Suggestive Macht des TönekosmosDas Ostbottnische Kammerorchester unter Juha Kangas auf Tournee |
Die Magie des Molto adagio aus Béla
Bartóks Divertimento für Streicher entfaltet sich mit
einer unforcierten Unerbittlichkeit, zutiefst abgründig und
höchst unsentimental zugleich. Juha Kangas und seine Musiker
saugen das Publikum geradezu in eine fahl knirschende, todnahe Pianissimowelt
hinein, die im nächsten Moment vor Vitalität zu bersten
droht. Selbst der scheinbar geringfügigste Moment ist bedingungslos
durchlebt. Nichts ist hier selbstverständlich: die Stille blüht,
das Barbaro wird Tanzapotheose - und wenn aus den durchsichtigen
Grundfesten des Leisen plötzlich die ganze Wildheit der einsamen
ungarischen Seele grausam dissonant emporfährt, dann fühlt
sich der Hörer ein wenig wie die Auserkorenen in Holbeins Zyklus,
denen der hagere Mann mit der Sense den letzten Weg weist. Wahres
Musikantentum ist unbarmherzig und liebevoll, mitten im Tod von
Leben umfangen, und in der trockenen Crailsheimer Jahnhalle hat
sich der Weihebann konzentrierter Stille über das Publikum
gelegt. Seit Celibidache habe ich dieses dichte Ineinanderspiel
von existentialistischer Expressivität und unbestechlicher
Sachlichkeit, das Bartóks Komponieren wie kein anderes prägte,
nicht so gehört wie beim Ostbottnischen Kammerorchester unter
Juha Kangas, auf einer Tournee durch fünf deutsche Städte. |
exemplarische Leistung - "alles ist möglich, aber nicht da, wo man es nur für möglich hält" - die höchste musikalische Auszeichnung der nordischen Länder, den 'Nordic Council Music Prize', zuerkannt. Und in der Tat, was Kangas erreicht hat, ist beispiellos. Er hat eine unverwechselbar eigene Musizier- und Klangkultur geschaffen, eine Ausdruckseinheit, die in ihrem Reichtum und ihrer völligen Klischeelosigkeit die Hörer überall mit suggestiver Macht einsaugt in einen reinen Tönekosmos. Da ist kein Platz für Eitelkeiten, falsche Gesten, Prätentiöses. Nur das Wesentliche zählt, und es gelingt, entzaubert und bezaubert auch die Skeptiker, ohne ihnen ein gewohntes "Verweile doch" zu gönnen - selbst in einer so schlechten Akustik wie in Crailsheim wird ein potentiell langweiliges Werk wie Sibelius' 'Rakastava' zum schimmernden Juwel, zu kernhafter Aussage, zu farbenreich entäußerter Innerlichkeit. Und wie erst in einem erstklassigen Saal wie dem Neumarkter Reitstadel! Da spielt John-Edward Kelly, jener Ariel authentischen Saxophonspiels, das Saxophonkonzert von Pehr Henrik Nordgren, der wohl eigentümlichsten Komponistenpersönlichkeit des heutigen Finnland, von dem Kangas bisher 14 Werke uraufgeführt hat: Seelischer Terror in medias, alle Tonsatzwinkel nach Erlösung bedrängend, den nur unter größter Anstrengung als Lichteinfall gewährten Schönklang als Notwendigkeit der gequälten Seele enthüllend - Leben ist Leiden, und der ganze Saal leidet mit. Oder in den 'Ostácoli' vom Schweden Anders Eliasson, einem anderen ganz Großen im heutigen Norden: stilistische Hermetik, freie Tonalität im weitesten und fundamentalsten Sinne. Keine Note ist verschenkt, jede trägt Sinn auf diesem zeitlosen Schlachtfeld der Töne. Eliassons Musik ist horrend schwer zu spielen, aber hier weht der Geist, der diese Notenkaskaden im Innersten zusammenhält. Desgleichen bei Mozart. Die Wahrheit ist, wie stets, paradox: flexibel und unumstößlich, detailbesessen und weitschauend, erdverwurzelt und schwerelos. Für Kangas, diesen Pionier eigener Wertekategorien, gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen alter und neuer Musik. Und Juha Kangas und seinem Ostbottnischen Kammerorchester gelingt, und das kann man nicht beweisen, eine Aufführung in Mozarts Geist. Unerhört lebendig. Man möchte hoffen, diesen Dirigenten bald in München begrüßen zu dürfen. Christoph Schlüren, im November 1996 |