Was ist von Celibidaches Plattenablehnung, was von einer Celibidache-CD-Edition
zu halten? Und was erwartet den Musikfreund?
Viel Wirbel hat es nach Sergiu Celibidaches Tod um die Nachricht
gegeben, daß nun erstmals gegen seinen Willen eine offizielle
Edition seiner Konzertaufnahmen auf Tonträger erscheinen soll.
Man hat seinem Sohn Serge Celebidachi (so lautet die urkundliche
Schreibweise des Familiennamens) vorgeworfen, schnell ans große
Geld kommen zu wollen und das geistige Vermächtnis des Vaters
skrupellos auszuhebeln. Zynische Kommentare in manchen Tageszeitungen
und Fachmagazinen spiegelten Unverständnis, Verwirrung und
Neid auf die Gnade des großen Erbes. Doch der Fall der postumen
Vermarktung wider Willen ist vielschichtiger als es manchem vorschnell
Höhnenden scheinen möchte. Serge Celebidachis Entscheidung
ist wohlüberlegt und gründet in schwer widerlegbaren Argumenten.
Wie man weiß, lehnte Sergiu Celibidache seit Mitte der fünfziger
Jahre nach einigen problematischen Erfahrungen Plattenaufnahmen
grundsätzlich ab. Er tat dies zuallererst, weil sowohl Aufnahme-
als auch Wiedergabetechnik unter keinen Umständen akustisch
identische Verhältnisse zum realen Klang im Raum herstellen
können, was jeder, der schon mal mit Aufnahmen zu tun hatte,
wissen müßte. Aus dieser Tatsache der Nicht-Reproduzierbarkeit
der originären Vielfalt und Zueinander-Bezogenheit der klingenden
Phänomene ließ sich nun vielerlei ableiten, was manche
Bücherschreiber mehr inspiriert hat als die Basisbegründung
der lebenslangen Ablehnung. Freilich stimmt es, daß ein einmaliger,
lebendiger Prozeß nicht ohne Verlust des Wesentlichen - dessen
nämlich, was einmalig an ihm ist - wiederholt werden kann.
So ist die mechanische Repetition einer aufgrund einmaliger Bedingungen
zustandegekommenen Situation ein todsicherer Spontaneitäts-Killer
und stumpft den Menschen in seiner Wahrnehmungsbereitschaft sowohl
im Musikalischen als auch ganz allgemein ab - von der durch die
ständige Verfügbarkeit hervorgerufenen Mentalität
des Nebenher-Konsumierens ganz zu schweigen. Durch die Kastration
des klanglichen Spektrums, so Celibidache, "sind die Menschen
ärmer geworden", sie geben sich mit einem manipulierten
Ausschnitt einer möglichen Gesamtheit zufrieden, halten ihn
aufgrund von Gewöhnung schließlich für real und
verlieren den Sinn für den Reichtum des Erscheinenden ebenso
wie die spontane Unterscheidungsfähigkeit zwischen zusammenhängender
und nicht zusammenhängender Gestaltung, zwischen eindeutiger
und beliebiger Strukturation. Eine "Philosophie" hat man
Celibidaches unerbittliche Wahrheitsgewärtigkeit genannt; Bewußtheit
und Konsequenz hat man, in Anerkennung und Aufwertungsdrang der
geschäftstüchtigen Mittelmäßigkeit, als "Verbitterung",
"Fanatismus" und "Idiosynkrasie" geoutet.
Serge Celebidachi hat, das beweist er mit seinem Film 'Le jardin
de Sergiu Celibidache', die Haltung seines Vaters gründlich
verstanden und seine "Phänomenologie", die keine
Philosophie, sondern nur eine messerscharfe Methode zum Ausschluß
von Irrtümern, eine Kunst der rechten Negation ist, verinnerlicht.
Er steht völlig hinter dieser unnachgiebigen Haltung, die nach
dem Ableben Celibidaches zum vollends unantastbaren Symbol der reinen
Gegenwartsbejahung kristallisiert ist, des ursprünglich Künstlerischen
und damit profund Menschlichen in positivem Sinn. Solche Geistesgegenwärtigkeit
schließt in ihrer Kontinuität Vergangenes und Künftiges
ein, doch hängt sie nichts nach - nichts anderes geschieht
beim Musizieren, und wenige waren so "drin" wie Celibidache,
wobei gerade diese unbeirrbare Konzentriertheit auf das Gesamte
viele seiner Kritiker irritierte und Komplexe auslöste, die
sich in sentimentalen Anwürfen über "Manierismus",
"kalte Perfektion" und "sterilen Formalismus"
kundtaten, ganz zu schweigen von der oberflächlich-gewohnheitsmäßigen
Kategorisierung der "Langsamkeit".
Fraglos: Für den Plattengeschulten
erscheint es zu langsam, dem ungeduldig Unkonzentrierten zu langatmig,
überdies, - wie immer - jeder hört etwas anderes, liest
etwas anderes heraus. Und auf der Aufnahme ist es dann tatsächlich
zu langsam. Nur sollten wir uns darüber im Klaren sein, daß
auf der Aufnahme alles, was bei der realen Entstehung "stimmte",
zu langsam ist. Und darüber, daß, wenn wir das nicht
merken, unsere Wahrnehmung abgestumpft ist. Insofern werden CDs
mit Celibidache-Aufnahmen unsere Sinne für die klingende Wirklichkeit
auch nicht schärfen. Jede CD ist ein mehr oder weniger bekömmlicher
Schmaus im Orkus. Aber mit Recht sagt sich Serge Celebidachi, daß
den Sinnen auch nicht besser gedient ist, wenn gar nichts von Celibidaches
Vermächtnis zugänglich ist - außer einer zunehmenden
Flut von Piratenkopien. "Schließlich hat mein Vater es
besser gemacht als die anderen, warum sollen die Leute es dann nicht
hören dürfen. So eine CD ist wie eine Fotoserie, ein Dokument,
eine Erinnerung." Mit Illusionspotential, wäre zu ergänzen.
Serge Celebidachi hat sich für eine Veröffentlichung entschieden,
zur Unterstreichung der Solidarität mit dem Geist des Verstorbenen
aber jegliche Gewinnbeteiligung seiner Familie ausgeschlossen. Stattdessen
soll der Erlös zwei Stiftungen zufließen; vor allem einer
zur fachgerechten Ausbildung angehender Dirigenten, denen Phänomenologie-geschulte
Lehrer und ein permanentes Orchester klingende Hilfe leisten sollen;
außerdem einem Fond für Hilfebedürftige in aller
Welt. Die Edition selbst soll umfassenden dokumentarischen Charakter
haben, also möglichst das gesamte Repertoire Celibidaches präsentieren
- ein in seinem Umfang schwer zu realisierendes Vorhaben, denn bis
in die siebziger Jahre finden sich auf Celibidache-Programmen Raritäten
zuhauf. Einen Haupt-Schwerpunkt bilden natürlich die Aufnahmen
mit den Münchner Philharmonikern, die Celibidache von 1979
bis zu seinem Tod im August 1996 leitete und deren Konzerte in der
Münchner Philharmonie seit Herbst '85 lückenlos aufgezeichnet
wurden. Angesichts der spezifischen Qualitäten dieses Orchesters
sind es vor allem symphonische Werke der deutschen Tradition von
Schumann über Bruckner und Brahms bis Strauss, die hier unübertroffen
gemeistert sind. Die zahlreichen italienischen Mitschnitte sind
hochinteressant, wenngleich von meist geringerer Qualität der
Ausführung und Konservierung; die alten Berliner Aufzeichnungen
klingen sehr historisch, wogegen die Aufnahmen der Rundfunkorchester
aus Stockholm, Stuttgart, Paris usw. von unschätzbarem Wert
sind: Sei es die feinstoffliche Ekstase der Klassiker, sei es französischer
Impressionismus oder russische Symphonik, sei es die reich vertretene
Musik dieses Jahrhunderts - den Hörer erwartet ein Fest. Wahrscheinlich
muß er noch einige Zeit darauf warten, denn Serge Celebidachi
will in der Sache keine Kompromisse machen, und ein Angebot, bei
dem alles seinen Vorstellungen entspricht, liegt noch nicht vor.
Wenn es dann soweit ist, wird damit zwar keines der Konzerte Celibidaches
zu neuem Leben erweckt werden können und die CD wird armselig
bleiben wie bisher, aber vielleicht wird doch in manchem wachen
Zeitgenossen eine vage Ahnung aufsteigen, welch tönender Kosmos
sich hinter der undurchdringlichen Trennwand zwischen einmaliger
Realität und vielmaligem Abbild auftut. Und er wird merken,
was im Wege steht. Das wäre das Hören wert.
Christoph Schlüren
(Beitrag für 'Kunst & Kultur', 1997)
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