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Pehr Henrik Nordgren

TOWARDS EQUILIBRIUM, Zweiteiliges Manifest motivischer Obsession

Pehr Henrik Nordgrens drittes Violinkonzert op. 53 wurde 1981 komponiert und von Kaija Saarikettu und dem Ostbottnischen Kammerorchester unter Juha Kangas am 31. Januar 1982 bei der Kammermusikwoche Kaustinen uraufgeführt. Den beiden Sätzen sind als Mottos Zeilen aus einem Gedicht von Eino Leino vorangestellt. (Eino Leino, 1878-1926, gilt vielen als der ursprünglichste Lyriker Finnlands. Am berühmtesten ist seine Sammlung 'Helkavirsiä', Helgalieder, im Kalevala-Versmaß verfaßte Balladen und Legenden, in denen der Charakter überlieferter Volksdichtung mit persönlicher Aussage verschmilzt.) Nordgren verwehrt sich gleichwohl gegen programmatische Deutungen: "Das Konzert war bereits fertig, als ich die drei Gedichte 'Der Lächelnde Apollo' (Prolog zu Leinos '101 Lieder' von 1898) las. Die Zitate aus dem Gedicht 'Sonnengesang', die ich für die zwei Sätze auswählte, lauten: '...me kuljemme kumpuja mustan maan...' ('...wir überqueren die Hügel des schwarzen Landes...') und '...niin maassa tok' kiinni emme...' ('...wir sind nicht wirklich an die Erde gebunden...'). Ich fand, daß diese Musik ein bißchen mehr brauchte als nur Tempoangaben, irgendetwas, was die Gedanken widerspiegeln sollte, mit denen ich mich während der Niederschrift trug - und auf unergründliche Weise schien Leinos Gedicht zu jener Gedankenwelt zu gehören. Allerdings 'beschreibt' die Musik keineswegs etwas Bestimmtes. Die Entwicklung der Form könnte man 'narrativ' nennen, aber der Hörer soll seine Vorstellungskraft nach eigenem Willen und Möglichkeiten frei einbringen."

Nordgrens drittes Violinkonzert ist in beiden Sätzen mit verwandten rhythmischen Zellen gebaut, die in ihrer strikten Selbstbehauptung bewußt primitivistisch wirken. Der erste Satz ist fast durchgehend von dem angespannten Kurz-Lang-Rhythmus geprägt, dem höchstens die - den Satz mit einem auffächernden Cluster einleitenden - gleichbleibenden Viertel neutral zur Seite treten. Es ist kein Zufall, daß die erste harmonische Fortschreitung der Solovioline ein Tritonus ist, das polyvalente Hauptintervall des Werkes. Aber auch reine und verminderte Quarten, querständische Parallelsexten als Stabilisierer freier Stimmführung sind wichtig. Die Solostimme ist fast immer führend, mal mit vielstimmig imitierender, mal mit neutral verhaltener oder aphoristischer Begleitung,

streckenweise solistisch. Dann setzt das Ensemble 'subito con tutta la forza' ein, doch indem ein 'più mosso' den Druck noch erhöht, verpufft der Konflikt, schreitende Begleitakkorde laufen ins Leere, reißen mit größter Intensität ab. In dem kurzen, lyrischen 'molto sostenuto'-Gegenabschnitt tritt der dem Grundrhythmus entgegengesetzte, entspannte Rhythmus auf, doch schon nach wenigen Takten erscheint der Grundrhythmus wieder und führt in das Haupttempo zurück, zu einer zweiten Durchführung. Diesmal scheint das Fortissimo weiterzuführen, doch da weicht die wild artikulierte Engführung der rhythmischen Grundzelle unerwartet diminuierendem Zugriff. Nochmals tritt die 'molto sostenuto'-Gegenwelt auf, und der wehmütig-hoffnungsvolle Schluß versöhnt die beiden gegensätzlichen Rhythmen. Die Stimmung dieser 'Codetta' hat etwas von der träumerischen Melancholie am Ende des ersten Satzes von Schostakowitschs fünfter Symphonie.

Die Energie des ersten Satzes wurde zweimaliger Inhibition unterworfen. Umso heftiger erscheint sein Alter ego: Noch dominierender und rauher, da extremer beschaffen und über weite Strecken mit großer Intensität zu spielen, ist der Grundrhythmus, die dreitönige Grundmotivik des zweiten Satzes, die in ihrem obsessiven Auftrumpfen wie eine rituelle Handlung wirkt und durch wechselnde Intervallik, Lage, Dynamik, Metrik und impulsive Gegenstimmen belebt wird. Das immer ausgelassenere Spiel wird aufgelockert von einem 'dolce'-Mittelteil, der auf beruhigten Varianten des Vorangehenden basiert, bevor die drängende Energie des Hauptmotivs sich wieder vehement durchsetzt. Der lakonische A-Dur-Schluß erinnert in seiner distanziert-humoristischen Staccato-Haltung an die Schostakowitsch-Schnittke-Tradition.

Christoph Schlüren 1997

[Einführungstext zu BIS-CD]