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Magische Leuchtkraft

Das Ostbottnische Kammerorchester bei Wien modern

Der wenig spektakuläre Höhepunkt des diesjährigen Wien modern-Festivals im Wiener Konzerthaus, welches dem Motto "An den Rändern Europas" folgt, dürften die zwei Auftritte des Ostbottnischen Kammerorchesters aus dem finnischen Kokkola gewesen sein. Das 19köpfige Streicherensemble wurde 1972 von seinem Leiter Juha Kangas gegründet und in 26 Jahren kontinuierlicher Arbeit fernab der traditionellen Zentren geformt. Ergebnis sind eine Klangkultur und Ausdrucksintensität, die ihresgleichen nicht kennen. Auf die Wiener wirkten die Finnen aus der 500 Kilometer von Helsinki entfernten Kleinstadt am Bottnischen Meerbusen eher wie eine musikalische Großfamilie. Im Konzerthaus präsentierten sie Kompositionen der Schweden Anders Eliasson, Allan Pettersson und Karin Rehnqvist, des Finnen Pehr Henrik Nordgren, des Dänen Per Nørgård und des Letten Peteris Vasks. Diese Werke sind für die Musiker Kernrepertoire wie für andere die Serenaden von Tschaikowskij oder Dvorák. Vor allem das erste Konzert mit Eliassons Desert Point, Petterssons Concerto Nr. 2 für Streicher und Nordgrens Transe-Choral fesselte die Zuhörer mit existentieller Wucht und sublimierter Klanglichkeit.
Petterssons 1956 komponiertes Concerto trägt bereits klare Züge seines obsessiven symphonischen Personalstils, wobei manche Nachklänge Bartóks und vielleicht auch seines Lehrers Arthur Honegger noch mitschwingen. Frappierend ist jedoch die immer wieder durchklingende Nähe zu Dmitrij Schostakowitsch, bis hin zum – transponierten – Zitat von Schostakowitsch Initiale D-S-c-h, welches in Petterssons Werk eine thematische Schlüsselfunktion übernimmt. Das verstörende Ende, ein urplötzliches Verstummen inmitten der Lebensstürme, steht ganz im Zeichen dieses viertönigen Motivs. Dies ist umso erstaunlicher, als Pettersson eigentlich nichts von Schostakowitschs exzessiver Verwendung seiner eigenen Tonbuchstaben gewußt haben kann, ist doch dessen Zehnte Symphonie im selben Jahr entstanden und das berühmte Achte Streichquartett einige Jahre später. Im weit ausgreifenden Finale von Petterssons Concerto, das thematisch mit dem Kopfsatz verknüpft ist, agieren unterschiedlichste Gestalten und Charaktere in einem kaleidoskopischen Formplan, dessen Physiognomie sich mit derjenigen Mahlerscher Symphoniesätze berührt. Der Dolce e molto tranquillo-Mittelsatz ist von tief berührender Schlichtheit, und eine innigere, selbstlosere Darstellung als die der Ostbottnier läßt sich nicht denken. Überhaupt: Wie die Dynamik hier wirklich stets ihre Verwurzelung in der Stille hat und so die wilden Ausbrüche erst in ihrem tatsächlichen Ausmaß erfahrbar werden, wird auch das Vibrato von seinem Ausgangszustand, dem Non vibrato, her begriffen.

Der 1947 geborene Anders Eliasson, heute Schwedens bedeutendster Komponist, schreibt so originell und formbewußt zugleich, daß Stilfragen hinfällig werden. Seine Musik ist von zeitloser Qualität. Nie hat man den Eindruck eines Formschemas, aber immer untrüglicher Folgerichtigkeit. In seinen Ostácoli beispielsweise kommuniziert er mit rein strukturellen Argumenten in einer Weise, daß man schon bis zu Bach oder Händel zurückgehen muß, um in der Streicherliteratur Ähnliches zu finden. Das aber geschieht in einer unverwechselbar persönlichen Sprache unserer Zeit. Dagegen gleichen Pehr Henrik Nordgrens Formen eher hochexpressiven Improvisationen, die das Publikum mit ihrer Beschwörung dunkler Innenwelt in Bann ziehen. Transe-Choral, ein mit fahlen Unisoni, raffinierten Glissandi und wild melodisierten Clusters durchzogenes Hauptwerk Nordgrens, erfuhr eine Darstellung von unübertrefflicher Magie. Und Solist John-Edward Kelly führte seine Mitstreiter mit unwiderstehlicher Leuchtkraft durch die schrillen Katarakte des Altsaxophonkonzerts zur finalen Aufhellung – packender und souveräner geht’s nicht. Dazu paßte die Musica dolorosa von Peteris Vasks, ein Stück emotionsgetränkter Bekenntnismusik, das avancierte Klangmittel wie wuchernde Aleatorik in einen für jedermann faßbaren psychologischen Kontext einbindet – Moderne für Einsteiger, die manche als sentimentalen Anachronismus ablehnen. Ganz anders Per Nørgårds Lutoslawski-Hommage Out of this World, ein unwirklich flirrendes Refugium klanglicher Fantastereien, in dem man – keineswegs vorhandene – Bläserstimmen zu hören meinte. Der Erfolg des Unbekannten im Zentrum der einstigen Moderne war überwältigend, und man kann nur hoffen, das Ostbottnische Kammerorchester mit seiner Auswahl zeitgenössischen Musikschaffens bald auch hierzulande bei einschlägigen Festivals zu hören.

Christoph Schlüren

(Rezension für Frankfurter Rundschau,
November 1998)