Unentwegt drängendes Leben: wer einmal Juha Kangas und sein Ostbottnisches
Kammerorchester mit einer Symphonie oder einem Divertimento von
Mozart gehört hat, dürfte begreifen, daß die geographische
Nähe mit dem Zugang zur Musik sehr wenig zu tun hat. Wien oder
Kokkola? Spielt keine Rolle (Mozart-Flötenkonzerte mit Mikael
Helasvuo; BIS/Disco-Center 368).
Kangas, der im November fünfzig wird, stammt aus Kaustinen,
dem Zentrum der finnischen Volksmusik, und studierte in Helsinki
Violine. Die wichtigste Ausbildung erhielt er, wie Okko Kamu, von
Onni Suhonen in dessen Kammermusikklasse. Einige Jahre war er Mitglied
des Finnischen Radio-Sinfonieorchesters, doch entsprach diese Tätigkeit
auf Dauer nicht seinen Neigungen. Er verließ das Orchester
und ging nach Kokkola, ca. 500 Kilometer nordwestlich von Helsinki
am Bottnischen Meerbusen gelegen, um am dortigen Konservatorium
zu lehren. 1972 gründete er ein Schülerorchester, das
schnell zu beträchtlicher Reputation kam, und widmete sich
zugleich zusammen mit seinen Brüdern Timo und Olli, die beide
noch heute in seinem Orchester spielen, der Volksmusik. Die bis
Anfang der Achtziger Jahre aktiven "Kankaan Pelimannit"
gelten als eine der authentischsten und besten Folkloregruppen Finnlands.
Dirigent wollte Kangas nie werden. Aber das Orchester, das er "Keski-Pohjanmaan
Kamariorkesteri" (oder international "Ostrobothnian Chamber
Orchestra") nannte, reifte allmählich zum Studentenensemble,
dann zum halbprofessionellen Streichorchester heran, das sich gelegentlich
mit Bläsern verstärkte. Platten mit vorwiegend zeitgenössischer
finnischer Musik wurden aufgenommen, und schon damals setzte sich
Kangas vor allem für das Schaffen seines Freundes Pehr-Henrik
Nordgren ein, der seit Mitte der Siebziger Jahre im nahegelegenen
Kaustinen residierte. Das erste Werk Nordgrens, das eingespielt
wurde, waren die "Spielmanns-Portraits" (Ondine/Helikon
766), eine grandios-spielerische folkloristische Suite. Nordgrens
Personalstil ist eigentlich von dunkler Grundfarbe und -stimmung,
äußerst dicht und ausdrucksgeladen und mit jenem nordischen
Zug tiefer Einsamkeit, der schon Sibelius umgab. Daß durch
vieles bei Nordgren eine grenzenlose Melancholie durchscheint, hat
seinen Grund auch in der allseitigen Vernachlässigung seiner
Musik, seit er die Hauptstadt verlassen hat. Es ist Juha Kangas'
wichtigstes Anliegen, die Kompositionen dieses genialen Einzelgängers
weithin bekannt zu machen, was bisher mit vielen Ur- und regelmäßigen
Wiederaufführungen und vier CD-Produktionen (Ondine/Helikon
737, Finlandia/east-west 350 und 343) geschehen ist.
1989 wurde das Ostbottnische Kammerorchester professionalisiert.
1993 gewann man den wichtigsten Musikpreis der skandinavischen Länder,
den Preis des Nordischen Rats, was mit einer CD mit Werken von Grieg
(Holberg-Suite), Nielsen (Suite op. 1), Sibelius, Madetoja usw.
dokumentiert wurde (Caprice/jpc 21443). Grieg und Nielsen sind absolute
Referenzaufnahmen: die rhythmische Elastizität und Leichtigkeit,
die bezwingende harmonische Gestaltung, die weitausschwingende Kantabilität
und stets tänzerisch federnde Präsenz, der unerschöpfliche
Reichtum an Klangfarben, die Kontinuität freudiger und feuriger
Hingabe jedes einzelnen an jede spezifische Aufgabe - das gibt den
Ostbottniern eine einmalige Stellung unter den heutigen Streicherensembles.
Was bei wohlbekannten Stücken
so auffallend anders, so viel lebendiger ist als sonst, das gilt
nicht weniger für die Darstellung unbekannter Werke. Neben
Nordgren liegt da Kangas vor allem an dem Schweden Anders Eliasson,
dessen eruptive und extrem feinnervige Klangwelt höchste Anforderungen
an die Ausführenden stellt (Caprice/jpc 21422 und 21381).
In zwei Folgen liegen bei Ondine neuerdings die kompletten Streichorchesterwerke
von Rautavaara vor, bunt schillernd zwischen modaler Tonalität,
Serialismus und effektvollen Klangstudien. Geplant sind weitere
Gesamteinspielungen von Per Nørgård und Erkki Salmenhaara.
Und noch Ende dieses Jahres werden die Streichorchesterwerke von
Sibelius bei Finlandia erscheinen.
Einhelliges Lob der Komponisten ernteten zwei Kompilationen baltischer
Streichermusik mit Werken von Vasks, Balakauskas, Kutavicius, Narbutaite,
Tüür, Rekasius, Urbaitis und Juozapaitis (Finlandia/east-west
4509-97892-2 und 4509-97893-2). Peteris Vasks erzählt, wie
Kangas die Aufnahme seiner Schlüsselkomposition "Musica
dolorosa" nicht zur Veröffentlichung freigab. Vasks beteuert,
daß es sich um die bei weitem stärkste Einspielung handelt,
doch Kangas hält dagegen, man sei nicht mehr frisch gewesen
und müsse es eben ein anderes Mal wieder versuchen. Für
den amerikanischen Saxophonisten John-Edward Kelly ist Kangas der
Favorit unter den Herren des Taktstocks. Die gemeinsame Produktion
mit der Martin-Ballade und den Konzerten von Ibert und Larsson ist
als Billigscheibe wiedererhältlich (BMG 74321 27786 2). Kelly
bestätigt, daß die Aufnahme quasi live gemacht wurde
- das Ergebnis ist frappierend. Gleiches gilt für Cellokonzerte
von Carl Philipp Emanuel Bach und Joseph Haydn mit Marko Ylönen
(Finlandia/east-west 4509-96869-2). Als Urmusikant läßt
Juha Kangas so wenige Schnitte als irgend erforderlich zu, jedoch
macht sein sicheres Ohr, die unerschütterliche Konzentration
und, bei aller Klarheit der Vorstellung, seine Offenheit und Bescheidenheit
gegenüber dem Komponisten dies überhaupt erst möglich.
Und natürlich die kontinuierliche Arbeit seit 23 Jahren mit
einem Ensemble, in dem heute noch Schüler der ersten Stunde
spielen. Da war schon manches lukrative Angebot, das Kangas ohne
ein Zögern ausgeschlagen hat.
Christoph Schlüren
(Beitrag für Fono Forum, 1995)
|