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Nahezu unmenschlich hoch angesiedelt

Zum Tode von Sergiu Celibidache

Siebzehn Jahre lang, seit 1979, hat Sergiu Celibidache - bis zu seinem Tod in der Nacht vom 14. zum 15. August in Nemours bei Paris - die Münchner Philharmoniker geleitet, hat sie zu Höhen geführt, die diesem Orchester bis dahin nicht zugänglich waren, und hat der ganzen Welt gezeigt, wie eine unverwechselbare Musizierkultur zu schaffen ist in Zeiten des Jetset, des oberflächlichen Starkults, knapper Probezeiten und ökonomischer Routine. Unter seiner Leitung haben die Münchner vor allem die deutsche Symphonik systematisch erarbeitet; viele sehen in ihnen heute das weltweit beste Bruckner-Orchester. Über diese späte Erfüllung eines Künstlerlebens ist der Celibidache der sechziger und siebziger Jahre weitgehend in Vergessenheit geraten. An seine furiose Berliner Frühzeit als dirigentischer Senkrechtstarter und Chefdirigent der Berliner Philharmoniker wurde immer wieder erinnert, war es doch beispiellos in der Geschichte, wie Celibidache nach dem Krieg in schwindelerregender Geschwindigkeit aus dem studentischen Nichts an die Spitze des Musiklebens empordrang und sich dort auf Dauer niederließ. Die Berliner liebten den fanatisch impulsiven, hochsensibel klangbewußten und von feuriger Magie beseelten Urmusikanten umgehend, und er forderte den Philharmonikern das Letzte ab - mit einer kompromißlosen Unbedingtheit, die bei aller Großartigkeit so sehr an Nerven und Kräften der Musiker zehrte, daß nach Wilhelm Furtwänglers Tod nicht Celibidache, der das Orchester wiederaufgebaut hatte, sondern Herbert von Karajan zum Chefdirigenten auf Lebenszeit gewählt wurde. Celibidache kehrte Berlin maßlos enttäuscht den Rücken zu und ging den steinigen Weg über die musikalischen Provinzen des Erdballs. Auch sein musikalischer Zugang veränderte sich grundlegend, weg von äußerlicher Intensität und Feurigkeit, hin zur Erkundung des wahren Wesens der lebendigen Form: die Details haben nur in der Beziehung zueinander, als Funktionen einer organischen Ganzheit Sinn, die Länge eines Werkes ist einzig in der

Gegensätzlichkeit der zueinander beziehbaren Gedanken berechtigt. Celibidache fand künstlerische Gewißheit, und in seiner konsequenten Haltung schloß das die formale Zerrissenheit Gustav Mahlerscher Symphonien ebenso aus wie Aufnahmestudios - nichts kam ihm verkommener an als die Konservierung klanglich kastrierter Momentaufnahmen, die "Standardisierung des Hörens, die seelische Verarmung des Menschen". Immer wieder aufs Neue trieb Celibidache unterschiedlichste Orchester zu Höchstleistungen an, die grenzenlose Bewunderung fanden und auf Dauer nicht zu halten waren, so daß über zwanzig Jahre lang jede Zusammenarbeit im Desaster endete. So schrieb 1964 nach einem Helsinki-Gastspiel der Komponist Pehr-Henrik Nordgren: "Seine Anforderungen an die Musiker sind nahezu unmenschlich hoch angesiedelt... nun haben wir einen klaren Beweis dafür, daß das Rundfunk-Orchester das Potential besitzt, hohes internationales Niveau zu erreichen". Die kontinuierlichste Zusammenarbeit ergab sich mit den Rundfunkorchestern in Stockholm und Stuttgart, wo, den Qualitäten der Orchester entsprechend, vor allem seine Aufführungen französischer, russischer und Neuer Musik als unerreicht galten. Nicht zuletzt Celibidaches wachsender Gelassenheit war es zu verdanken, daß er trotz heftiger Querelen in München blieb und dort das verwirklichte, was ihm andernorts auf Dauer verwehrt geblieben war. In den Augen vieler war er das größte dirigentische Genie unseres Jahrhunderts.

Christoph Schlüren

(Nachruf für 'Das Orchester')