Kritiker sind, was das eigene Ehrennäpfchen
angeht, meist hochsensibel, auch wenn sie's woanders vielleicht
gar nicht so sind. Celibidache hat für derlei Berührungsängste
wenig übrig und ließ die Welt immer gerne wissen, was
er von der über Musik schreibenden Zunft hält: "Musik
hat mit Intellekt absolut nichts zu tun. Musik kann man nur erleben.
Und in dieser Hinsicht ist jeder Kritiker überfragt... Wenn
jeder das tun würde, was er wirklich kann, gäbe es keine
Probleme." (in einem Interview mit der AZ). Wie nun die Fraktionen
der Kritiker tief gespalten sind in ihrer Haltung zum Phänomen
Celibidache, so ist es auch das übrige Publikum. Da stehen
entrüstete Ablehnung und vorbehaltlose Begeisterung nebeneinander.
Nun haben ja große Künstler immer ihre Umgebung polarisiert.
Was jedoch viele irritiert, ist der sogenannte Altersstil Celibidaches.
Was ihm heute als Musiker vorgeworfen wird ("verschleppte Tempi,
Mangel an Leidenschaft" usw.), hätte in den sechziger
Jahren völlig absurd geklungen, im Gegenteil, man bewunderte
seine leidenschaftliche und stürmisch mitreißende Musizierweise
über alles. Aber ist das heute wirklich verschwunden? Und hat
man damals wirklich das Wesentliche seines Musizierens erkannt,
oder ist man nur auf faszinierende äußere Merkmale angesprungen?
Wer heute beklagt, Celibidache habe die einstige musikalische Ausstrahlung
verloren, der hat auch früher sicher nur die Oberfläche
wahrgenommen. Vor allem in den Jahren am Pult der Berliner Philharmoniker
(1945-54), wo der mittellose Student über Nacht im Rampenlicht
stand, waren geprägt von überbordender Impulsivität,
von wild loderndem Feuer, von obsessioneller Liebe zum Detail. In
einem Interview mit Klaus Lang bekannte Celibidache: "Natürlich
habe ich irgendwie gewußt, daß Musik nicht nur Intensität
und Feuer ist. Und ich wußte genau, daß alle diese Momente,
die dem Menschen etwas geben, zu transzendieren sind. Ich hab's
aber nicht gekonnt. Bis einmal mein Professor zu mir gekommen ist
und gesagt hat: 'Du bist ein Idiot'." Das hat Celibidache inzwischen
auch zu vielen anderen gesagt, und seit Ende der fünfziger
Jahre hat er seine schöpferische Gewißheit gefunden.
Celibidaches musikalischer Zugang ist nicht analytisch, sondern
integrativ, nicht statisch, sondern dynamisch, jedes Detail im organischen
Gesamtzusammenhang erlebend. Wilhelm Furtwängler vermittelte
dem jungen Celibidache ganz nebenbei eine fundamentale Einsicht.
Er hatte Furtwängler gefragt, wie schnell es denn an einem
bestimmten Übergang weitergehe, und erhielt die verständnislose
Antwort: "Je nachdem, wie es klingt." Celibidache: "Furtwängler
hat wie kein anderer die Beziehung von vertikalem Druck und horizontalem
Fluß gehört und realisiert." Tempo also nicht als
etwas Feststehendes, sondern als eine die Vielfalt der Erscheinungen
zusammenschließende Bedingung, die jedesmal neu und einmalig
gegeben ist! Tempo ist demnach nicht zu verwechseln mit Geschwindigkeit,
dem momentanen physikalischen, aus dem Erlebniszusammenhang isolierten
Ergebnis. Geschwindigkeit interessiert nicht, und wenn es dem Erlebenden
nicht zu schnell oder zu langsam erscheint, spielt es überhaupt
keine Rolle, was außerhalb des Erlebnisses befindliche Spezialisten
messen und vergleichen. Ob die achte Symphonie von Anton Bruckner
100 Minuten dauert, die Rheinische Schumann über 40 Minuten,
die Fünfte Tschaikowskij eine knappe Stunde - das kann nur
für Archivare von Interesse sein oder als statistische Kuriosität.
Und deswegen ist auch eine Bruckner-Symphonie nicht länger
als eine Mozart-Ouverture.
Denn der ganze musikalische Prozeß,
der zwar in der Zeit stattfindet, ist seinem Wesen nach außerzeitlich,
spielt sich in der Gleichzeitigkeit aller involvierten Momente ab,
in der Gleichzeitigkeit folglich - auf einen verführerisch
einfachen Nenner gebracht - von Anfang und Ende.
Die Denkschule
der "Musikalischen Phänomenologie", entwickelt auf
den methodischen Grundlagen der Philosophie Edmund Husserls, hat
Celibidache mittlerweile Tausenden von Schülern nahezubringen
versucht: eine Wissenschaft davon, was dem Musizieren im Wege stehen
kann, eine Wissenschaft vom 'Nein'. Denn das 'Ja' bleibt intellektuellem
Erkennen verschlossen. Was ist dann Musik? "Musik ist nicht
der Klang. Musik ist überhaupt nicht, hat keine Daseinsform.
Ein solches Dasein hat der Klang, dessen Wesen Harmonie ist, dessen
Schönheit uns anzieht. Das Wesen der Musik ist Wahrheit. Aber
wie könnten wir über Musik sprechen? Musik ist nicht etwas,
aber etwas kann unter bestimmten einmaligen Bedingungen Musik werden,
und dieses Etwas ist der Klang."
Als die Resultate von Celibidaches 1979 begonnener Arbeit als Generalmusikdirektor
der Münchner Philharmoniker nirgends auf der Welt mehr übersehen
werden konnten, sich die Tourneen in Europa, Nord- und Südamerika
und Asien, vor allem in Japan, zu wahren Triumphzügen gestalteten,
wurde auch die Haltung der von ihm vielgeschmähten Fachpresse
("Wieso Fach?") davon beeinflußt, und man überhäufte
ihn mit Ehrenbezeugungen und Auszeichnungen. Er war eben, wie er
war... Dafür schossen sich manche umso gezielter auf seine
Schüler ein. Seine für jeden offenen Kurse, die ab den
siebziger Jahren in Deutschland - lange Jahre an der Mainzer Universität,
einer regelrechten "Celibidache-Pilgerstätte - und zuletzt
in Paris stattfanden, sind nicht nur für jene interessant,
die Wesentliches über Musik erfahren wollen: Philosophen, Physiker,
Psychologen, Künstler anderer Sparten - sie alle wollen lernen
von diesem Mann, der kein System vertritt, kein theoretisches Gebäude,
dessen Vorgehensweise nur helfen kann, aus der Zerstörung eingrenzender
Theorien, der Befreiung von im Wege stehenden Gewohnheiten heraus
das freizulegen, was sich jeder Definition entzieht: das spontane
Erleben, das Erfahren des nicht Zeitgebundenen, unzweifelhaft Wahren.
Kein Wunder, daß ironisch-distanzierte Beobachter mit dieser
"Lebensphilosophie" nichts anfangen konnten und die "Celibidache-Gemeinde"
mit Hohn und Spott überzogen. Wie sollten sie begreifen, daß,
wo am Ende nichts Greifbares übrigbleibt, ihr Begriff vom Leben
auf der Strecke blieb?
Christoph Schlüren
(Dieser Artikel, verfaßt unmittelbar vor Celibidaches Tod
im August 1996, erschien anstelle eines Nachrufs im Münchner
Kulturmagazin 'Applaus'.)
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