In einer Zeit salopper Unverbindlichkeit, schwindsüchtigen
Idealismus und galoppierender Käuflichkeit vernehmen
wir mit ungläubigem Staunen, was der finnische Musiker Juha
Kangas in den letzten 25 Jahren bewegt hat. Der Mann kann nicht
nur ein mitreißender Musiker, er muß besessen sein:
besessen von künstlerischen Idealen und didaktischem Eros.
1972 verließ der Geiger Kangas, damals 27 Jahre alt, das Philharmonische
Orchester Helsinki und ging zurück in seine ostbottnische Heimat.
Er unterrichtete die jungen Streicher an der Musikschule von Kokkola,
einer am Bottnischen Meerbusen gelegenen Kleinstadt von heute 35000
Einwohnern. Mit 10-11jährigen Schülern formte er ein Ensemble,
das schnell enorme Fortschritte machte und den Grundstock des späteren
Ostbottnischen Kammerorchesters bildete. Aus dem Nichts schuf Juha
Kangas eine erstklassige Streichertruppe, die keinen Vergleich zu
scheuen braucht. Nach 17 Jahren gaben die Institutionen den Weg
in die Professionalität frei. Seine Vision wurde lebende Institution,
und seither hat sich dieses kleine Eliteorchester aus der hintersten
Provinz darangemacht, die musikalische Welt zu erobern.
Juha Kangas wollte nie Dirigent werden. Er wurde es nur, weil die
wachsenden Anforderungen an das Zusammenspiel nach einer Stabführung
verlangten. Und er hat sich eine natürliche Abscheu gegen allen
Starkult, eine konsequent antikarrieristische Einstellung erhalten.
Mit seinen Musikern hat er bisher 80 Uraufführungen gegeben
und einen großen Teil der neuen Werke ins ständige Repertoire
übernommen. Bis vor kurzem hatte er sich geweigert, Gastdirigate
anzunehmen, aber mit der Möglichkeit, von ihm favorisierte
lebende Komponisten durchzusetzen, locken ihn in jüngster Zeit
viele der großen Orchester. So wird Kangas in diesem November
bei den Münchner Philharmonikern Werke von Erkki Salmenhaara,
Günter Bialas und die dritte Symphonie von Pehr Henrik Nordgren
dirigieren. In der darauffolgenden Saison ist die vierte Symphonie
von Nordgren mit den Bamberger Symphonikern geplant. Der 1944 geborene
Nordgren lebt in Kangas Geburtsort Kaustinen, einem kleinen
Dorf unweit von Kokkola, das alljährlich eines der weltweit
angesehensten Volksmusik-Festivals ausrichtet. In Kaustinen leben
zwar nur 4500 Menschen, aber man hat dort soeben das neue, tief
in den Fels geschlagene Kulturzentrum eingeweiht, das mit einem
erstklassigen Konzertsaal ausgestattet ist. Zur Einweihung spielte
das Ostbottnische Kammerorchester unter Kangas erstmals Nordgrens
Rock Score, nichts weniger als die 16. Nordgren-Uraufführung
des Ensembles. Pehr Henrik Nordgren ist kein kosmopolitischer Tonsetzer
wie seine finnischen Kollegen Lindberg und Saariaho, sondern eine
einsame Stimme, deren an Schostakowitsch und Ligeti geschulte Klangsprache
mit suggestiver Eigenart umfängt und der nordischen Neigung
zu Dunkelheit und Introversion nicht ausweicht, die diese vielmehr
unablässig vertieft und überhöht. Durch die permanente
Zusammenarbeit mit Kangas Orchester hat er eine klangliche
Vielschichtigkeit exploriert, die dem Streicherkörper mehr
charakteristische Facetten, farbenreich schillernde Körperhaftigkeit
abgewinnt als irgendeine andere Komponistenhandschrift.
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Auch Anders Eliasson, der überragende schwedische
Komponist unserer Zeit, schreibt in lockerer Regelmäßigkeit
für die Ostbottnier, die seine hochkomplexen und -sensibilisierten,
zum Zerspringen gespannten Formen mit einer Unmittelbarkeit realisieren,
die ihresgleichen sucht. Nicht von ungefähr hat Eliassons Desert
Point auf einer kürzlichen Deutschland-Tournee den ergreifendsten,
bezwingendsten Eindruck hinterlassen: alle, Komponist, Ausführende
und Zuhörer, wurden da für eine Viertelstunde zu companions
in misfortune
Kangas deckt nicht nur das nationale Streicherrepertoire
ab, er ist ein Anwalt all jener nordischen und baltischen Musik,
die ihm am Herzen liegt. Eliasson, Nordgren, Nørgård,
Aho, Sumera oder Vasks sind für seine Musiker ebenso gängige
Kost wie Mozart, Sibelius oder Bartók.
Als könnte er nicht anders, stößt Kangas immerzu
an die Grenzen des Möglichen vor und verleiht auch scheinbar
abgespielten Stücken wie Griegs Holberg-Suite eine Frische
und Sublimierung des Ausdrucks, die diese in völlig neuem Glanz
erscheinen lassen. So geschehen auch im festlichen Jubiläumskonzert
wo Ida Haendel in Bachs E-Dur-Violinkonzert mit hoher Präsenz
und Einfühlung begleitet wurde mit Tschaikowskijs Streicherserenade.
Der erste Satz erhielt eine ungekannte symphonische Dimension; leidenschaftlich
kontrolliert wurde ein Drama gegensätzlicher Gestalten in Gang
gesetzt, das fesselnder nicht hätte sein können. Der Walzer
war ein Fest tänzerischer Leichtigkeit, der langsame Satz evozierte
eine mystisch entrückte Welt in feinster Zeichnung, das Finale
geriet zur Apotheose rhythmischen Lebens. So haftet Tschaikowskij
nichts Triviales an, ohne daß seine Sinnlichkeit irgendwie
gemieden würde im Gegenteil, sie wird restlos ausgekostet
im Dienste eines musikalischen Ganzen.
Natürlich ist kein Wunder ein vollkommenes: Die Streicher,
die man in dem kleinen Ort kaum angemessen bezahlen kann, reichen
in ihren individuellen Begabungen nicht an jene beispielsweise eines
Chamber Orchestra of Europe heran. Aber sie ziehen alle an einem
Strang dies nunmehr seit 25 Jahren und haben so konsequent
eine unvergleichliche und unverwechselbare Musizier- und Klangkultur
erschaffen. Aus dem Nichts. Dieser Vorgang ist nicht nur angesichts
der geographischen Lage unglaublich, sondern schlicht historisch
einmalig. Das Ostbottnische Kammerorchester ist weithin leuchtendes
Beispiel eines Idealfalls kontinuierlicher künstlerischer Aktivität.
Gäbe es einen Nobelpreis für Musik, man müßte
ihn dem Antikarrieristen Juha Kangas zuerkennen.
Christoph Schlüren, im September 1997 |