Als Pehr Henrik Nordgren, die stärkste
tonschöpferische Begabung Finnlands seit Sibelius, sich Mitte
der Siebziger Jahre aus Helsinki in das 500 Kilometer entfernte
unscheinbare Dorf Kaustinen, das Zentrum der finnischen Volksmusik,
zurückzog, schrieb man ihn in der Hauptstadt allmählich
ab. Nordgren verfiel zeitweise in schreckliche Depression, litt
unter künstlerischer Isolierung und absolutem Mangel an breiterer
Anerkennung. Und doch hatte er unermeßliches Glück -
es gibt Gründe, anzunehmen, daß dieses Außenseitertum
zu der musikalisch ersprießlichsten Zusammenarbeit führte,
die sich ein Komponist nur wünschen kann.
1972 hatte der Geiger Juha Kangas, den Nordgren aus seiner Zeit
als Kritiker in Helsinki kannte, das Finnische Radio-Symphonieorchester
verlassen und war nach Kokkola gegangen, eine Flugstunde von Helsinki
entfernt am bottnischen Meerbusen gelegen, um am dortigen Konservatorium
zu unterrichten. Kangas, der wie Okko Kamu in der legendären
Kammermusikklasse von Onni Suhonen studiert hatte, gründete
ein Schülerorchester, das schnell einen außergewöhnlichen
Standard erreichte. Man gab bald vielerorts Konzerte, wuchs zum
Studenten-Streicherensemble heran und wurde für Platteneinspielungen
engagiert, die schon damals ein echter Geheimtip waren: Aufnahmen
des "Keski-Pohjanmaan Kamariorkesteri", mit internationalem
Namen "Ostrobothnian Chamber Orchestra", galten unter
Musikerkollegen bald als das musikalisch Feinste weit und breit.
Daneben frönte Kangas bis Ende der Siebziger Jahre noch mit
seinen Brüdern Timo (Bratsche) und Olli (Cello) der Volksmusik-Leidenschaft:
die "Kankaan Pelimannit" (Kangas-Spielleute) waren mit
ihrem Sinn für subtiles Rubato und der weitausschwingenden
melodischen Leichtigkeit eine Ausnahmeformation, und diese urmusikantischen
Eigenschaften sind auch die immer lebendige Basis des kammerorchestralen
Musizierens. Wo sie auftreten, auch auf Aufnahmen, ist eine nicht
versiegende Freude zu spüren. Doch wird der Spieltrieb nie
hemmungslos ausgelebt: eine Präsenz, eine Konzentration des
Ineinanderwirkens wurde in nunmehr 23 Jahren mit Juha Kangas erreicht,
die vorbildlich für jedes Kammerorchester ist und in einem
großen Orchester einfach unmöglich wäre. Unter den
derzeit existierenden Streicherensembles ragen die Ostbottnier in
ihrer einmaligen Geschlossenheit des Ausdrucks und dem Reichtum
an klanglichen Möglichkeiten weit hervor.
Nach einer Phase semiprofessioneller Existenz wurden sie 1989 professionalisiert
und gewannen 1993 den Musikpreis des Nordischen Rats, die wichtigste
Auszeichnung der skandinavischen Welt. Sie haben bis heute ca. 60
Uraufführungen gespielt, darunter viele Kompositionen des nur
fünfzig Kilometer entfernt lebenden Nordgren. Ihn schätzt
Kangas als einen der ganz großen Schöpfer unserer Zeit,
wie auch den Schweden Anders Eliasson. Sein Lieblingskomponist freilich
ist Mozart geblieben, und in der Tat: so schwerelos und kraftvoll,
so natürlich und klar strukturiert, so biegsam und kristallin
zugleich wie mit Kangas und seinem kleinen Orchester hört man
Mozart sonst nirgends.
Auf CDs erschienen von dem in seiner abgründigen Einsamkeit
und wilden Expressivität immer tief berührenden Nordgren
unter anderem Werke wie "Symphonie" und "Transe-Choral"
für Streicher, und "Hate-Love" mit Solocello. Was
mit einer gewissen Schostakowitsch-Seelenverwandtschaft begann,
hat längst auf Wege unerhörter Eigenart geführt.
Eliassons übersprudelnde, vulkanische Natur, die bei aller
Attacke immer wieder Raum findet für jenseitig zarte Sanglichkeit,
ist dokumentiert mit Werken wie "Ostácoli", "Desert
Point" oder dem Violinkonzert. Viel weitere skandinavische
Streichermusik wurde eingespielt, und zuletzt zwei CDs mit baltischen
Kompositionen. Die meisten von Kangas aufgeführten Komponisten
stimmen überein mit Peteris Vasks' Bekenntnis: "Kangas
ist der ideale Dirigent für meine Werke." Was sagt Kangas
dazu? "Ich bin kein Dirigent. Ich bin ein Amateur." Typisch
finnische Bescheidenheit - ähnlich spricht Nordgren über
sich als Komponist.
Eine Deutschland-Tournee des Ostbottnischen Kammerorchesters unter
Juha Kangas mit dem Saxophonisten John-Edward Kelly ist für
Herbst '96 geplant. Bis dahin müssen wir dieses Wunder, das
gar keines ist, sondern Folge einer kontinuierlichen Lebensleistung,
aus der Ferne bewundern. Oder nach Kokkola fliegen...
Christoph Schlüren
(Beitrag für Frankfurter Rundschau, 1995)
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