Zur ersten Folge der Sergiu Celibidache-Edition (EMI)
Sergiu Celibidache hat sich nach einigen für ihn unbefriedigenden
Versuchen Anfang der fünfziger Jahre ein langes Musikerleben
lang geweigert, seine Kunst in den Dienst von Aufnahmen zu stellen.
Er hielt nicht nur nichts von Tonkonserven, er hielt sie sogar für
unmöglich. Mit Recht. Denn mit dem, was er im realen Raum hörte
und unter den in diesem Moment, an diesem Ort, unter diesen einmaligen
Bedingungen mit seinen "Fahrgesellen" (wie er die Orchestermusiker
gern liebevoll nannte) strukturierte: Mit dem hat es nicht mehr
viel zu tun, was wir vom echten Raum und den echten Bedingungen
abstrahierend in einer Wiedergabe mit standardisierten Klangquellen
in einem völlig anderen Raum hören. Alles, was er als
wesentlich erlebte im Moment des Musizierens, war ausgelöscht
in der Reproduktion. Von der ursprünglichen Situation konnte
diese so wenig vermitteln, wie ein Foto eines uns unbekannten Menschen
uns dessen Charakter offenbaren könnte: Gespeicherte äußere
Merkmale, nicht mehr. Wir sollten also nicht erwarten, man könne
auf den CDs "dem Geist Celibidaches nachspüren",
wie es der Tontechniker im beigefügten Standardkommentar versucht.
Der Geist hat sich aus dem Staub gemacht. Auch diese CDs sind nur
CDs
aber was für welche!
Wann je hätte man die zwei letzten Tschaikowskij-Symphonien
als so monumental-menschliche Dramen gehört, wo sich die Frage
"Kitsch oder Vermeiden von Kitsch?" gar nicht mehr stellt?
Indem Celibidache jeder Regung aus dem Gesamtzusammenhang nachspürt,
entgeht ihm nichts, aber es vollführt auch kein Detail selbstherrliche
Tiraden. Er weicht nie einer dominierenden Stimmung, einer Herausforderung
aus, sondern geht stets mitten hinein, holt das Maximum aus den
hauptsächlichen Charakteristika heraus. So entsteht unausweichlicher
Zusammenhang, der nicht anekdotisch, sondern absolut musikalisch
motiviert ist. Und wann je, möchte man weiter fragen, hätte
man Wagners Meistersinger-Vorspiel so lebensvoll und kontrapunktisch
transparent und durchartikuliert gehört? Das ganze Wunderwerk
kompositorischer Organisation, hier wird es erst in seinem immensen
Reichtum, seiner Differenzierung erlebbar. Und der Trauermarsch
kommt so unmittelbar erschütternd, daß man meinen möchte,
soeben sei Siegfried wirklich gestorben. Ja, so muß es wohl
sein!
Die Haydn-, Mozart-, Beethoven- und
Schubert-Aufnahmen werden viele nicht mögen, weil ihnen die
extreme Disziplin der Phrasierung und die Zurückhaltung im
Dynamischen vielleicht manieriert erscheinen mag im Vergleich zu
dem, was man gewohnt ist. Andere werden sich nicht satt hören
können an der Ekstase des Feinstofflichen, die nur einem Gesetz
gehorcht: dem Gesetz des Zusammenhangs. Im Anfang ist schon das
Ende enthalten: "Ich entferne mich, und komme näher."
Schlicht unerhört klingen die beiden Schumann-Symphonien. Vor
allem die Rheinische ist unter Celibidache ein Werk, von dem man
den Eindruck hat, es eigentlich erstmals richtig zu hören.
Kein Wunder: Schumanns Symphonien klingen nicht "von selbst".
Sie bedürfen in ihrer eigensinnigen Instrumentierweise besonderer
Einfühlung und harter, geduldiger Probenarbeit. Und Debussy,
Bartók, Mussorgskij? Wer erfahren möchte, was diese
Partituren über den sinnlichen Reiz (der in vollem Umfang entfaltet
wird) hinaus an dramaturgischer Schlüssigkeit, an weittragender
Spannkraft zu bieten haben, dem sei zu diesen Aufnahmen geraten.
Christoph Schlüren
Sergiu Celibidache/Münchner Philharmoniker: Werke von Haydn,
Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Wagner, Mussorgskij, Tschaikowskij,
Debussy, Ravel und Bartók; EMI 11 CDs 556517-2.
(Rezension für Music Manual, 1998) |