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"Ich versuche, meine Finger heraus zu halten!"

Anders Eliasson (geb. 1947)

III. Symphonie für Orchester mit solistischem Altsaxophon (1989)

I Cerca. Agitato -- II Solitudine. Tranquillo, deserto -- III Fremiti. Con forza, inquieto - Frenesia -- IV Lúgubre. Tranquillo, lamentoso -- V Nebbie. Andante, capriccioso

"Ich weiß nicht, von wo die Einfälle kommen. Es ist kein Willensakt von mir. Ich bewege mich sozusagen unter der Haut der Musik. Wohin sie sich bewegt, hängt von ihr ab, nicht von mir." (Eliasson)

Das zwanzigste Jahrhundert war nicht nur die entscheidende Epoche des Bruchs mit der Tonalität und den damit gekoppelten Formkriterien, sondern auch eine Zeit der Suche nach einer neuen, grundlegenden Systematik, sozusagen nach einem tönenden 'Stein der Weisen'. Indem das Material als autonome -- also vom ihm innewohnenden, immateriellen Gehalt abgelöste -- Größe durchforscht wurde, erfanden viele Komponisten ein eigenes System (oder auch mehrere) von unterschiedlicher historischer Tragweite (z. B. Dodekaphonie, Serialismus, Indeterminismus, Minimalismus, Archaismus, Collage, allerlei Neo-Ismen, Exotismen und mathematische Verfahren, Spektraltechniken, alles in endlosen Varianten -- die Ratlosigkeit der sogenannten Postmoderne nichts weiter als die beliebige Vermischung derselben). Das Studium dieser Vielfalt ist unendlich faszinierend, und die jeweilige Begrenzung der substantiellen Aussage eine systemimmanente Realität. Die These ist nicht zu gewagt: Je komplexer die Ausgangslage ist, die ein artifizielles System mit sich bringt, desto geringer ist die mögliche schöpferische Freiheit, desto limitierter von vornherein jene Dimension, die herkömmlich als Ausdruck bezeichnet wird.

Wie aber, wenn Komplexität   auf "natürliche", unvermeidliche Weise aus Einfachheit erwächst? Die Neuheit und die daraus erwachsende Perspektive von Anders Eliassons Musik ist subtiler Natur, sie liegt wesentlich in der Transzendenz des materialen Aspekts, der Klänge also zu einer Musik, die sich de facto in einer bisher unerschlossenen Dimension bewegt.

Anders Eliasson wurde am 3. April 1947 in Borlänge in der schwedischen Provinz Dalarna als Sohn eines Metallarbeiters und einer Laienschauspielerin geboren. Die erste Musik, an die er sich erinnern kann, ist sein eigenes Singen. Die Musik war für ihn der einzige Weg, um in dieser Welt überleben zu können. Als kleiner Junge formierte er seine Spielzeugsoldaten zu einem imaginären Orchester, das er in seiner Fantasie aufspielen ließ: "Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ein Orchester klingen könnte. Ich hatte noch nie eines gehört." Er lernte Trompete spielen, wurde von Jazzmusikern unter die Fittiche genommen, war mit zehn Jahren Leader seiner eigenen Jazzband und komponierte ganz naiv. Nachdem er eine schwere Psychose überstanden hatte, ging er nach Stockholm, wo ihn Waldemar Söderholm im Tonsatz Johann Sebastian Bachs unterwies. Dann studierte er Komposition bei Ingvar Lidholm. Es folgte eine Zeit breitgefächerter Experimente, doch empfand er immer bedrückender einen grundlegenden Mangel an Lebendigkeit, Wahrhaftigkeit und Substanz in der ambitionierten Neue-Musik-Szene. Die äußerliche Suche nach einer kompositorischen Orientierung mündete in Verzweiflung. Also suchte er innen, suchte anzuknüpfen an den ursprünglichen Impuls zum Musizieren, an "das, was die Musik selbst verlangt". Und es gelang ihm, das zu entdecken, was er irreführend -- Fluch aller Dialektik! -- oft als sein "System" bezeichnet hat.

Eine grundlegend modale, also ursprünglich melodisch motivierte Ausgangshaltung ist charakteristisch, und in seinen Worten basiert das System "auf zwei Modi: einem lydischen und einem dorischen -- aber: für mich ist es weder lydisch noch dorisch!" --, auf einfachsten Bausteinen also, die allerdings unbegrenzter Mobilität unterworfen werden. Die Harmonik ist "triangulatorisch", also: nicht der Quintenzirkel ist die Basis dieser neugefundenen Tonalität, die mit der überlieferten und ihren eindeutigen Schwerkraftwirkungen nichts mehr zu tun hat, sondern eine Entfernung, deren Maß eine Dreieckspirale vorgibt, womit jede dritte Quint in nächster Verwandtschaft steht und somit der Tritonus in engstes Nachbarschaftsverhältnis eintritt. Zwei Welten von Akkorden treten einander gegenüber, die Eliasson als "eckige" (= "irdische") und "runde" (= "kosmische") charakterisiert.

 

Die resultierende neue Tonalität ist eine freischwebende, immerfort fliegende und niemals landende, eine sich -- aus eigenem Antrieb! -- keinem Gravitationsfeld ergebende. Natürlich wirken Schwerkräfte, aber stets befindet man sich zwischen verschiedenen Attraktoren, deren Wechselwirkung sich logischerweise jeweils an einem nicht erklingenden Punkt -- der sich zur oszillierenden Linie durch das ganze Stück fortspinnt -- konzentriert, somit auch in ganz konkreter Weise die materielle Dimension nachweislich transzendiert. Den Schlüssel zu dieser Welt fand Eliasson um 1970, und bis jetzt erkundet er die neuentdeckte Dimension, in welcher es des Klangeffekts um seiner selbst willen nicht bedarf. Was ist, so verstanden, maßgebliches Kriterium für die Form? "Natürlich ist der Ausdruck am Anfang eines Stückes persönlicher als am Ende. Denn ich versuche ja nur, dem Werden der Musik zu folgen, was ein ganz objektiver Prozess ist. Anfang und Ende sind unauflöslich ineinander bezogen. Nicht ich bin es, der zu einem Ende kommt. Es ist die Musik selbst, und ich versuche, meine Finger heraus zu halten!"

Die Dritte Symphonie für Orchester mit solistischem Altsaxophon wurde 1989 komponiert und am 16. November desselben Jahres im norwegischen Trondheim vom Widmungsträger John-Edward Kelly und dem auftraggebenden Symphonie-Orchester Trondheim unter Ronald Zollman uraufgeführt. Sie ist ein brillantes, virtuoses symphonisches Drama mit ausgeprägten Kontrasten zwischen den ineinander übergehenden Sätzen und innerhalb derselben, mit einem in aller figurativ-gestischen, motivisch frei verzahnten Entwicklung geradezu unverfehlbar durchtragenden Spannungsbogen, der mit der Wende zum vierten Satz, einem Sturz ins Schwerelose, kulminiert und im launisch-hellen Nebel ausmündet. Der erste Satz ('Cerca') ist eine jagende Suche in medias, die -- in einer für Eliasson so kennzeichnenden 'deserto'-Episode vorausgeträumt -- in die Einsamkeit (2. Satz 'Solitudine') führt, in welche die Vorboten des 3. Satzes eindringen, welcher den Hörer durch die Klippen des Schauderns, Zitterns, Bebens ('Fremiti', ein Danteeskes Inferno fernab unseres "normalen", per se sentimentalen Fühlens) ohne Übergang ins Auge des Sturmes entlässt (4. Satz 'Lúgubre'), wo die Zeit zum Stillstand kommt, das Grauen bewusst wird und die Stimme sich der Klage hingibt, mit den Morgennebeln aufsteigt (5. Satz 'Nebbie', Coda des Werkganzen) und, dank der unauslöschlichen menschlichen Gabe des Verwandelns, im prismatisch gebrochenen Licht der ersten Sonnenstrahlen das Lied des neuen Tages anstimmt -- dies die wagemutigen Improvisationen des Autors dieser Zeilen. Die Musik hat außer den charakteristischen Satztiteln kein Programm, und wenn doch, dann eines jenseits trivial gegenständlicher Konkretion. "Ich habe keine Grenze zwischen mir und der Musik. Deswegen ist es unmöglich, authentisch zu beschreiben, was passiert." (Eliasson)

Christoph Schlüren

VITA ELIASSON: siehe Jahresprogramm.

Wichtige Werke jüngeren Datums, die in den erhältlichen Broschüren fehlen:

'Kimmo' für Trompete und 6 Schlagzeuger

Oratorium 'Dante Anarca' (Text: Giacomo Oreglia)

Konzert für Bassklarinette und Orchester

Sinfonia per archi

Konzert für Altsaxophon und Streichorchester

'Ein schneller Blick, ein kurzes Aufscheinen' für Streichorchester