nach Tschechows Novelle 'Der schwarze Mönch') und 'Alex' sowie Oratorien über alte Volksmythen.

Ausgehend von einer besonderen Faszination für das symphonische Format Dmitrij Schostakowitschs und die Klangwelt György Ligetis, nahm Nordgren seinen Weg zwischen allen Lagern hindurch - weder Konservativer noch Modernist. Eine freitonale Clustertechnik, eine Art farbschillernde Mixtur aus Paraphonie und Heterophonie, ist heute mehr denn je persönliches Vokabular in Nordgrens Schaffen.

Cronaca op. 79 per archi (1991)

Pehr Henrik Nordgren schrieb 'Cronaca per archi' op. 79 in einer Zeit äußerster Niedergeschlagenheit. Das viersätzige Werk, am 14. Juni 1991 uraufgeführt, ist de facto Nordgrens zweite Streichersymphonie.

Das einleitende Adagio gliedert sich in drei große Abschnitte, wovon die äußeren auf einen F-Orgelpunkt zentriert sind und der mittlere auf einen d-Orgelpunkt. Es hebt mit aus verhaltener Ferne ins unwirsche Hier und Jetzt aufbegehrendem Urakkord an, reißt mit einem Sforzato ab, und aus dem neuerlichen Nichts erhebt sich in feierlicher Einstimmigkeit das chromatisch verästelte Hauptthema, das den recht einfach gebauten, im Detail aber sehr raffinierten Satz durchwebt. Es mündet in ein anschwellendes F, an dessen Verstummen die Synkopen des neuen Zentrums d anknüpfen. Der gleichbleibende Rhythmus verliert sich in auskomponierte Irritation. Aus einem crescendierenden d treten die Celli mit dem Thema hervor, die Geigen imitieren. F tritt wieder an die Stelle von d, und nun bahnt sich die lange Steigerung an, das eigentliche Spannungspotential des langgestreckten Hauptthemas wird über dem gleichbleibenden Grundton mit aller Macht entfaltet.

 

Der zweite Satz, eine Art Allegro, nennt sich Duo. Über einer halb polymetrisch gebundenen, halb aleatorisch wuselnden Begleitung in dreifachem Pianissimo (erst mit Eintritt der Solisten wird klar, ob es sich um einen Dreier- oder einen Vierertakt handelt) erheben sich die derben Stimmen zweier barbarischer Darsteller zum Streit: Violine contra Viola. Charakteristisch die Quintole, die auch einige Male mit überraschender Wucht, splitterndem Eis gleich, vom urplötzlich für einen Moment gemeinsam agierenden Orchester eingeworfen wird. Mit ignorantem Nebeneinander und irrwitzigem Höhenspuk überbieten sich die Protagonisten an Ungeschliffenheit. "Die beiden agieren sehr unkultiviert. Wie ein seltsamer Witz: Zwei Personen auf den gegenüberliegenden Seiten eines Flusses, die sich gegenseitig zurufen, aber sie rufen gleichzeitig, hören einander nicht zu. Manchmal spielt auch nur einer, und am Ende hat ein Dritter das letzte Wort, das Cello, nur mit einem kleinen Kommentar, ohne jedes Gewicht. "

Der dritte Satz, Agitato, trug anfangs den hintersinnigen Titel 'Rage's Progress', den Nordgren aber zurücknahm. Mit jähen Mitteln wird Zorn inszeniert und symphonisch durchgeführt: Von Anfang an abrupt aufeinanderfolgende, widersprechende rhythmische Zellen, rabiat emporstürmende und druckvoll herabdrängende Melodik, bedrohlich artikulierte Triller, schroffe Einwürfe, perkussive Akzente, kollidierende Dissonanzen, steigernde Repetition. Dem wilden Aufruhr folgt ein unruhig zurückgehaltenes Legato-Seitenthema, das zurückhaltend attackiert wird - dann scheinbare Beruhigung, Gegendruck des tiefen Pizzicatos: Die Coda konfrontiert die Legato-Thematik in der Höhe mit der Staccato-Motivik in der Tiefe. Entschiedenes Abwärtsdrängen, harter Akzent, atemloser d-moll-Nachklang in vierfachem Pianissimo: Ein auskomponiertes Verstummen.

Im Epilogo, Tempo grave, erinnert das allgemeine Crescendo zur Tiefe hin, die der proportionskanonischen Motivik nachempfundene, überlagerte Rhythmik ein wenig an Arvo Pärts 'Cantus in memory of Benjamin Britten'. Doch Nordgrens dynamisches Formbegreifen führt zu ganz anderen Resultaten. Früh treten leiterfremde Töne hinzu. Die zweite Phrase hebt mit gesteigerter Emphase an. Der aufrührerisch trillernde Gegenpart aus der Tiefe stellt sich dem Abstieg entgegen und führt zu einer dramatisch imitierenden Engführung zwischen hohen und tiefen Stimmen, die sich zu massivem Cluster verdichtet. Machtvoll löst sich die Spannung in einen Abgesang, doch das humpelnde Pizzicato der Kontrabässe pocht unerbittlich weiter, auch vor immer entmaterialisierterem Flageolet-Hintergrund, und beweist am Ende trotzige Beharrungskraft mit rauhem Bartók-Pizzicato. Der Widerstand bricht zusammen, und die verklärte Einfachheit der Schlußfläche schließt in einem glockenartig unreinen Akkord, in dessen Verklingen der Kontrabaß eine knappe, zweimalige Reminiszenz ausspricht.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für BIS-CD und für Konzert des Ostrobothnian Chamber Orchestra, 1997]