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Omnipräsenz der Extreme

Eliasson-Festival in Stockholm

Das 10. 'Tonsättarfestival' des Stockholmer Konserthus präsentierte Schwedens größten lebenden Komponisten, Anders Eliasson, mit 37 Werken in neun Konzerten an acht Tagen, auf fast durchgehend sehr hohem Aufführungsniveau. Zweimal spielten die Stockholmer Philharmoniker, flankiert vom Stockholmer Kammerorchester, dem KammerensembleN und Keski-Pohjanmaan Kamariorkesteri im Abschlußkonzert sowie vier Kammermusik-Programmen, dabei die Uraufführung von Eliassons Horntrio mit Sören Hermansson (Horn), Nils-Erik Sparf (Violine) und Arne Torger (Klavier) - dieses Werk schreibt konsequent Eliassons Linie unspektakulär-gehaltvoller Konzentration fort, nur wenige Komponisten heute können so dicht schreiben, auf so engem Raum so viel aussagen und trotzdem einen weiten, bezwingenden formalen Bogen spannen. Eliassons Tonsprache ist nicht synthetisch, rekurriert vielmehr hermetisch auf weitgehend selbstentdeckten Kriterien. Die Kettenreaktion des initiierenden Dualismus vom ersten klingenden Moment an kennzeichnet die meisten seiner Werke, die dem nicht restlos konzentriert einsteigenden Hörer keine Zeit zu verzögertem Einschwingen lassen - hat man die erste Zelle nicht erwischt, so ist der Zug abgefahren, und der lädt dann auch nirgendwo mehr zum Zusteigen ein. Diese Musik ist unerbittlich, kennt keine atmosphärisch motivierte Stagnation, will nicht schön sein, auch wenn sie immer wieder unerhört schön ist. Im Laufe des Festivals folgt man der psychologischen Spur eines Nicht-anders-Könnenden und beginnt zu glauben, daß dieser Mensch nur überleben kann, weil er Musik schreibt. Für viele ist das zuerst erschreckend oder gar unerträglich in der Omnipräsenz der äußersten Kontaktpunkte, von Depression und Euphorie, von Gewalt und Zärtlichkeit. Eliasson ist, mit Sibelius zu sprechen, ein "Sklave seiner Themen", verfügt über unwiderlegbar überpersönliche Kraft in der Architektonik - da ist nichts Willkür oder Verlegenheit, und viele Hörer geraten in einer Woche in den suggestiven Bann dieser Musik, die sich nicht um die Trends in ihrer Umgebung kümmert.

Einige herausragende Aufführungen und Akteure seien genannt. So hat Sakari Oramo in mitreißender, kompetenter Weise die auch nach Meinung des Komponisten bisher beste Aufführung seiner preisgekrönten ersten Symphonie geleitet, eines hochkomplizierten Werks, das eigentlich für sich allein eine Woche Proben einfordert. Unter den Solisten ragten Klarinettist Håkan Rosengren, Altsaxophonist John-Edward Kelly (in der 3. Symphonie mit Nicholas Cleobury, der die seit langem erste Aufführung des massiven 'Canto del Vagabondo' leitete), Sopranistin Lena Hoel, Pianist Bengt-Åke Lundin und Jari Valo (mit dem Violinkonzert) heraus, und das Tale-Quartett bot äußerste Solidität. Den darstellerischen Gipfel erstürmten in der ausverkauften Philharmonie Juha Kangas und sein Keski-Pohjanmaan Kamariorkesteri, für die Eliassons Musik zum stetigen Repertoire gehört, und mit unerhörter Sprengkraft und Sanglichkeit bündelten diese Heroen aus der finnischen Provinz widerspenstige Notenkaskaden zu zielstrebig-sinnfälligem Liniengeflecht und die Musik offenbarte das ganze Ausmaß ihrer unantastbaren Schönheit hinter Dornen.
Den Stockholmer Veranstaltern ist es zweifellos geglückt, ein alljährliches lebendiges Portrait eines musikalisch Schaffenden zu etablieren, das in seiner Ereignisdichte und Qualität einzigartig dasteht. Schade ist nur, daß man sich bisher nicht um internationale Resonanz gekümmert hat und auch im Falle Eliassons diese Chance ungenutzt verstreichen ließ. Ist doch gerade diese aus idealer schöpferischer Konzentration gezeugte Musik mit keiner Note eine nationale Sache.

Christoph Schlüren