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Suggestive Macht des Tönekosmos

Das Ostbottnische Kammerorchester unter Juha Kangas auf Tournee

Die Magie des Molto adagio aus Béla Bartóks Divertimento für Streicher entfaltet sich mit einer unforcierten Unerbittlichkeit, zutiefst abgründig und höchst unsentimental zugleich. Juha Kangas und seine Musiker saugen das Publikum geradezu in eine fahl knirschende, todnahe Pianissimowelt hinein, die im nächsten Moment vor Vitalität zu bersten droht. Selbst der scheinbar geringfügigste Moment ist bedingungslos durchlebt. Nichts ist hier selbstverständlich: die Stille blüht, das Barbaro wird Tanzapotheose - und wenn aus den durchsichtigen Grundfesten des Leisen plötzlich die ganze Wildheit der einsamen ungarischen Seele grausam dissonant emporfährt, dann fühlt sich der Hörer ein wenig wie die Auserkorenen in Holbeins Zyklus, denen der hagere Mann mit der Sense den letzten Weg weist. Wahres Musikantentum ist unbarmherzig und liebevoll, mitten im Tod von Leben umfangen, und in der trockenen Crailsheimer Jahnhalle hat sich der Weihebann konzentrierter Stille über das Publikum gelegt. Seit Celibidache habe ich dieses dichte Ineinanderspiel von existentialistischer Expressivität und unbestechlicher Sachlichkeit, das Bartóks Komponieren wie kein anderes prägte, nicht so gehört wie beim Ostbottnischen Kammerorchester unter Juha Kangas, auf einer Tournee durch fünf deutsche Städte.
Provinz ist nicht gerade ein Attraktionswort, wenn von Musik die Rede ist. Aber hier ist etwas geschehen, was so nur in der Provinz möglich war, in der Kräftebündelung der Abgeschiedenheit. Vor 24 Jahren gründete der heute 51jäh-rige Kangas, bis dahin Mitglied der Helsinki Philharmoniker und der Spielmannstruppe 'Kankaan Pelimannit', am Konservatorium von Kokkola ein kleines Streicherensemble aus 10-11jährigen Schülern. Kokkola ist eine Kleinstadt von 35000 Einwohnern und liegt 500 Kilometer nordwestlich von Helsinki auf der finnischen Seite des Bottnischen Meerbusens, genauer: in Mittel-Ostbottnien - daher also der schwervermittelbare Name des Orchesters. Mit unermüdlicher Arbeit und unerschöpflicher musikalischer Imagination ist es Kangas gelungen, über die Jahre zunächst eines der besten nordischen Jugendorchester aufzubauen, es über die zentrifugalen Bestrebungen eines flügge gewordenen Studentenensembles hinaus zusammenzuhalten und weiterzuformen und nach einer Zeit halbprofessionellen Status' 1989 Stadt, Region und Staat via unwiderlegbarer Qualität die Professionalisierung abzutrotzen. Der Weg zu internationaler Reputation war geebnet, Tourneen und Tonträger machten das Orchester zu einem Begriff in den nordischen Nachbarländern und Japan. 1993 erhielt man für diese

exemplarische Leistung - "alles ist möglich, aber nicht da, wo man es nur für möglich hält" - die höchste musikalische Auszeichnung der nordischen Länder, den 'Nordic Council Music Prize', zuerkannt. Und in der Tat, was Kangas erreicht hat, ist beispiellos. Er hat eine unverwechselbar eigene Musizier- und Klangkultur geschaffen, eine Ausdruckseinheit, die in ihrem Reichtum und ihrer völligen Klischeelosigkeit die Hörer überall mit suggestiver Macht einsaugt in einen reinen Tönekosmos. Da ist kein Platz für Eitelkeiten, falsche Gesten, Prätentiöses. Nur das Wesentliche zählt, und es gelingt, entzaubert und bezaubert auch die Skeptiker, ohne ihnen ein gewohntes "Verweile doch" zu gönnen - selbst in einer so schlechten Akustik wie in Crailsheim wird ein potentiell langweiliges Werk wie Sibelius' 'Rakastava' zum schimmernden Juwel, zu kernhafter Aussage, zu farbenreich entäußerter Innerlichkeit. Und wie erst in einem erstklassigen Saal wie dem Neumarkter Reitstadel! Da spielt John-Edward Kelly, jener Ariel authentischen Saxophonspiels, das Saxophonkonzert von Pehr Henrik Nordgren, der wohl eigentümlichsten Komponistenpersönlichkeit des heutigen Finnland, von dem Kangas bisher 14 Werke uraufgeführt hat: Seelischer Terror in medias, alle Tonsatzwinkel nach Erlösung bedrängend, den nur unter größter Anstrengung als Lichteinfall gewährten Schönklang als Notwendigkeit der gequälten Seele enthüllend - Leben ist Leiden, und der ganze Saal leidet mit. Oder in den 'Ostácoli' vom Schweden Anders Eliasson, einem anderen ganz Großen im heutigen Norden: stilistische Hermetik, freie Tonalität im weitesten und fundamentalsten Sinne. Keine Note ist verschenkt, jede trägt Sinn auf diesem zeitlosen Schlachtfeld der Töne. Eliassons Musik ist horrend schwer zu spielen, aber hier weht der Geist, der diese Notenkaskaden im Innersten zusammenhält. Desgleichen bei Mozart. Die Wahrheit ist, wie stets, paradox: flexibel und unumstößlich, detailbesessen und weitschauend, erdverwurzelt und schwerelos. Für Kangas, diesen Pionier eigener Wertekategorien, gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen alter und neuer Musik. Und Juha Kangas und seinem Ostbottnischen Kammerorchester gelingt, und das kann man nicht beweisen, eine Aufführung in Mozarts Geist. Unerhört lebendig. Man möchte hoffen, diesen Dirigenten bald in München begrüßen zu dürfen.

Christoph Schlüren, im November 1996