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Pehr Henrik Nordgren
3. Streichquartett op. 27

Hintergründiger Zusammenhalt freier Phantasiegestalt

"Ich habe meine versteckten Bauintervall-Systeme. Ich muß ja auf etwas referieren, brauche eine Grundlage. Ich mache nicht konsequent davon Gebrauch: Manchmal müssen Sie einige Töne rausschmeißen, usw. Ich benutze das gleiche Material, und variiere es gewissermaßen die ganze Zeit über. Jedoch sind da so viele nicht absolut-musikalische Elemente, die oft überhand nehmen, die Führung übernehmen. Denn für mich hat Musik stets erzählerische Struktur."

Pehr Henrik Nordgren, 1996

Nordgrens 1976 komponiertes drittes Streichquartett ist, wie auch das vorangegangene Klavierkonzert, noch stark befruchtet von seinem dreijährigen Studienaufenthalt in Japan (1970-73). Dabei wirkten sich die japanischen Einflüsse, abgesehen von einigen Werken für traditionelle japanische Instrumente (darunter 'Autumnal Concerto' für japanisches Quartett und großes Orchester), eher indirekt aus - nicht in japanischem Stil, sondern mit japanisch geprägter Geisteshaltung. Zum ersten Mal ist das im 1974 uraufgeführten 'Turning Point' für Orchester zu spüren, wo sich, als Gegenpol zur persönlich aufgeladenen Expressivität, Elemente ritualistischer Objektivierung durchsetzen, die in den folgenden Werken wieder zusehends aufgelöst werden. Denn nicht vordergründige Ordnung ist Nordgrens Anliegen, sondern hintergründiger Zusammenhalt freier Phantasiegestalt. Das dritte Streichquartett, uraufgeführt am 1. September 1976 vom Voces Intimae Quartett beim Helsinki Festival und seit bald 20 Jahren im Repertoire des Vilnius-Quartetts, ist eines von Nordgrens ersten Werken in der heute von ihm fast ausschließlich verwendeten einsätzigen Form - "wie ich es heute immer noch mache". Noch ist gelegentlich der Einfluß seines Jugendidols Schostakowitsch zu spüren, von dem er heute weit weg in einsames Neuland freier Tonalität vorgestoßen ist, seine, die persönlichste Stimme zeitgenössischen Musikschaffens in Finnland vertiefend, konzentrierend, Grenzen erkundend und überschreitend, gipfelnd in Werken wie Transe-Choral für 15 Streicher oder dritten Symphonie. Ist die Schostakowitsch-Komponente in den Werken vor dem Japan-Aufenthalt mit dem Tschaikowskij-Gepäck des angehenden Symphonikers Sibelius vergleichbar, so war Nordgren andererseits seit den sechziger Jahren tief beeindruckt von Messiaen und Takemitsu, vor allem aber von György Ligeti, dessen elaboriert lineare Clustertechniken Nordgren anregten: "Ich versuchte, das in einer bestimmten Art weiterzuentwickeln. Denn Melodie war für mich weiterhin sehr wichtig. So folgte ich dem

utopischen Gedanken, daß ich in einer Ligetischen Art, mit diesen Clustern, melodisch klingende Musik schreiben wollte. Die lineare Konstruktion durchläuft Clusterbildungen, aber das Ergebnis klingt melodisch. Das vertikale Element ist dabei immer wichtiger geworden; ich habe diese Vorstellung nie aufgegeben. Ich nenne es 'melodisch-polyphone Cluster'." Weitere, eher unerwartete Impulse erhielt das dritte Streichquartett aufgrund Nordgrens Faszination für die französischen Impressionisten: "War die Bindung an das Japanische eher emotionaler Natur, so war der französische Einfluß bewußt anvisiert, und hier war es mehr Ravel, zu dem ich eine Affinität empfand, als Debussy: mehr das Zeichnerische als das Malerische, was sich übrigens in einem Quasi-Ravel-Zitat (T. 200, Ganzton-Motiv unisono) niederschlägt, vom jungen Ravel. Es ist meine hommage à Ravel." Das Werk ist primär aus zwei Materialquellen gespeist, die sich in vielgestaltiger Weise durchdringen und polyphonisch abgeleitete Nebentriebe ausbilden. "Der Anfang ist eine Art freie Imitation einer buddhistischen Hymne - oder, besser gesagt, eine Art Choral, aus freier Vorstellung geschaffen." In Spiegelanlage tritt das initiierende Unisono-As mit seinen Ganzton-Nachbarn in Beziehung, schafft eine getragene Stimmung. Das scharf dissonierende A widerstrebt mit gleicher Motivik, punto origine des Konfliktpotentials des ganzen Satzes. Unauffällig wird die Grund-Intervallreihe eingeführt, die auf der Intervallfortschreitung kleine Terz-Tritonus-Quart basiert und harmonisch-melodische Identität in den vielen Verästelungen der Form besorgt, außerdem die unruhige Trägerkomponente gegenüber der feierlichen Eingangshymne darstellt. Die unterschwellige Unruhe des Satzes nimmt stetig zu und entlädt sich in fernöstlich anmutendem, zackig filigran durchsynchronisiertem, zeichnerisch klar artikuliertem Figurenwerk, das in sich überlagernde Sforzato-Haltetöne umbricht, die aus der Ferne an Mussorgskij 'Catacombae' erinnern. 'Poco più mosso, leggiero' werden die Gedanken fortgesponnen, immerzu auf die kleine Grundreihe referierend, und finden zu einem feingewirkten Ende, "ins Nirwana".

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Konzert der musica viva, München 1997]