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Tanz auf dem Vulkan der Depression

Das Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas

Konzert I: Pärt: Silouan's Song, Haydn: Violinkonzert C-Dur, Eliasson: Desert Point, Sibelius: Impromptu, Nordgren: Cronaca; Ingolf Turban (Violine), Ostrobothnian Chamber Orchestra, Juha Kangas; 12.7.1997, 20 Uhr, Max-Joseph-Saal der Residenz.
Konzert II: Grieg: Holberg-Suite, Mendelssohn: Violinkonzert d-moll, Vasks: Adagio, Bartók: Divertimento; Thomas Zehetmair (Violine), Ostrobothn. C. O., Juha Kangas; 13.7.1997, Oleg-Kagan-Musikfest Kreuth am Tegernsee.
 
Der finnische Musiker Juha Kangas hat in langen Jahren mit unermüdlicher Zielstrebigkeit etwas aufgebaut, was man eigentlich nur als ein Wunder bezeichnen kann. 1972 ging er, bis dahin Bratschist im Philharmonischen Orchester Helsinki, ins mittelfinnische Kokkola, ein 500 Kilometer von Helsinki am Bottnischen Meerbusen gelegenes Provinzstädtchen mit ca. 35ooo Einwohnern, um am dortigen Konservatorium zu lehren. Er gründete aus 10-11jährigen Schülern ein Streicherensemble, das sich schnell zu einem der kultiviertesten Nachwuchs-Klangkörper Finnlands entwickelte und nach Auftritten bei den populären Festivals unter Kennern in ganz Skandinavien zu einem Geheimtip avancierte. 17 Jahre nach der Gründung ließ sich, auf der Grundlage erfolgreicher Platteneinspielungen, intensiver Zusammenarbeit mit renommierten Solisten und aufsehenerregender Tourneerfolge, die Professionalisierung des Ostrobothnian Chamber Orchestra durchsetzen - auf deutsch: des Ostbottnischen Kammerorchesters. Mitten in der finnischen Provinz. Der internationale Durchbruch war nicht mehr aufzuhalten, und 1993 erhielt man den Nordic Council Music Prize, die höchste musikalische Auszeichnung der nordischen Staaten. Das Ostrobothnian Chamber Orchestra ist heute nicht nur eines der weltbesten Streichorchester, es hat vor allem seine unverwechselbare Klang- und Musizierkultur, kann im Jahr seines 25jährigen Bestehens eine gewachsene Identität vorweisen, die es einem musikalischen Leiter verdankt, der sich durch nichts von seinen künstlerischen Idealen ablenken ließ. In der Tat ist das Wirken Kangas' in Kokkola vergleichbar mit demjenigen eines Simon Rattle in Birmingham oder Sándor Végh in Salzburg, wenngleich unter viel schwierigeren Bedingungen. Lange Zeit hat Kangas - um sich ganz in den Dienst des Aufbaus seines Ensembles zu stellen - sich geweigert, Gastdirigate zu geben, und schlug viele lukrative Angebote aus. Doch in letzter Zeit tritt er häufiger ans Pult der großen Orchester, um sich dort für Komponisten seiner Wahl einzusetzen - so wird Kangas in diesem November drei Konzerte mit den Münchner Philharmonikern leiten und dabei neben einer Bialas-Uraufführung deutsche Erstaufführungen von Werken der Finnen Salmenhaara und Nordgren dirigieren.
Juha Kangas wurde 1947 in Kaustinen, dem Zentrum der finnischen Volksmusik, als Sohn eines Kantors geboren und wuchs in natürlichem Umgang mit Musik auf: nicht nur mit klassischer Musik, sondern selbstverständlich auch mit der finnischen Spielmannstradition. Er war als Geiger jahrzehntelang - mit seinen Brüdern - Mitglied der heute noch populären "Kankaan Pelimannit", einer der feinsten finnischen Volksmusikgruppen. Kangas studierte an der Sibelius-Akademie in Helsinki Theorie bei den Komponisten Rautavaara, Heininen und Sallinen, doch sein wichtigster Lehrer - in Violin- und Violaspiel sowie Kammermusik - war Onni Suhonen, der in den zwanziger Jahren (als Kommilitone von Sándor Végh) in Budapest bei Leo Weiner und Jenö Hubay gelernt hatte. Das Klangideal des kultivierten Streichquartettspiels, jene zeitlose Tradition hat Kangas radikal auf das Streichorchester übertragen, was Tugenden wie Transparenz, Ausgeglichenheit, Flexibilität, Deutlichkeit, Intimität und vor allem, bei aller façettenreichen Klangsinnlichkeit, Strukturbewußtheit betrifft.
Juha Kangas ist ein überzeugter Anti-Karrierist, der fast schon wider Willen zum Dirigenten wurde und eine natürliche Abscheu gegen Showgebärden und Starkult hegt: "Ich bin kein Dirigent. Ich bin nur ein Musiker." Er hat als erster in Finnland die internationale Bewegung der sogenannten authentischen Musizierpraxis alter Musik aufgegriffen, hat sich mit den Ergebnissen Harnoncourts, Gardiners und Brüggens auseinandergesetzt und darüber zu persönlichen Positionen gefunden. Manche Fachleute reisen regelmäßig aus Übersee in die finnische Provinz, um seinen Mozart, Schubert oder Mendelssohn zu hören. Vor allem als Mozart-Interpret hat er einen legendären Ruf. Und zweifellos: Die rhythmische Elastizität und Leichtigkeit, die unausweichliche Artikulation, die weitausschwingende Kantabilität und stets tänzerisch federnde Präsenz, der unerschöpfliche Reichtum an Klangfarben,

die Kontinuität freudiger und feuriger Hingabe jedes einzelnen an jede spezifische Aufgabe - das gibt diesem Orchester eine einmalige Stellung unter den vielen heutigen Streicherensembles. Was bei wohlbekannten Stücken so auffallend anders, so viel lebendiger ist als sonst, das gilt nicht weniger für die Darstellung unbekannter Werke. Zwei Komponisten sind es vor allem, für die Kangas sich bedingungslos einsetzt: der Schwede Anders Eliasson (geb. 1947) und der Finne Pehr Henrik Nordgren (geb. 1944), Protagonisten eines nordischen Existentialismus, einer künstlerischen Transzendenz der Depression, Gratwanderer vulkanischer Ausdrucksbesessenheit, wie das auch Edvard Munch, Jean Sibelius, August Strindberg oder Allan Pettersson waren. Nordgren drang in grenzenloser Melancholie von einer starken Affinität zu Schostakowitsch und Faszination für Ligeti mit mystischem Ton in einsames Neuland vor und schuf einen unermeßlichen Fundus an Streichorchesterliteratur in kontinuierlicher Zusammenarbeit mit Kangas. Der Sprache Eliassons eignete von Anfang an hermetische Eigenart und maximale Präsenz, jedes seiner Werke ist ein von unaufhaltsam sprengkräftiger Energie durchpulster, in seiner Stringenz entpersönlichter und zugleich ausdrucksberstender Tönekosmos. Kangas: "Wir wollen die tiefe, dunkle Seite im Menschen sprechen lassen."
Auch für die Musik weiterer nordischer und baltischer Komponisten (darunter Nørgård, Aho und Rautavaara; Pärt, Sumera und Vasks) setzt er sich unermüdlich ein und hat mit seinem Orchester bald achtzig Uraufführungen gespielt und, wenn möglich und sinnvoll, die neuen Werke auch wiederaufgeführt. Kangas versteht sich ausschließlich als Instrument des Komponisten und hält nichts davon, Musik aufzuführen, mit der ihn innerlich nichts verbindet. Und sein Ethos ist nicht das des Dirigenten, der über den Musikern steht, sondern schlicht jenes des Musikers unter Musikern, der für Gelingen oder Mißlingen die Verantwortung trägt: "Ich kann habe keine Philosophie des Dirigierens anzubieten. Ich kann nur immerzu versuchen, mein Bestes zu geben." Diese im ganzen Ensemble verankerte Mentalität ist es, die Solisten wie Olli Mustonen, Steven Isserlis, Thomas Zehetmair, Natalia Gutman, John-Edward Kelly oder Grigorij Sokolow immer wieder animiert, mit dem Ostrobothnian Chamber Orchestra zu musizieren. Beim Festkonzert Anfang September zum 25jährigen Jubiläum gastiert Ida Haendel mit Bachs E-Dur-Violinkonzert in Kokkola, und in der kommenden Saison wird man erstmals mit Murray Perahia auftreten. An einigen Orten in Mitteleuropa ist für 1998 ein Mini-Festival geplant, bei dem in je drei Konzerten ausschließlich Werke von Pettersson, Nordgren und Eliasson aufgeführt werden sollen: Tönende Exponate der "Tänzer auf dem Vulkan der Depression".
Christoph Schlüren
CD-Tips: Ganz neu ist eine CD mit Werken des wichtigsten lebenden finnischen Komponisten Nordgren, die auch die in München zu hörende Streichersymphonie "Cronaca" enthält (BIS/Disco-Center 826): magische, zeitlos romantische Modernität. Anders Eliassons vehementer "Desert Point" ist mit dem herrlichen Violinkonzert gekoppelt (Caprice/Disco-Center 21422). Bei Finlandia/east-west sind Streicherwerke von Sibelius (4509-98995-2), zwei hochinteressante Kompilationen baltischer Musik (4509-97892 und 97893-2) und zündende Aufnahmen von Cellokonzerten Carl Philipp Emanuel Bachs und Joseph Haydns mit Marko Ylönen (4509-96869-2) erschienen. Von Ondine/Helikon sind neben weiteren Schlüsselwerken Nordgrens (737) sämtliche Streichorchesterwerke des Klangkoloristen Rautavaara erhältlich (821 und 836).
(Stand: Mai 1997)

(Beitrag für das Münchner
Kulturmagazin 'Applaus', 1997)