< RARE MUSIC STARTSEITE

Pehr Henrik Nordgren

TOWARDS EQUILIBRIUM

Pehr Henrik Nordgren schrieb 'Cronaca per archi' op. 79 in einer Zeit äußerster Niedergeschlagenheit. Das viersätzige Werk trug zunächst den englischen Titel 'Chronicles' und ist de facto Nordgrens zweite Streichersymphonie, das dritte mehrsätzige Werk für Streichorchester nach der 'Symphony for strings' op. 43 von 1978 und dem 'Concerto for strings' op. 54 von 1982. In den 'Cronaca', die am 14. Juni 1991 in Tammisaari vom Wegelius Kammerorchester unter Ralf Sjöblom uraufgeführt wurden, umrahmen zwei mächtige langsame Sätze zwei knappere schnelle Sätze. Indem sie gegensätzlichste Charaktere ausformen, finden die vier Sätze in der Verschiedenheit zu einander ergänzender Wirkung.

Das einleitende Adagio war in der ersten Fassung mit 'Incommunicative' überschrieben, was sich auf den inneren Zustand des Komponisten während des Schaffensprozesses bezog, jedoch angesichts des Resultats keine passende Bezeichnung mehr war. Der Satz gliedert sich in drei große Abschnitte, wovon die äußeren auf einen F-Orgelpunkt zentriert sind und der mittlere auf einen d-Orgelpunkt. Alles hebt mit einem aus verhaltener Ferne ins unwirsche Hier und Jetzt aufbegehrenden Urakkord an - rapide rhythmische Verdichtung geht mit bedrohlicher Crescendo-Geste einher, es reißt mit einem Sforzato ab, und aus dem neuerlichen Nichts erhebt sich in feierlicher Einstimmigkeit das chromatisch verästelte Hauptthema, beginnend mit der einprägsamen Folge as-b-c-h-cis-g, das den recht einfach gebauten, im Detail aber sehr raffinierten Satz durchwebt. Während die Linie weitergesponnen wird, bleiben nach und nach einige Töne liegen, und über den Tritonusgang wird von h aus das F erreicht - was sich am Ende des ersten Teils und am Satzende eindrücklich wiederholt. Nun bleibt das F liegen, gibt dem weiteren Verlauf der im misterioso verharrenden Melodik harmonischen Halt. Es mündet in ein anschwellendes F, an dessen Verstummen die Synkopen des neuen Zentrums d anknüpfen. In zauberischer Atmosphäre setzen die hohen Instrumente ein, das Hauptthema bleibt Andeutung, der gleichbleibende Rhythmus verliert sich in auskomponierte Irritation. Aus einem crescendierenden d treten die Celli mit dem Thema hervor, die Geigen imitieren. F tritt wieder an die Stelle von d, und nun bahnt sich die lange Steigerung an, das eigentliche Spannungspotential des langgestreckten Hauptthemas wird über dem gleichbleibenden Grundton mit aller Macht entfaltet.

"Wie dieser Satz ursprünglich zu Ende ging, war ein gutes Beispiel dafür, wie man scheitern kann im Bau der Form. Am Ende ging es plötzlich mit sehr neuem Material weiter, vielleicht zwanzig Takte lang, da veränderte sich alles. Es war wie ein nachgetragener Kommentar. Aber als ich es hörte, war mir schlagartig klar, daß es nicht funktionierte. So nahm ich es weg und habe versucht, ein langes, eintöniges, polyphones Crescendo bis zum Ende durchzuführen. Aber was heißt schon crescendo: Am Schluß ist es die ganze Zeit fortissimo. Nur das letzte F crescendiert weiter. Doch die Kombination aus Monotonie und Polyphonie schafft ein Gefühl von Aufregung, und so wirkt es wie ein großes Crescendo."

Der bizarre zweite Satz, eine Art Allegro, nennt sich 'Duo'. Über einer halb polymetrisch gebundenen, halb aleatorisch wuselnden Begleitung in dreifachem Pianissimo (erst mit Eintritt der Solisten wird klar, ob es sich um einen Dreier- oder einen Vierertakt handelt) erheben sich die derben Stimmen zweier barbarischer Darsteller zum Streit: Violine contra Viola. Charakteristisch die Quintole, die auch einige Male mit überraschender Wucht, splitterndem Eis gleich, vom urplötzlich für einen Moment gemeinsam agierenden Orchester eingeworfen wird. Mit ignorantem Nebeneinander und irrwitzigem Höhenspuk überbieten sich die Protagonisten an Ungeschliffenheit.

"Die beiden agieren sehr unkultiviert. Sie spielen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Keine schönen Phrasen - es soll aufgeregt und gestreßt wirken. Wie ein seltsamer Witz: Zwei Personen auf den gegenüberliegenden Seiten eines Flusses, die sich gegenseitig zurufen, aber sie rufen gleichzeitig, hören einander nicht zu. Manchmal spielt auch nur einer, und am Ende hat ein Dritter das letzte Wort, das Cello, nur mit einem kleinen Kommentar, ohne jedes Gewicht. "

 

Der aggressive dritte Satz, 'Agitato', trug anfangs den hintersinnigen Titel 'Rage's Progress', den Nordgren aber zurücknahm: "Ich versuchte, eine Musik zu machen, die einen ärgerlichen Mann porträtiert: Wie seine Wut wächst und wächst. Wirkliche Wut!"

Das 'Agitato' ist ein Charakterstück, das nicht zuletzt hohe handwerkliche Flexibilität und konsequente Realisierung eines unorthodoxen psychologisch-dramaturgischen Leitfadens voraussetzt. Mit jähen Mitteln wird Zorn inszeniert und symphonisch durchgeführt: Von Anfang an abrupt aufeinanderfolgende, widersprechende rhythmische Zellen, rabiat emporstürmende und druckvoll herabdrängende Melodik, bedrohlich artikulierte Triller, schroffe Einwürfe, perkussive Akzente, kollidierende Dissonanzen, steigernde Repetition. Dem wilden Aufruhr folgt ein unruhig zurückgehaltenes Legato-Seitenthema, das zurückhaltend attackiert wird - dann scheinbare Beruhigung, Gegendruck des tiefen Pizzicatos: Die Coda konfrontiert die Legato-Thematik in der Höhe mit der Staccato-Motivik in der Tiefe. Entschiedenes Abwärtsdrängen, harter Akzent, atemloser d-moll-Nachklang in vierfachem Pianissimo: Ein auskomponiertes Verstummen. Wut macht sprachlos, der Exzeß kennt keine Argumente.

Der 'Epilogo', Tempo grave, sollte eine Hommage an Arvo Pärt werden: "Zu jener Zeit übte Pärts Musik, z. B. 'Cantus', eine sehr starke Anziehung auf mich aus. Ich mochte die Idee, meiner Zuneigung zu seiner Musik Ausdruck zu verleihen. Der Epilog sollte nicht zu vordergründig dramatisch gespielt werden. Aber ein entscheidender Unterschied zwischen Pärt und mir ist, daß ich meine Gefühle nicht verbergen kann. Ich kann sie nicht kontrollieren. So muß ich eine Art Intensität und Drama einbringen in diese Musik, nach allem, was geschehen ist. Am Ende bleibt jener humpelnde Gang der Pizzicati - das Leben geht weiter auf seine Art... Vielleicht symbolisiert es das Näher- und Näherkommen zum eigenen Grab. Der Schluß soll nicht pathetisch gemacht werden. Denn es ist bereits pathetisch."

Schon mit Eintritt der ersten leiterfremden Töne als Resultat einsetzender Stimmbewegung sind Pärtsche Bahnen verlassen, der reiche, vergleichsweise irregulär motivierte Ausdruck ist vorherbestimmt. An Pärts 'Cantus to the memory of Benjamin Britten' erinnert zwar das allgemeine Crescendo zur Tiefe hin, die der proportionskanonischen Motivik nachempfundene, überlagerte Rhythmik. Doch Nordgrens dynamisches Formbegreifen führt zu ganz anderen Resultaten. Die zweite Phrase hebt mit gesteigerter Emphase an. Der aufrührerisch trillernde Gegenpart aus der Tiefe stellt sich dem Abstieg entgegen und führt zu einer dramatisch imitierenden Engführung zwischen hohen und tiefen Stimmen, die sich zu massivem Cluster verdichtet. Machtvoll löst sich die Spannung in einen Abgesang, doch das humpelnde Pizzicato der Kontrabässe pocht unerbittlich weiter, auch vor immer entmaterialisierterem Flageolet-Hintergrund, und beweist am Ende trotzige Beharrungskraft mit rauhem Bartók-Pizzicato. Der Widerstand bricht zusammen, und die verklärte Einfachheit der Schlußfläche schließt in einem glockenartig unreinen Akkord, in dessen Verklingen der Kontrabaß eine knappe, zweimalige Reminiszenz ausspricht.

Christoph Schlüren 1997

[Einführungstext zu BIS-CD]