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"Musik ist nicht"

Sergiu Celibidache

Kritiker sind, was das eigene Ehrennäpfchen angeht, meist hochsensibel, auch wenn sie's woanders vielleicht gar nicht so sind. Celibidache hat für derlei Berührungsängste wenig übrig und ließ die Welt immer gerne wissen, was er von der über Musik schreibenden Zunft hält: "Musik hat mit Intellekt absolut nichts zu tun. Musik kann man nur erleben. Und in dieser Hinsicht ist jeder Kritiker überfragt... Wenn jeder das tun würde, was er wirklich kann, gäbe es keine Probleme." (in einem Interview mit der AZ). Wie nun die Fraktionen der Kritiker tief gespalten sind in ihrer Haltung zum Phänomen Celibidache, so ist es auch das übrige Publikum. Da stehen entrüstete Ablehnung und vorbehaltlose Begeisterung nebeneinander.
Nun haben ja große Künstler immer ihre Umgebung polarisiert. Was jedoch viele irritiert, ist der sogenannte Altersstil Celibidaches. Was ihm heute als Musiker vorgeworfen wird ("verschleppte Tempi, Mangel an Leidenschaft" usw.), hätte in den sechziger Jahren völlig absurd geklungen, im Gegenteil, man bewunderte seine leidenschaftliche und stürmisch mitreißende Musizierweise über alles. Aber ist das heute wirklich verschwunden? Und hat man damals wirklich das Wesentliche seines Musizierens erkannt, oder ist man nur auf faszinierende äußere Merkmale angesprungen? Wer heute beklagt, Celibidache habe die einstige musikalische Ausstrahlung verloren, der hat auch früher sicher nur die Oberfläche wahrgenommen. Vor allem in den Jahren am Pult der Berliner Philharmoniker (1945-54), wo der mittellose Student über Nacht im Rampenlicht stand, waren geprägt von überbordender Impulsivität, von wild loderndem Feuer, von obsessioneller Liebe zum Detail. In einem Interview mit Klaus Lang bekannte Celibidache: "Natürlich habe ich irgendwie gewußt, daß Musik nicht nur Intensität und Feuer ist. Und ich wußte genau, daß alle diese Momente, die dem Menschen etwas geben, zu transzendieren sind. Ich hab's aber nicht gekonnt. Bis einmal mein Professor zu mir gekommen ist und gesagt hat: 'Du bist ein Idiot'." Das hat Celibidache inzwischen auch zu vielen anderen gesagt, und seit Ende der fünfziger Jahre hat er seine schöpferische Gewißheit gefunden.
Celibidaches musikalischer Zugang ist nicht analytisch, sondern integrativ, nicht statisch, sondern dynamisch, jedes Detail im organischen Gesamtzusammenhang erlebend. Wilhelm Furtwängler vermittelte dem jungen Celibidache ganz nebenbei eine fundamentale Einsicht. Er hatte Furtwängler gefragt, wie schnell es denn an einem bestimmten Übergang weitergehe, und erhielt die verständnislose Antwort: "Je nachdem, wie es klingt." Celibidache: "Furtwängler hat wie kein anderer die Beziehung von vertikalem Druck und horizontalem Fluß gehört und realisiert." Tempo also nicht als etwas Feststehendes, sondern als eine die Vielfalt der Erscheinungen zusammenschließende Bedingung, die jedesmal neu und einmalig gegeben ist! Tempo ist demnach nicht zu verwechseln mit Geschwindigkeit, dem momentanen physikalischen, aus dem Erlebniszusammenhang isolierten Ergebnis. Geschwindigkeit interessiert nicht, und wenn es dem Erlebenden nicht zu schnell oder zu langsam erscheint, spielt es überhaupt keine Rolle, was außerhalb des Erlebnisses befindliche Spezialisten messen und vergleichen. Ob die achte Symphonie von Anton Bruckner 100 Minuten dauert, die Rheinische Schumann über 40 Minuten, die Fünfte Tschaikowskij eine knappe Stunde - das kann nur für Archivare von Interesse sein oder als statistische Kuriosität. Und deswegen ist auch eine Bruckner-Symphonie nicht länger als eine Mozart-Ouverture.

Denn der ganze musikalische Prozeß, der zwar in der Zeit stattfindet, ist seinem Wesen nach außerzeitlich, spielt sich in der Gleichzeitigkeit aller involvierten Momente ab, in der Gleichzeitigkeit folglich - auf einen verführerisch einfachen Nenner gebracht - von Anfang und Ende.
Die Denkschule der "Musikalischen Phänomenologie", entwickelt auf den methodischen Grundlagen der Philosophie Edmund Husserls, hat Celibidache mittlerweile Tausenden von Schülern nahezubringen versucht: eine Wissenschaft davon, was dem Musizieren im Wege stehen kann, eine Wissenschaft vom 'Nein'. Denn das 'Ja' bleibt intellektuellem Erkennen verschlossen. Was ist dann Musik? "Musik ist nicht der Klang. Musik ist überhaupt nicht, hat keine Daseinsform. Ein solches Dasein hat der Klang, dessen Wesen Harmonie ist, dessen Schönheit uns anzieht. Das Wesen der Musik ist Wahrheit. Aber wie könnten wir über Musik sprechen? Musik ist nicht etwas, aber etwas kann unter bestimmten einmaligen Bedingungen Musik werden, und dieses Etwas ist der Klang."
Als die Resultate von Celibidaches 1979 begonnener Arbeit als Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker nirgends auf der Welt mehr übersehen werden konnten, sich die Tourneen in Europa, Nord- und Südamerika und Asien, vor allem in Japan, zu wahren Triumphzügen gestalteten, wurde auch die Haltung der von ihm vielgeschmähten Fachpresse ("Wieso Fach?") davon beeinflußt, und man überhäufte ihn mit Ehrenbezeugungen und Auszeichnungen. Er war eben, wie er war... Dafür schossen sich manche umso gezielter auf seine Schüler ein. Seine für jeden offenen Kurse, die ab den siebziger Jahren in Deutschland - lange Jahre an der Mainzer Universität, einer regelrechten "Celibidache-Pilgerstätte - und zuletzt in Paris stattfanden, sind nicht nur für jene interessant, die Wesentliches über Musik erfahren wollen: Philosophen, Physiker, Psychologen, Künstler anderer Sparten - sie alle wollen lernen von diesem Mann, der kein System vertritt, kein theoretisches Gebäude, dessen Vorgehensweise nur helfen kann, aus der Zerstörung eingrenzender Theorien, der Befreiung von im Wege stehenden Gewohnheiten heraus das freizulegen, was sich jeder Definition entzieht: das spontane Erleben, das Erfahren des nicht Zeitgebundenen, unzweifelhaft Wahren. Kein Wunder, daß ironisch-distanzierte Beobachter mit dieser "Lebensphilosophie" nichts anfangen konnten und die "Celibidache-Gemeinde" mit Hohn und Spott überzogen. Wie sollten sie begreifen, daß, wo am Ende nichts Greifbares übrigbleibt, ihr Begriff vom Leben auf der Strecke blieb?

Christoph Schlüren

(Dieser Artikel, verfaßt unmittelbar vor Celibidaches Tod im August 1996, erschien anstelle eines Nachrufs im Münchner Kulturmagazin 'Applaus'.)