Zum Tode von Sergiu Celibidache |
Rafael Kubelik am 11. August in Luzern, Sergiu Celibidache in der Nacht vom 14. zum 15. August in Nemours in der Nähe von Paris: Innerhalb von einer knappen Woche verstarben nicht nur die zwei größten Dirigenten, die in München wirkten. Die Welt hat zwei unverwechselbar gezeichnete Charaktere, zwei bedingungslose Urmusiker von umfassendem Format verloren - künstlerisches Urgestein, wie es in dieser "schnellebigen" Zeit nicht nachwächst. Ähnlich dem legendären Václav Talich ein überragender Exponent böhmischen Musikantentums, war der am 29. Juni 1914 bei Kolin geborene Rafael Kubelik immer schon von nichts als Musik umgeben. Sein Vater, der komponierende Geigenvirtuose Jan Kubelik, sorgte für die umfassende Ausbildung als Geiger, Pianist, Dirigent und Komponist, und der 19jährige debütierte am Pult mit einer Dvorák-Symphonie. Bald wurde er zum ständigen Dirigenten der Tschechischen Philharmonie. 1948, nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei, emigrierte er in den Westen. 1950-53 war er Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra, 1955-58 am Royal Opera House Covent Garden, wo er die Londoner Erstaufführungen von Janáceks "Jenufa" und Berlioz' "Les Troyens" leitete. Künstlerische Erfüllung fand Rafael Kubelik ab 1961 als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München, wo er erst nach über zwanzig Jahren 1983 aufhörte und sich aufgrund fortschreitender Arthritis vom Dirigieren zurückzog. Nach der Öffnung der Tschechoslowakei hat er in Prag ein umjubeltes Comeback gegeben. Kubelik war natürlich in seiner heimatlichen böhmischen Musik zuhause wie der Fisch im Wasser, sei's nun in Smetanas "Vaterland", in Werken von Dvorák oder Janácek. Er hatte aber auch eine besondere Affinität zur ausufernden Spätromantik und zu den Bekenntnismusiken unseres Jahrhunderts: Wenigen sonst sind so verinnerlichte Wiedergaben von Kompositionen Max Regers, Gustav Mahlers oder Alexander Scriabins geglückt, selten kamen Britten oder Honegger mit solch elementarer Dringlichkeit zum Klingen, Hartmanns Symphonien erstanden in alle intellektuellen Barrieren durchdringender Menschlichkeit, expressiv, natürlich, aristokratisch. Das Schallplattenvermächtnis Kubeliks ist beträchtlich, aber nicht durchweg zugänglich. Der Komponist Kubelik, ein Schöpfer von tiefer Empfindung und hohem Anspruch, ist bis jetzt weitgehend unbekannt geblieben. Es ist an der Zeit, daß er eine gerechte Rezeption erfährt. Extremer noch steht es um Sergiu Celibidache. Auch er hat bis zuletzt komponiert, doch nur eines seiner Werke hat er je der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: den "Taschengarten", gedacht als Musik für Kinder, als lebensprühende Widerlegung allen tonsetzerischen Regelwerks - brecht die Regeln, aber wißt, wie! Celibidache hat mit den Regeln der Geschäftswelt stets gebrochen. Bis zur Mitte seiner Münchner Zeit hatte er nie irgendwo einen Kontrakt unterschrieben. Seine Arbeitsbedingungen setzte er kompromißlos durch: ein Maximum an Proben, keine anderen Projekte während seiner Arbeitsphasen, keine Aufnahmesitzungen, keine Tonträger. "Musik ist einmalig. Es erklingt unter diesen einmaligen Bedingungen so und nicht anders. Durch die Aufnahme- und Wiedergabebedingungen wird es verfälscht, sterilisiert und standardisiert." Immer wieder rekurrierte der Pädagoge Celibidache, der Tausende von Schülern unterrichtet hat, auf der Grundfrage: Was ist Musik? "Das Wesen der Musik ist Wahrheit. Aber wie könnten wir überhaupt über Musik sprechen? Musik ist nicht etwas, aber etwas kann unter bestimmten, einmaligen Bedingungen
Musik werden, und dieses Etwas ist der Klang." Celibidache,
am 11. Juli 1912 im rumänischen Roman geboren, wurde von seinem
Vater des Hauses verwiesen, als er sich entschloß, Musiker
zu werden. Ab 1936 studierte er in Berlin bei Heinz Tiessen Komposition,
außerdem Dirigieren, Musikwissenschaft und Philosophie. Tiessen
erkannte die exzeptionelle Begabung und notierte schon im Dezember
1944 als "meine Lieblingsdirgenten: Celibidache, Furtwängler,
früher Strauss und Nikisch" - ein Anfänger an erster
Stelle, zusammen mit den ganz großen deutschen Dirigenten!
Über Nacht wurde Celibidache 1945 zum "Lizenzträger"
der Berliner Philharmoniker, Anfang 1946 ernannte ihn das Orchester
zum Chefdirigenten bis zu Wilhelm Furtwänglers Rückkehr.
Celibidache eroberte die Herzen der Berliner im Sturm mit dämonischer
Impulsivität, mit wild loderndem Feuer und obsessioneller Liebe
zum Detail. Von alldem hielt Celibidache später nicht mehr
viel, weil "Musik nicht nur Intensität und Feuer ist".
Seine Anforderungen zehrten an den Kräften und Nerven der Musiker,
und als Furtwängler 1954 starb, entschieden sich die Berliner
nicht für den unbequemen Fanatiker musikalischer Wahrheit,
sondern für den glänzenden Pragmatiker Herbert von Karajan
als Nachfolger. Celibidache verlor den Elite-Klangkörper und
fand zu schöpferischer Gewißheit. Sein musikalischer
Zugang war nicht analytisch, sondern integrativ, nicht statisch,
sondern dynamisch, jedes Detail im organischen Gesamtzusammenhang
erlebend. Für viele das größte dirigentische Genie
des Jahrhunderts, wurde er zugleich zum Störenfried der Branche,
zur unberechenbaren kreativen Größe im geölten Musikbetrieb.
Von 1954 bis 1979 stand er keinem Orchester offiziell als Chef vor,
wenngleich er vor allem bei den Rundfunkorchestern in Stockholm
und Stuttgart eine entsprechende Funktion ausübte und diesen
musikalische Höhenflüge abforderte, die, so hieß
es bei einem Gastspiel beim Finnischen Rundfunk, "nahezu unmenschlich
hoch angesiedelt" waren. 1979 war die Stadt München als
erste bereit, alle Bedingungen des Unbeugsamen zu erfüllen,
und er übernahm die Leitung der Münchner Philharmoniker,
die er wie angekündigt trotz manch dramatischer Zerwürfnisse
zu einem "Weltorchester" formte, in wahren Triumphzügen
um die Welt führte: Sie sind heute das Bruckner-Orchester par
excellence mit der einmalig weichen, runden Klangfülle der
Blechbläser, der Fähigkeit des ganzen Orchesters, aufeinander
zu hören und Transparenz auch bei maximaler Intensität
zu bewahren, immer wach den Gesetzen der symphonischen Kontinuität
zu folgen. Es ist ein bißchen der Fluch der überwältigenden
Größe, daß Celibidache heute vor allem als überragender
Bruckner-Dirigent gilt: in Italien waren es Tschaikowskij und Brahms,
in Stockholm Strawinskij, Bartók und die zeitgenössische
Musik, Christoph Schlüren (Nachruf für Österreichische MusikZeitschrift) |