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Pehr Henrik Nordgren (geb. 1944)

3. Symphonie op. 88 für großes Orchester (1993)

I Lamentations/attacca: II Postlude – III Choral IV Interlude V – Defiance/attacca: – VI Epilogue
(Deutsche Erstaufführung)

 

Das imaginäre Orchester

"Am Anfang meiner Dritten Symphonie sind die 'Lamentations'. Diese dunklen Gefühle von Mitleid, Schmerz und Klage sind die Hauptsache in meinem Leben von früher Kindheit an gewesen. Können Sie im Ernst sagen, diese Welt sei eine glückliche? Das ist nicht wahr. Ich fühle immerzu so viele deprimierende Dinge um mich herum. Diese Dinge will ich irgendwie ausdrücken. Das ist für mich ein natürlicher Bedarf. Aber nichts daran kann ich erklären. Dabei bin ich doch kein Tier: Ich denke, daß ich denke…"

Pehr Henrik Nordgren wurde am 19. Januar 1944 auf Åland geboren. Als er drei Jahre alt war, übersiedelte die Familie nach Helsinki. Seine Eltern waren keine Musiker, doch seine Mutter war eine künstlerisch aufgeschlossene Person. Als ihr jüngster Sohn musikalisches Interesse zeigte, nahm sie ihn mit in die Konzerte des Rundfunk-Symphonieorchesters. "Als ich klein war, machte ich meine eigenen 'Filme', die ich in meinem 'Heim-Kino' in der Familie vorführte. Die Bilder dafür malte ich auf Papierbögen. Die Musik dazu kam von Schallplatten. Da bekam ich diese große 78er-Platte mit der Fünften Symphonie von Schostakowitsch. Es war nur eine Platte, mit der Pianissimofläche vor dem mächtigen Schluß im Finale. Es war eine furchtbare, seltsame Stimmung. Diese Musik hinterließ einen so starken Eindruck in mir, daß sie der eigentliche Anfang für mich war. Bis dahin hatte ich das Lebensziel, Filmregisseur zu werden. Doch nach diesem Schockmoment veränderte sich alles: Ich wollte herausfinden, was Musik wirklich ist. Ich wollte Komponist werden. Aber meine Eltern verstanden nicht, daß ich wirklich interessiert an Musik war. So dauerte es noch, bis ich als Vierzehnjähriger ein Instrument bekam. Mein Onkel, der Kapitän zur See war, hörte von meinem Interesse und ließ seine Geige, die er in seiner Jugend gespielt hatte, zu mir schicken."

Kaum hatte er die Geige, da begann er auch schon mit dem Komponieren. "Anstatt Skalen zu üben, spielte ich immer nur meine eigenen Stücke: Lange melodische Linien, 'symphonische Dichtungen' von 10-15 Minuten: Titel wie 'Herkules', 'Penelope auf Ithaka', 'Odysseus und der Zyklop Polyphem' oder 'Skylla und Charybdis'. Ich stellte mir dabei vor, es seien Orchesterstücke: die ganze Melodie gespielt von einem großen Orchester, wie in Mussorgskijs Baba Yaga. Aber es war meine eigene Baba Yaga, die ich auf der Geige beschwor."

Von Anfang an also trug Nordgren den Bedarf nach der großorchestralen Monodie in sich, wie ihn auch der kollektive Aspekt einer Mehrstimmigkeit, in der die Einzelstimme zu ertrinken droht, und die Durchwirkung dieser monodischen und polyphonen Tendenzen zu einer Art Heterophonie, seit jeher faszinierte. Völlig auf sich selbst gestellt, komponierte er nun auch Orchestermusik, las Bücher über Musiktheorie und Instrumentation. "Die erste Partitur, die ich kaufte, war Mozarts Jupiter-Symphonie. Als ich in den Laden ging, war das, als würde ich ein Pornoheft kaufen – aufregend, neu und wie etwas Verbotenes." Nordgren ging seinen Weg ganz allein. Er hatte keinerlei musikalische Kontakte: "Ich schrieb Orchesterstücke, aber nur für mich selbst. Ich komponierte geheim. Nur meine Eltern wußten, daß ich immer dasaß und Partituren schrieb. Sie fragten mich nie, warum ich das alles niemandem zeigte. Als ich 1963 Schule und Militärdienst hinter mich gebracht hatte, wollte ich an der Sibelius-Akademie Komposition studieren. Ich reichte einen großen Stapel Partituren ein, kaufte ein Klavier und versuchte, für mich selbst das Klavierspiel zu lernen. Weil ich kein Pianist war, wurde ich als Kompositionsstudent abgelehnt. Die Partituren hat keiner angeschaut." Schon als Sechzehnjähriger hatte Nordgren begonnen, für eine kleine kommunistische Wochenzeitung Musikkritiken zu schreiben, und konnte so alle Konzerte hören: "Das war eine effektive Art, über Musik viel zu lernen." Nun nahm er ein Musikwissenschaftsstudium an der Universität auf. Er wurde Assistent von Erik Tawaststjerna, der zu jener Zeit seine umfassende Sibelius-Biographie verfaßte, für die Nordgren teilweise mitverantwortlich zeichnete.

Melodisch-polyphone Cluster

Mit einem kleinen Streichquartett, das er Quartettino nannte, bewarb sich Nordgren für ein Festival neuer nordischer Musik in Stockholm. Das Stück wurde abgelehnt, aber Joonas Kokkonen, Finnlands angesehenster Symphoniker, fand die Partitur interessant. 1965 wurde Nordgren Privatschüler Kokkonens, "der mir eine Art Vater wurde. Er half mir, an mich zu glauben. Nie versuchte er, mich in eine bestimmte Richtung zu drängen. Sein Unterricht war geprägt von tiefem Respekt für die Schüler. Von Kokkonens Musik fühlte ich mich nicht beeinflußt."

Das erste eigene Werk, das Nordgren überhaupt zu hören bekam, war ein circa zwanzigminütiges Notturno für Streichorchester in der "Komponistenwerkstatt" des Städtischen Orchesters Helsinki unter Jorma Panula. Dann ging alles recht schnell. Die Euphonie I für großes Orchester, die 1967 beim Nordischen Festival in Helsinki unter Ulf Söderblom uraufgeführt wurde, machte Nordgrens Namen schlagartig bekannt. Und im Januar 1969 gelang ihm mit Euphonie II, darin stimmten die Überschriften der zwei wichtigsten Tageszeitungen Finnlands überein, der "Durchbruch". Diese zwei ersten Euphonien (denen 1975 eine dritte von geringerem Gewicht folgen sollte) waren eigentlich Symphonien, doch zog Nordgren der traditionellen Zuordnung die Leitidee des Euphonischen (Wohlklingenden) vor, obwohl seine Dissonanzballungen einer solchen Idee mehr Wunsch- den Realcharakter verliehen: "Der Titel unterstreicht vor allem meinen Versuch, mehr eine organische, sich 'natürlich' entwickelnde Konzeption zu verwirklichen als eine vorbestimmte Konstruktion. Melodielinien werden in einem Cluster-artigen, polyphonen Fluß sanglicher Figuren verwoben; mal schwellen sie an, dann werden sie filigraner und eine Melodie kann sich freischwimmen und unabhängig werden. Selbst da noch, wo keine bestimmte Melodie mehr herausgehört werden kann aus dem Gewebe, stellt sich paradoxerweise ein 'melodischer' Eindruck ein. Die Welt der Euphonie II ist mir auch heute noch sehr nahe."

Was Nordgren über seine Euphonien sagt, gilt zu einem großen Teil für seine Werke bis heute, wenngleich sein Schaffen seither allmähliche, aber signifikante stilistische Wandlungen vollzogen hat. Durch die Bekanntschaft mit dem aus Kaustinen, dem Zentrum der finnischen Spielmannsmusik, stammenden Geiger Juha Kangas erwachte in Nordgren während des Studiums bei Kokkonen das Interesse an der Volksmusik seiner Heimat. Gemeinsam machten Nordgren und Kangas Radiosendungen. In einigen Werken Ende der sechziger Jahre hat Nordgren versucht, unterschiedliche Aspekte der Folklore ineinander zu verweben mittels einer frei polyphonen Clustertechnik, die Anregungen von György Ligetis elaborierten Klangfeldern verarbeitet hatte, so in dem Orchesterwerk Minore, dem Zweiten Streichquartett und den Four Pictures of Death nach alten Holzschnitten für Kammerensemble. Ligeti faszinierte ihn "in einem technischen Sinn: in seiner Art, die Musik sehr linear aufzubauen. Linear, aber mit Cluster-Klängen. Ich versuchte, das auf meine Art weiterzuentwickeln. Melodie war für mich weiterhin unverzichtbar. So folgte ich dem utopischen Gedanken, mit Clustern melodisch klingende Musik schreiben zu wollen. Dabei ist das vertikale Element immer wichtiger geworden. Ich habe diese Vorstellung nie aufgegeben: Melodisch-polyphone Cluster." Man kann in solchem Vorgehen auch die Tonalisierung des Atonalen oder genereller die Vitalisierung des Amorphen erblicken. Vielleicht auch ein Schaffen im Kreuzfeuer zwischen dem Fatum der geistigen Leitgestalt Dmitrij Schostakowitsch und den neuen klanglichen Horizonten, wie sie Ligeti mit unnachahmlicher Meisterschaft und Kühle erschloß. Während Ligeti jedoch zum Expressiven lebenslang Distanz hielt, war Nordgren stets ein genuiner Ausdruckskünstler, der immer die Idee unverstellter Aussage des im Innern Notwendigen vor Augen hatte.

Ritualistische Objektivierung

Nordgren hätte nun gerne bei Olivier Messiaen oder György Ligeti weiterstudiert. Doch erhielt er ab Herbst 1970 ein Stipendium für einen dreijährigen Studienaufenthalt in Japan. Statt ihn zu Teizo Matsumura oder Toru Takemitsu gehen zu lassen, wies man ihm den altseriellen Yoshio Hasegawa als Lehrer zu. Der Unterricht war unergiebig, und umso intensiver gab sich Nordgren der Faszination einer Welt hin, die ihm zugleich fremdartig und vertraut erschien. "Das Beste, was ich in Japan lernte, war das Leben, die Haltung zum Leben." Er vollendete 1971 ein Auftragswerk des Finnischen Rundfunks, das monumentale, einstündige Agnus Dei op. 15, den Gipfel- und Schlußpunkt seines frühen Schaffens. "Der erste Teil ist eine alte östliche Volksdichtung über Armut, Hunger usw. Im zweiten Teil verwendete ich verschiedene Pamphlete über die Verschmutzung der Natur. Die Kritiker nannten das Werk deshalb 'Pollution Symphony' – ein ungefähr zwanzig Minuten langer Abschnitt heißt 'Panorama': Da geht es wirklich um Verschmutzung, um Verseuchung. Weiters sind da zwei sehr subjektive Gedichte von finnischen Autoren, und ein drittes Gedicht von einem Chinesen, das dazu paßt. Zum Schluß kommt das Agnus Dei." Die Uraufführung war von Pannen überschattet, eine zweite Chance hat das Werk nie erhalten. Als nächstes schrieb Nordgren 1972 das kurze Orchesterwerk Turning Point, das seinen Anfang aus einem Crescendo kurz vor dem Ende des Agnus Dei bezog, und in der strukturellen Prägnanz und Klarheit, in der auf knappem Raum rituell entworfenen Dramaturgie eine veränderte Wahrnehmung reflektierte, die wegwies vom überdimensionierenden Zug der Vorgängerwerke: "Ich spürte, wie sich etwas bewegte in meinem musikalischen Erleben, wie sich etwas verinnerlichte. Die Einflüsse der japanischen Kultur kann ich nicht analysieren, ich trage sie in mir oder auch nicht. Ich war völlig involviert mit dieser Erfahrung. Alles war so überwältigend und fantastisch…" Da Hasegawa weder Zeit noch Sinn für die Belange seines Schülers hatte, verlief Nordgrens Studium in Japan gewissermaßen wie in seiner Jugend: nur sich selbst gegenüber verantwortlich aus der ständigen Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Kultur. Er beschäftigte sich intensiv mit der traditionellen Musik Japans, vor allem der Volksmusik, was sich in zwei Quartetten für traditionelle japanische Instrumente und vor allem im Autumnal Concerto op. 18 für traditionelle japanische Instrumente und (westliches) Orchester von 1974 niederschlug. Autumnal Concerto ist 1996 bei der Tampere Biennale wiederaufgeführt worden und bewies in der einzigartigen Fusion ungebrochene Aktualität. Leider sind Aufführungen dieses ferne Welten verbindenden Werks mit hohem Aufwand verbunden und entsprechend selten.

Die ritualistische Objektivierung, die Nordgren aus der japanischen Erfahrung gewann, wurde ein entscheidender Gegenpol zu seiner persönlich aufgeladenen Expressivität. Zurück in Finnland, waren Werke wie die mit frappierender Natürlichkeit collagierende und von Schostakowitsch verwandtem grotesken Humor funkelnde, virtuos orchestrierte Erste Symphonie op. 20 und das Klavierkonzert op. 23 mit seiner gebündelten rhythmischen Ekstatik die Folge: eine hochlebendige neue Nüchternheit ohne jeden Akademismus, aber auch ohne Verleugnung der emotionalen Drangsal. Auch das Zweite Violinkonzert op. 33, durchdrungen von unablässiger Invokation des Haupttons F, und selbstverständlich die zehn Kwaidan Ballads für Klavier Solo über eine Auswahl der legendären Japanese Ghost Stories von Lafcadio Hearn, die vielleicht extremste Ausformung der narrativen Grundtendenz in Nordgrens Schaffen, sind in unterschiedlichster Hinsicht mit der japanischen Erfahrung verbunden. Die Kwaidan Ballads gehören zum Originellsten zeitgenössischer Klavierliteratur.

Nordgren und Kangas

Bald nach seiner Rückkehr nach Finnland verließ Nordgren mit seiner japanischen Frau Shinobu Helsinki und ließ sich in Kaustinen, etwa 500 Kilometer von der Hauptstadt entfernt in Ostbottnien gelegen, nieder. Dort traf er Juha Kangas wieder, der ein Jahr zuvor als Geigenlehrer an das Konservatorium im benachbarten Kokkola gegangen war, wo er aus 10-11jährigen Schülern ein Streichorchester gründete, das inzwischen als Ostbottnisches Kammerorchester zu den weltbesten Ensembles gehört und soeben sein 25jähriges Bestehen feierte. Zwischen Nordgren und Kangas entspann sich seither eine kontinuierliche Zusammenarbeit, wie sie heute nicht nur in den nordischen Ländern, sondern weltweit einmalig sein dürfte. Am Anfang stand mit den Portraits of Country Fiddlers op. 26 eine urmusikantische Folklore-Hommage, geistes- aber kaum stilverwandt mit Haydn und Bartók, spontan überbordend und doch perfekt balanciert, die den Reichtum und die Frische einer allmählich verschwindenden Musizierkultur mit intuitivem Gespür für das Essentielle, Spezifische veredelt. Nordgren hat kein einziges weiteres Werk dieser Art komponiert. Die zwei Jahre später vollendete Symphonie für Streicher, deren sich vor Schostakowitsch verneigendes Adagio-Finale zuerst entstand, offenbarte eine bisher nicht erreichte, selbstverständliche Direktheit der persönlichen Aussage. Zusehends vertiefte sich jetzt der introvertiert verletzliche und zugleich leidenschaftlich herausfahrende Grundzug seines Wesens. Nordgren war immer ein Einsamer und zugleich einer, der sich kollektiv identifiziert mit dem Leid in der Welt. Doch seine klagende Stimme besingt einen kompakten, realen Zustand, wie bei Schostakowitsch halten Stolz, Nüchternheit und kompromißlose Ehrlichkeit die Gefühlsfluten in Schach. Es ist nur insoweit sentimental, daß das strukturell Wesentliche erlebbar hervortritt.

Angespornt durch die Leistungen von Kangas’ Ensemble, hat Nordgren mehr Musik für Streichorchester geschrieben als irgendein anderer Komponist seines Ranges. Fast alle diese Werke wurden vom Ostbottnischen Kammerorchester uraufgeführt, viele davon sind ins ständige Repertoire dieser Musiker übergegangen. Wenn er nächstes Jahr in Turku die Vierte Symphonie dirigiert, ist das die siebzehnte Nordgren-Uraufführung unter Kangas’ Leitung. Da liegt es nicht fern, daß Spötter und Neider in Helsinki vom "Hofkomponisten von Juha Kangas" sprechen. Doch aus der Hauptstadt bekam Nordgren, wie fast alle in der Provinz lebenden Komponisten, in all den Jahren nur wenig Bestätigung und kaum Aufträge. Es ist keine leichte Aufgabe, aus der Vielzahl seiner Werke seit 1980 (immerhin bis heute die Hälfte seines Gesamtschaffens) die wichtigsten zu nennen.

 

Schöpferische Produktivität

Die 1981 vollendete Kammeroper Den svarte munken (Der schwarze Mönch) op. 52, deren Libretto Nordgren auf der Basis von Tschechows gleichnamiger Novelle erstellte, gehört sicher dazu. "In den Volkow-Memoiren werden Pläne Schostakowitschs erwähnt, Tschechows Novelle als Oper zu realisieren. Er hat diese Oper nie geschrieben. Mein bescheidener Versuch ist eine Art Hommage zum Gedächtnis von Schostakowitsch. Die Geschichte erzählt vom Konflikt zwischen Genie und Normalität, zwischen Schöpferischem und Nicht-Schöpferischem, von der Macht der Phantasie gegen die alltägliche Pedanterie: 'Normal und gesund sind nur einfache Menschen'. Zur Zeit der Entstehung der Oper trieben mich irgendwie die gleichen Probleme um wie den Helden des Stücks." Auch die 1983 fürs Fernsehen geschriebene Terroristen-Oper Alex op. 56 ist ein wichtiges Werk. Unter den weiteren Vokalkompositionen ragen die Kalevala-Fantasie Taivaanvalot (Die Lichter des Himmels) op. 63 (1985) und das in der Sámi-Sprache auf einen Text von Nils-Aslak Valkeapää geschriebene Mysterium Beaivi, áhcázan (Die Sonne, mein Vater) op. 70 (1987-90) heraus. Bei Taivaanvalot nahm das Studium der Runen der originalen Volkssagen, der Vergleich mit alter indianischer Mythologie mehr Zeit in Anspruch als die Komposition, bei der Nordgren versuchte, "den Kalevala-Mythos als Geschichten zu erzählen, einen naivistischen Zugang umzusetzen."

Doch das Hauptgewicht von Nordgrens Schaffen lag immer auf der Instrumentalmusik, überwiegend für Streicher. Seine bisher sieben Streichquartette schreiben in freier Fortführung eine polyphone Tradition weiter, die an Schostakowitsch anknüpft. Unter der zahlreichen weiteren Kammermusik finden sich u. a. zwei Bläserquintette, ein Klavierquintett, ein Klaviertrio, die herrliche Sonate für Violoncello Solo op. 83 und viele ungewöhnliche Kombinationen. Reizvoll für besetzungsflexible Kammerorchester sind die Nachtwache op.3 (Suite zum Hörspiel von Nelly Sachs), Fate-Nostalgia op. 72 für Klarinette, Violine, Klavier und 12 Celli, Programme Music op. 76 oder die Kammersymphonie op. 97.

Nordgrens Beitrag zur Gattung Solokonzert ist beträchtlich: 4 Violin-, 3 Viola-, 4 Cellokonzerte, ein Doppelkonzert für Viola und Kontrabaß, und je ein Konzert für Klarinette (mit volkstümlichen Instrumenten), Altsaxophon, Horn, Trompete, Klavier und Kantele. Dazu kommen einige Konzertstücke. Ein großer Teil ist mit Begleitung von Streichorchester.

Nach der Symphonie für Streicher und dem Concerto für Streicher op. 54 entstanden zwei umfangreichere Streichorchester-Kompositionen: der zweisätzige Transe-Choral op. 67 von 1985 und die viersätzigen Cronaca op. 79 von 1991 (letztere de facto Nordgrens zweite Streichersymphonie). Zu großen Teilen ist Transe-Choral ein enigmatischer Hymnus in weitgespannt fließender, sich auffächernder oder verdichtender Monodie. Es ist vielleicht das meistbewunderte Stück Nordgrens und wurde vielfach als meditative Musik bezeichnet, ist aber fern der wohlgefälligen modischen Glätte, die gerne mit diesem Begriff in Verbindung gebracht wird. In letzter Zeit komponierte Nordgren zwei kürzere Streicherwerke von exquisiter klanglicher Phantasie – welcher andere Komponist hat schon eine so reiche Erfahrung mit dem Streichorchester? –, Equilibrium op. 94 (1995) und Rock Score op. 100 (1997), die in der kompakteren Anlage leichter zugänglich sind als manches andere Werk. In seinen jüngsten Kompositionen arbeitet er viel mit Naturtonreihen und Viertelton-Valeurs.

 

 

 

 

Seine Zweite Symphonie op. 74 schrieb Nordgren 1989. Sie ist ein klanglich sehr diffiziles und empfindliches Werk, "dessen innere Struktur auf einem Tonsystem basiert, das ich 'ergänzend' nenne: Verschiedene Tongruppen – wie Skalen von fünf oder sieben Tönen – werden wiederholt (Einfluß der Minimalisten, in einer bestimmten Weise), einander alternierend und ergänzend; die innere Dramaturgie wird hauptsächlich durch das unerwartete Auftauchen bis dahin vermiedener Töne kreiert." Von der Dritten Symphonie wird gleich noch die Rede sein. Die derzeit entstehende Vierte Symphonie soll wie schon die Zweite und Dritte in Turku uraufgeführt werden.

Kontrollierte Spontaneität

Selbst das Soloinstrument in seinen Konzerten wird von Nordgren nicht vordergründig zur Demonstration von Virtuosität oder zu musikantischer Konversation gebraucht. Eher gleicht der Solist einem alter ego, einer Stimme, die durch alle Widerstände und Attraktionsfelder hindurchträgt. Man mag ihn als Wolkenreisenden bezeichnen. Dabei entsteht keine der ihm begegnenden Wolkenbildungen zufällig. Freilich geht es Nordgren nicht um vordergründige Ordnung, vielmehr gibt er der freien Phantasiegestalt hintergründigen Zusammenhalt. Das Regelwerk von Wetterherrscher Nordgren ist nichts für den Analytiker, zu sehr ist das Unregelmäßige Teil des Systems. Da mag der forschende Geist noch so akribisch die Details aufdecken, das Wesen der Natur läßt sich nicht ergründen. Form ist für Nordgren "kontrollierte Spontaneität". Meist legt nicht er fest, sondern es legt sich fest, und er wacht nur über die Entwicklung, stößt hier etwas an, bremst dort etwas, wirkt ständig aus der Vision der Gesamtgestalt den eigendynamischen Tendenzen der einzelnen Teile, Kraftfelder, Charaktere entgegen. Dabei denkt Nordgren in den letzten Jahren "immer weniger an die Form, wenn ich mit einem neuen Stück beginnen möchte. Ich plane weniger und merke, wie die Form sich selbst entwickelt. Sie wächst hervor aus dem hauptsächlichen musikalischen Material. Es ist eine Art natürlicher Prozeß. Ich spüre, wie dieses und jenes Motiv in diese und jene Richtung gehen möchte, diesen und jenen Bedarf hat. Und dann baue ich Schritt für Schritt weiter – das hat nichts zu tun mit Improvisation! – an dem, was man Form nennt. Ich habe eine Art Rahmen. Früher hatte ich immer sehr genaue Pläne zugrundegelegt. Doch ich habe sie nie vollständig erfüllt. Immer kamen irgendwelche Überraschungen im Laufe der Niederschrift. Da habe ich mich zunehmend gefragt: 'Warum soll ich wie ein Sklave arbeiten? Warum sollten die Töne wie Sklaven sein? Laß sie ihr eigenes Leben führen!'" Zur Erkundung der versteckten Bauprinzipien mag folgende Erklärung ein Hinweis sein: "Auch ich habe einen Ausgangspunkt, mit dem ich aus dem Hintergrund bestimme, daß alles zusammengehört, zur gleichen Form sich zusammenschließt. Es sind keine Zwölftonreihen. Ich arbeite mit anderen Arten von Motiven, Intervallstrukturen. Ich experimentiere viel damit. Dann habe ich eine Art Reihe, ein Set von Intervallen. Darauf baue ich das Ganze auf. Das ist, wie wenn Sie ein Gebäude bauen. Sie brauchen zurechtgeschnittene Steine. Ich brauche gleichartiges Material, um die Ungleichartigkeit der klanglichen Phantasie, diese anarchistischen Tendenzen, auszubalancieren. Ich habe meine versteckten Bauintervall-Systeme, zum Beispiel in vielen Werken aus jüngerer Zeit ein System von 48 Intervallkombinationen – nach 48 Schritten kommt die gleiche Kombination wieder. Vier mal zwölf: Große Sexte, Tritonus, kleine Sexte, Tritonus, und von vorne. Ich benutze das sehr frei, und es ist so beabsichtigt, daß Sie nicht irgendeine Art System erkennen. Aber es ist da immer etwas im Hintergrund, worauf ich mich beziehe."

Die Dritte Symphonie op. 88

"Meine Dritte Symphonie ist eine Art Autobiographie. Ich denke, daß sie mehr von mir selbst spricht und handelt als jede andere meiner Kompositionen. Ich schrieb sie, als ich fünfzig Jahre alt wurde, und ließ mein ganzes Leben bis dahin vor meinem inneren Auge ablaufen. Natürlich sind alle Kompositionen in einem gewissen Sinn über einen selbst. Aber diese ist es noch mehr, mit ihrem ganzen Hintergrund."

Pehr Henrik Nordgrens Dritte Symphonie op. 88, vollendet am 30. Dezember 1993, wurde vom Philharmonischen Orchester Turku in Auftrag gegeben und am 27. Januar 1994 unter Leitung von Jorma Panula, dem das Werk gewidmet ist, uraufgeführt. Weitere Aufführungen fanden unter Sakari Oramo in Helsinki und unter Juha Kangas in Lahti, Riga und Tallinn statt.

Das Werk ist in sechs Sätze gegliedert, von denen die ersten beiden nur durch eine Fermate getrennt sind und die letzten beiden attacca ineinander übergehen. Der zweite und vierte Satz sind Soloklavier-Zwischenspiele.

 

Apotheose der unheilen Welt

"Der autobiographische Impuls zu meiner dritten Symphonie zog die Einbeziehung zweier Schlüsselwerke nach sich: der Kammeroper Der schwarze Mönch nach der Novelle von Tschechow, aus der ein zentrales Thema im ersten Satz Eingang findet, und der Terroristen-Oper Alex, aus der einige Motive im letzten Satz vorkommen. Die wichtigste Frage im Schwarzen Mönch – 'Was ist normales und was ist abnormales Leben?' – hat mich selbst stark bewegt, und nicht umsonst befindet sich dieses Thema im Herzen des Satzes. Lamentations, der erste Satz, beginnt unvermittelt, in medias, mittendrin in dieser einzigen Verzweiflung, die sich nicht auf etwas Bestimmtes bezieht. Die Verzweiflung ist umfassend. Der Satz konzentriert diese Gefühle. Mehr könnte nicht sein."

Die Lamentations (Wehklagen) beginnen mit einer Initiale von Perkussion und Klavier, die mehrfach gliedernd wiederkehrt, entweder – wie am Anfang – als schroffer Einschnitt – oder indirekter, verhaltener. Sekundweise abwärts fließendes, zwischendurch flehend sich aufschwingendes Melos der Streicher prägt das einleitende Lamento in leittönig durchzogenem g-moll. Die abwärtsstrebenden Leittöne sind charakteristisch für den klagenden Charakter. Eine zweite Lamento-Fläche der Streicher zieht weiter in die Tiefe. Nun übernehmen weit ausgreifend die Holzbläser das motivische Geflecht von den Streichern, das so einen immaterielleren Zug erhält. Es mündet in eine raumgreifende g-Intonation, und aus der Tiefe steigt in den Hörnern das Thema aus dem Schwarzen Mönch empor, das der Verzweiflung Halt und Identifikation gibt. "Hier wird in der Oper eine Symbolik angewendet, die wir nicht intellektuell erfassen können. Nachdem die Mädchen zuvor von einem geisteskranken Mädchen sangen, besingen sie die mystischen himmlischen Klänge. Dann erscheint der Mönch. Was da vor sich geht, liegt fernab unserer alltäglichen Erfahrungswelt. Das ist Tschechow." De profundis clamavi… Das Mönch-Thema wird von statuarisch wechselnden Blockakkorden getragen. G ist überall. In einem Pianissimo-Abschnitt schwingt die Intensität dieser Erscheinung im Wechsel der Gruppen nach. Wieder setzt das Lamento ein und bricht abrupt ab. Dissonante Klangblöcke, Schläge, ein grelles ais-h-Motiv symbolisiert den hereinbrechenden Terror. Wendung ins Pianissimo, unwirklich leuchtendes Holz-Flageolett, inwendiges g-moll-Lamento des Englischhorns führt über in eine Steigerung. Die Harmonie bricht plötzlich nach e-moll um. Eine drastische Subito più mosso-Episode wird mit heftiger perkussiver Attacke angerissen, ein massiver a-Klang führt hinein in die Auseinandersetzung, in der sich, vom sekundweise abwärtsschreitenden Baßgang gestützt, die zu g-moll leitende Harmonik gegen aggressive Perkussion und Glissando-Einwürfe der Posaunen durchsetzt. Tempo primo saugt sich das intensive Lamento am g-moll-Grund fest, reißt mit der Wiederkehr der Initiale ab. Noch einmal heftiges Aufbäumen, scharfe Dissonanzen, ein Ringen zwischen Ordnung und Chaos, das im ais-h-Terrormotiv gipfelt, unter welchem nun der bestimmend artikulierte g-Klang der Streicher die widerstrebenden Kräfte bündelt.

Die Agonie danach spricht sich in einem Postlude (Nachspiel) des Soloklaviers aus. "Nach jener dunklen Erfahrung bleiben wir sozusagen an jenem Ort und hören in die 'Stille'. Langsame, stille, gleichmütige Klänge. Widerhall. Postlude ist ein direkter Kommentar zum Vorhergegangenen: 'Wir brauchen Frieden in unserer Seele.' Am Ende gibt es eine Öffnung. Da treten die Bratschen mit dem a dazu, einem zentralen Ton der Symphonie, der in einer buddhistischen Weise das innerste Gleichgewicht unseres Daseins symbolisiert."

Mit breitem, tiefem Klang der Blechbläser hebt der dritte Satz an, der Choral. Aus diesem Klang heraus verzweigt sich jene für Nordgren so typische Heteropolyphonie, die er mit dem Begriff "melodisch-polyphone Clusterbildung" zu umschreiben sucht. Choral ist auf merkwürdige Weise entstanden: "In meiner Jugend, ungefähr 1965, schrieb ich ein Solocello-Stück, dessen Noten immer noch auf meinem Klavier sind. Für Choral veränderte ich das horizontale Geschehen zu einem vertikalen. Das ist die Basis des Choral. Es gibt keine Verbindung zu irgendwelchen vorhandenen Chorälen. Es ist 'mein Choral'. Es ist sehr neutral gehalten. Keine Meinung, keine Stellungnahme ist vonnöten. Es ist ganz einfach wie unser Leben, geschieht sozusagen ohne Einmischung, ohne Zutun." Von dem heteropolyphonen Gewebe hebt sich in machtvoller Oktavierung eine "Choral"-Melodie ab. Immerzu treten aus diesem mehr oder weniger engmaschigen Gewebe, diesem Equilibrium des Ungleichartigen, einzelne Stimmen hervor, denen Priorität zukommt. Diese können lediglich vorübergehend Privilegierte sein, die wieder im Kollektiv verschwinden, oder in ausgesprochener Individualität diesem gegenübertreten. Metrisch gibt die Form vier Abschnitte vor. Nach dem in freier Polyphonie nachklingenden Schluß des ersten Abschnitts wird das 4/4-Metrum von einer 9/8-Espressivo-Episode abgelöst, in der die übergeordnete Zweistimmigkeit am Ende, durch das erste Horn angestoßen, sich auflöst. Die Rückkehr von Haupttempo und -metrum zieht ein intimeres Klangspektrum nach sich, ein Streicher-Unisono-Thema dominiert. In das verklingende e trägt das Klavier jene doppelleittönige Konstellation, die gis und b zu a eint, hinein, die am Ende des Satzes wiederkehrt. Fortissimo e tremolo spielen die Streicher den Choral, der jedesmal eine andere Melodie ist; ekstatisch ergänzt die Trompete und führt weiter in die Höhe. Mit verschobenen Sforzati reißen die dissonierend anschwellenden Klangblöcke ab. Das 9/8-Metrum wird für die verhaltenere Schluß-Episode wieder aufgenommen. Die Choralmelodie wird vom Englischhorn eingeführt, aber diesmal wird sie von Instrument zu Instrument weitergereicht, sozusagen in instrumentatorischer Brechung. Fremdartig licht und schwebend ist der Pianissimo-Schluß mit dem skeletthaften Klappern der Tom-Toms. Der Schlußklang wird gerahmt vom Ton a, dessen Bedeutung vom Klavier unterstrichen wird.

"Der vierte Satz, Interlude, ist ein Klavierstück, das zwischen allem steht. Es soll völlig indifferent sein, hat nichts zu tun mit den übrigen Sätzen. Am Ende kommt dann das F der Bratschen herein, der wichtigste Ton des ganzen Werks. Er ist kaum hörbar, wie ein Klang direkt aus dem Himmel. Er kommt von einem Ort, den Sie nie herausfinden können. Das ist der Klang des Lebens." Im Interlude (Zwischenspiel) liegt die Betonung mehr auf der vertikalen Komponente. Es hat einen statischeren Charakter als die Umgebung. Eine zweimalige Allusion zur Initiale im ersten Satz fällt auf, letztere den Pianissimo-Schlußklang setzend, mit dem die Bratschen das F intonieren, das alleine weiterklingt und im Nichts verschwindet.

Der fünfte Satz, Defiance (Herausforderung), ist eine Quasi-Passacaglia im 9/8-Takt mit viertaktigem Thema. Der Charakter ist herausfordernd, trotzig, wie ihn der Titel vorgibt. "In Defiance sind wir zurück als normale Menschen in einem normalen Leben. Du mußt immer kämpfen gegen etwas. Gegen irgendetwas. Immerzu. Diese Welt ergreift Besitz von dir. Es wird immer schwieriger und härter. Aber du mußt durch." Die Bratschen spielen das Thema. Die Begleitung ist zackig, aggressiv (sie widerspricht von Anfang begleitendem Charakter, beharrt auf ihrer Eigendynamik). Nach dem vierten Mal setzt das Thema für zehn Takte aus, subito forte setzen sich die perkussiv-aggressiven Tendenzen durch, verdichten sich. Subito piano werden drei Takte auf der Stelle verharrender Marcato-Bizarrerie inszeniert (die Stelle erinnert an Prokofjew), die Quarte der Hörner ist Signal zum Einsatz: Das Thema kehrt in den Bratschen wieder, wird mit Aleatorik, mit rhythmischem und figurierendem Eigensinn unter Druck gesetzt, dem es drei Durchgänge lang standhalten kann. Dann ertrinkt es in dem wilden Tohuwabohu. Erst als die Hörner à 4 das Thema aufgreifen, ist es wieder vernehmbar. Dann geht es in rhythmisch modifizierter Form an Bratschen, Klarinetten und Altflöte über, die in äußerster Bedrängnis sind in dem rücksichtslosen Treiben, das unvermittelt abreißt. Über dem e der Pauke werfen Trompeten und Posaunen trotzig gezackten Widerspruch ein. Stattdessen kehren die zum a führenden Klavierarpeggien vom Anfang des Satzes wieder, führen das massive tiefe a ein, das pianissimo nachklingt.

Attacca setzt der letzte Satz, Epilogue (Nachwort), mit mächtigen, statuarisch in terzverwandten Schritten parallel aufwärtssteigenden Dreiklangsblöcken ein, über denen schicksalhaft in den Hörnern das Terroristen-Thema aus der Oper Alex ertönt. (Diese Oper handelt vom Industriellensohn Alex, dessen unterdrückte Rebellion hervorbricht, als er sich in die Terroristin Miriam verliebt. Er wird Mitglied der Terrorgruppe und begreift allmählich die entsetzliche Tatsache, daß es hinter dem Morden keinen Idealismus mehr gibt. Da ist es auch für ihn bereits zu spät. Die Oper identifiziert sich mit der ausweglosen inneren Realität des verbrecherischen Menschen, der das, wogegen er aufbegehrt, vermehrt.) Der Horntriller führt mitten hinein ins Desaster, in dessen Zentrum das ais-h-Terrormotiv aus den Lamentations steht (die auch der Zentralton g beschwört). Die anschließende Meno mosso-Episode entführt in eine bitonal gefärbte Gegenwelt, in deren Mittelpunkt der Pianist das helle Thema der Terroristen-Romanze aus Alex vorträgt, die Illusion einer heilen Welt – es klingt fast wie Ravel! –, umrahmt von einem elegischen Holzbläsermotiv, sich auflösend in aufsteigenden Vibraphonklängen. Peitsche und Woodblock markieren den Übergang ins Tempo primo. Hier lösen 4/4 das bisher bestimmende, unruhige 3/4+3/8-Metrum ab. In der langen, polyphonen Steigerung, die auf sekundweise aufsteigendem Baßgang fußt, intonieren die Trompeten den Anfang des Alex-Themas zu Satzbeginn. Ein Quasi-Zitat des Terrormotivs aus dem ersten Satz markiert die abschließende Phase der Zentrierung der auseinandertreibenden harmonischen Kräfte. Das besessene Insistieren der ersten Trompete auf den drei Tönen b, c und d symbolisiert die Unbeugsamkeit, das Bekenntnis zum sich Bekennen – eine für den Wahrheitssucher Nordgren fundamentale Botschaft. Die Symphonie endet freilich nicht in strahlendem B-Dur. Des gewinnt die Oberhand über d, das Gesetz erfüllt sich in b-moll: Die Wahrheit dieser Welt ist nicht die einer heilen Welt. "Das Ende ist erfüllt von Hoffnung. Die Orchestration ist sehr verwickelt – das ganze Orchester spielt zusammen, aber sehr Verschiedenes, Mannigfaltiges zur gleichen Zeit. Sie können nicht die ganze Zeit genau verstehen, was passiert. Aber wenn Sie das Ganze empfinden, können Sie eine Vision alles Geschehenden haben, ein Gefühl vom ganzen Universum der Musik. Alles ist von diesem Gefühl des Universums durchdrungen. Also: Laß es geschehen! Geh’ mit! Und es hört auf, aber eigentlich sollte es nicht aufhören. Aber so ist es." Pehr Henrik Nordgrens Dritte Symphonie ist eine Apotheose der unheilen Welt.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Konzerte der Münchner Philharmoniker, 1997]