Das Vermächtnis Sergiu Celibidaches
ist gebrochen. Es bestand unter anderem in seiner unversöhnlichen
Ablehnung der Schallplatte, der Unzulänglichkeiten bei der
Wiedergabe konservierter "Musik". Sein Sohn Serge Celebidachi,
dem die Welt auch den hinreißenden Film "Der Garten des
Sergiu Celibidache" verdankt, arrangierte sich schon bald nach
Celibidaches Ableben mit der Firma EMI, welche inzwischen zwei umfangreichere
Editions-Boxen Celibidaches mit seinem letzten Orchester, den Münchner
Philharmonikern, herausgebracht hat, die weltweit reißenden
Absatz fanden: Eine gemischte Sammlung mit Symphonischem von Haydn
bis Bartók und eine reine Bruckner-Box. Noch bevor die EMI
ihre Münchner Editionsreihe mit sämtlichen Beethoven-
und Brahms-Symphonien im Mai abschließt, hat nun die Deutsche
Grammophon ihrerseits eine Celibidache-Edition begonnen, die ca.
60 CDs umfassen soll. Zum Auftakt erschienen die Symphonien von
Johannes Brahms mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, live
aufgenommen vom Süddeutschen Rundfunk in den siebziger Jahren.
Die Münchner Philharmoniker waren (nur!) unter Celibidache
ein absolutes Spitzenorchester und vermochten nach langjähriger
Arbeit mit ihm Leistungen zu erbringen, hinter denen die Stuttgarter
Ergebnisse bei Beethoven, Brahms oder Bruckner zwangsläufig
zurückbleiben mußten. Nicht so übrigens im französischen
Repertoire, wo die Stuttgarter über mehr Leichtigkeit und Flexibilität
verfügten hier darf man von deren künftigen Veröffentlichungen
einiges erwarten. Die Deutsche Grammophon aber wird mit Celibidache
nicht nur weitere Stuttgarter Aufnahmen auf den Markt werfen, sondern
voraussichtlich auch solche aus Stockholm, Kopenhagen, Paris, Berlin,
Italien und aus der Menge dessen, was die EMI übriggelassen
hat München.
Als Sergiu Celibidache am 14. August 1996 starb, hatten die landauf,
landab hochgehaltenen Ideale der "Interpretation" für
ihn schon seit Jahrzehnten keine Bedeutung mehr, standen vielmehr
ganz lapidar der Realisierung des dem Werk innewohnenden dynamisch-lebendigen
Formprozesses im Wege. Denn an dem "ist nichts zu interpretieren.
Erkenne ich, worauf es ankommt, so habe ich gar keine Wahl, kann
nicht mehr so oder auch anders gehen, sondern nur noch so und nicht
anders. Im musikalischen Geschehen ist nichts statisch, und insofern
ist das folgende Bild unzureichend, ja irreleitend wie jede Vergegenständlichung:
aber wenn Sie durch eine Landschaft gehen, können Sie doch
nicht aus einem Berg ein Tal machen. Der Berg ist da, und wenn der
Weg drübergeht, müssen Sie eben drüber. Was könnte
man daran interpretieren? Die Topographie ist unabwendbar gegeben.
Die Art, wie Sie diesen Weg gehen, hängt natürlich von
Ihnen ab - Sie tun es so, wie Sie es können. Aber jede Landschaft
hat doch ihre einmalige Beschaffenheit, für die anderen wie
für Sie. Also: wie kann ich ein Ritenuto machen, wenn der Satz
ein Accelerando fordert? Und wie kann ich einen Sturm entfachen,
wo Ruhe herrscht? Die Idee der Interpretation, vom 'genialen Interpreten',
von der persönlichen Auslegung ist nur Dokument persönlicher
Armut, von Ignoranz, Anmaßung und Eitelkeit." Der solch
radikale Haltung vertrat, konfrontierte auch mit radikalen Resultaten.
Celibidache hat nie den Erfolg, die Karriere gesucht - etwas kam
auf ihn zu, und er nahm es an und versuchte, das Beste daraus zu
machen.
Sofort nach Berlin kommen!
Sergiu Celibidache wurde am 11. Juli (nach dem damals im Bereich
der Ostkirche gültigen julianischen Kalender am 28. Juni) 1912
im moldawischen Teil Rumäniens, in Roman in der Nähe von
Iasi, geboren. Sein Vater, Offizier und Präfekt des Distrikts,
hatte sich, als er die Überbegabung seines Sohnes sah, in den
Kopf gesetzt, daß dieser einst rumänischer Staatspräsident
würde. Als der junge Sergiu sich stattdessen gänzlich
für die Musik entschied, mußte er sein Zuhause verlassen
und verdiente sich als Pianist in einer Bukarester Tanzschule den
Lebensunterhalt. Da hörte er eines Tages im Radio ein Streichquintett
von dem Komponisten Heinz Tiessen aus Berlin und war so überwältigt,
daß er gleich selbst ein Quintett schrieb und die Partitur
an Tiessen schickte, dessen Antwort umgehend, knapp und eindeutig
lautete: "Sofort nach Berlin kommen!"
1936-45 studierte Celibidache in Berlin Komposition und Dirigieren
(bei Walter Gmeindl) an der Musikhochschule, zudem Musikwissenschaft
(bei Arnold Schering und Georg Schünemann) und Philosophie
(bei Eduard Spranger und Nicolai Hartmann) an der Universität.
Sein wichtigster Lehrer war freilich Heinz Tiessen (1887-1971),
der auch den großen Pianisten und Komponisten Eduard Erdmann
in Komposition unterrichtete. Für Celibidache wurde der strenge
und geistvolle Ostpreuße zum musikalischen Mentor, der seine
Sinne für Form als organisch Zusammenhängendes, tonal
Ausgehörtes schulte. Tiessen selbst gehörte bis in die
frühen dreißiger Jahren zu den führenden Tonsetzern
des deutschen Expressionismus und suchte in undogmatischer Weise
von Richard Strauss ausgehend eine freitonale 'Neue Klassizität'
zu begründen. Während des Nationalsozialismus verstummte
er als Schaffender fast völlig, um nach dem Krieg abseits der
modischen Strömungen umso nachhaltiger vergessen zu werden.
Celibidache sah sich während der Studienzeit primär als
Komponist, jedoch müssen die Auftritte als Dirigent - in kleinem
Rahmen, zum Beispiel mit Bachs Brandenburgischen Konzerten, innerhalb
der Hochschule - von größter Eindringlichkeit gewesen
sein, notierte doch Heinz Tiessen schon im Dezember 1944 als "meine
Lieblingsdirigenten: Celibidache, Furtwängler, früher
Strauss und Nikisch." Ein Anfänger, ein 'Niemand' stand
für diesen Unbestechlichen an erster Stelle, zusammen mit den
ganz großen deutschen Dirigenten!
Nach Kriegsende, im August 1945, schrieb die sowjetische Besatzungsmacht
einen Dirigierwettbewerb am Pult des Berliner Rundfunk-Symphonieorchesters
aus, an dem Celibidache auf Drängen Tiessens teilnahm. In seiner
Aufregung hielt der 33jährige eine "Terror-Probe"
ab, die die Musiker restlos forderte, und der 'Niemand' gewann den
Wettbewerb. Als dann am 23. August Leo Borchard, Stellvertreter
des gesperrten Furtwängler, irrtümlich von einem Besatzungs-Soldaten
erschossen wurde, holten die Berliner Philharmoniker in ihrer Not
Celibidache. Das erste gemeinsame Konzert fand am 29. August statt,
mit Dvoráks Symphonie 'Aus der Neuen Welt', und im Dezember
wurde der Rumäne als "politische Jungfrau" zum 'Lizenzträger'
der Berliner Philharmoniker ernannt. Anfang 1946 wählte ihn
das Orchester zum Chefdirigenten bis zur Rückkehr Wilhelm Furtwänglers.
Die Leistung, die der junge Dirigent aus dem Stand vollbrachte,
ist unermeßlich: neben der künstlerischen und organisatorischen
Verantwortung und der bedingungslosen Unterstützung des angeschlagenen
Furtwängler in dessen 'Entnazifizierungs'-Verfahren waren dies
vor allem 108 Konzerte in der ersten Saison, 128 in der zweiten
- zunächst alles Erstaufführungen für den Unerfahrenen,
darunter tatsächlich eine stattliche Zahl Ur- und deutsche
Erstaufführungen, oft von bis dahin 'Entarteter Musik'. Dieses
Pensum konnte nur mit absoluter Unbeirrbarkeit, Hingabe und Disziplin
bewältigt werden, und Celibidache dürfte sich in jener
Zeit jene 'eiserne Haut' zugelegt haben, die alles, was ihm unwesentlich
oder als falsche Fährte erschien, abprallen ließ und
in ihrer unerbittlichen Härte manch zahmeren Zeitgenossen in
Angst und Schrecken versetzte.
Kometenhaft war sein Aufstieg, von "stupender Kontrolle",
"wilder Besessenheit", "dämonischem Ausdruckstanz"
und "bezwingendem Charisma" berichten begeisterte Zuhörer.
Celibidache selbst hielt später nicht mehr viel von seinem
damaligen Tun: "Natürlich habe ich irgendwie gewußt,
daß Musik nicht nur Intensität und Feuer ist. Und ich
wußte genau, daß alle diese Momente, die dem Menschen
etwas geben, zu transzendieren sind. Ich hab's aber nicht gekonnt.
Bis einmal mein Professor zu mir gekommen ist und gesagt hat: 'Du
bist ein Idiot'."
Musik ist nicht
Aus den vom Kriegsdesaster mitgenommenen Philharmonikern schmiedete
er wieder einen Top-Klangkörper. Celibidaches zentrale Motivation
war, das Orchester baldmöglichst in erstklassigem Zustand an
den gesperrten Furtwängler zu übergeben. Ab Mai 1947 dirigierte
er Seite an Seite mit dem rehabilitierten Furtwängler, dem
er die erste entscheidende phänomenologische Einsicht seines
Lebens verdankte. Da hatte er ihn gefragt, wie schnell es denn an
einem bestimmten Übergang weitergehe, und von Furtwängler
die verständnislose Antwort erhalten: "Je nachdem, wie
es klingt." Der Musiker Furtwängler war überragendes
Leitbild bis hin zur 'Traumatisierung': "Er hat wie kein anderer
die Beziehung von vertikalem Druck und horizontalem Fluß gehört
und realisiert" - Tempo also nicht als etwas Feststehendes,
sondern als eine die Vielfalt der Erscheinungen zusammenschließende
Bedingung, die jedesmal neu und einmalig gegeben ist! Von dieser
Initialentdeckung nahm die "Musikalische Phänomenologie"
- entwickelt auf der Grundlage der philosophischen Methodik Edmund
Husserls - ihren Ausgang, die Celibidache bis zuletzt Tausenden
von Schülern nahezubringen versucht hat: eine Wissenschaft
davon, was dem Musizieren im Wege stehen kann, eine Wissenschaft
vom 'Nein'. Denn das 'Ja' bleibt intellektuellem Erkennen verschlossen.
Was ist Musik? "Musik ist nicht der Klang. Musik ist überhaupt
nicht, hat keine Daseinsform. Ein solches Dasein hat der Klang,
dessen Wesen Harmonie ist, dessen Schönheit uns anzieht. Das
Wesen der Musik ist Wahrheit. Aber wie könnten wir über
Musik sprechen? Musik ist nicht etwas, aber etwas kann unter bestimmten
einmaligen Bedingungen Musik werden, und dieses Etwas ist der Klang."
Was die Gründe dafür waren, daß Furtwängler
seinem Statthalter nicht die gleiche Rückendeckung gab wie
dieser ihm, ist nicht bekannt. Jedoch traf Celibidaches Art, den
Musikern immer uneingeschränkte Hingabe abzufordern, bei vielen
auch auf zunehmenden Widerstand. Während er sich zusehends
andernorts profilierte (in Mittel- und Südamerika, beim Orchestra
della Scala und beim London Philharmonic Orchestra), lebte er sich
mit den Berliner Philharmonikern auseinander. 1952 wurde Furtwängler
als Chefdirigent auf Lebenszeit verpflichtet, und als er 1954 starb,
war der unbequeme Celibidache längst ins Hintertreffen geraten.
Statt den Fanatiker musikalischer Wahrheit zurückzuholen, der
inzwischen auch Schallplattenproduktionen grundsätzlich ablehnte,
entschied man sich für den glänzenden Pragmatiker Herbert
von Karajan. So wurde mit der Traditionslinie Nikisch-Furtwängler
(für die Celibidache einstand) jäh gebrochen, jedoch marktstrategisch
umso effektiver gehandelt - Musik als Ware mit scheinheiligem Heiligenschein.
Am 27. November 1954 erhielt Celibidache das Große Verdienstkreuz
des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, am 29. November
dirigierte er zum letzten Mal - bis zum spektakulären, einmaligen
Comeback im März 1992 - die Philharmoniker, und am 30. November
starb Wilhelm Furtwängler.
Für Celibidache aber war nun nach 414 Konzerten mit den Berliner
Philharmonikern kein Platz mehr in Berlin. Jedoch blieb er Berlin
konsequent verbunden, indem er bis zur deutschen Wiedervereinigung
lediglich über einen Westberliner Paß verfügte und
keine andere Staatsbürgerschaft annahm.
Nahezu unmenschlich hoch angesiedelt
Celibidache ging 27 Jahre lang, von 1952 bis zur Übernahme
der Münchner Philharmoniker 1979, keine feste Bindung mehr
ein und unterschrieb bis 1985 nie einen Vertrag. Dafür verdanken
ihm etliche Orchester Höhenflüge, die vorher und nachher
unerreicht blieben, frei nach der Devise: 'Es gibt keine guten und
schlechten Orchester, es gibt nur gute und schlechte Dirigenten'.
So leitete Celibidache in Italien die vier Orchester der Rundfunkanstalt
Rai (in Milano, Torino, Napoli und Roma) und die Orchester der Mailänder
Scala, der Accademia di Santa Cecilia in Rom, in Bologna und Florenz;
das Symphonieorchester des Schwedischen Rundfunks; in Deutschland
die Symphonieorchester des SDR in Stuttgart, des WDR in Köln,
die Berliner Staatskapelle in Ostberlin, die Bamberger Symphoniker
und die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz; im ungeliebten Wien
Symphoniker und Philharmoniker; das Züricher Tonhalle-Orchester
und das Schweizerische Festspielorchester in Luzern; das Symphonieorchester
des Spanischen Rundfunks und fast alle führenden Orchester
in Süd- und Mittelamerika; in Kopenhagen Anfang der sechziger
Jahre die Königliche Kapelle, Anfang der siebziger das Dänische
Nationale Rundfunk-Symphonieorchester; Mitte der sechziger Jahre
das Finnische Rundfunk-Symphonieorchester; in den siebziger Jahren
das Orchestre National de l'ORTF in Paris, das London Symphony Orchestra,
das NHK-Symphonieorchester in Tokyo, das Staatliche Rumänische
Symphonieorchester in Bukarest usw.
Vor allem die intensive Zusammenarbeit mit dem Schwedischen Rundfunk-Symphonieorchester,
die von 1962 bis 1971 dauerte, und mit dem Symphonieorchester des
Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart, die 1958 zaghaft begann,
um 1970 immer regulärer wurde und 1982 im Schatten der Münchner
Erfolge ausklang, prägte diese Orchester, weckte in den einzelnen
Musikern die Bewußtheit über ihre Funktion im symphonischen
Kontext, forderte nie nachlassende geistige Präsenz und ging
unablässig an die Grenzen der Möglichkeiten aller Mitwirkenden.
"Die Zahl der Proben hängt von der Qualität des Orchesters
ab. Je besser ein Orchester ist, desto mehr Möglichkeiten bietet
mir jeder Einzelne, um etwas zusammenzustellen." Also: Je fähiger
die Ausführenden sind, desto weiter ist der Weg zum Ziel. Das
konnte eigentlich kein Orchester auf die Dauer aushalten. War am
Anfang stets der - durchaus positive - Schock, so war das Ende doch
meist ein Ende mit Schrecken: Eklats, Zerwürfnisse, wütende
Enttäuschung des Dirigenten über allfällige menschliche
Schwächen, charakterliche Unzulänglichkeiten und 'Vertragsbrüchigkeit'
von Intendanten und Agenten zogen den Schlußstrich unter fast
jede heiße musikalische Liaison.
Was für einen eruptiven Eindruck der vulkanische Celibidache
der rastlosen Wanderjahre allerorten hinterließ, davon zeugt
eine Kritik von dem großen, damals 19jährigen Komponisten
Pehr Henrik Nordgren, erschienen am 12. Juni 1964 nach Celibidaches
erstem Auftritt mit einem finnischen Orchester: "Celibidaches
musikalischer Zugang weicht von Bekanntem völlig ab. Er lebt
intensiv in der Musik. Er ist souverän, was seine Schlagtechnik
betrifft. Um etwas hervorzuheben, läßt er sich zu einem
kräftigen Schlagen der Schuhabsätze hinreißen oder
singt laut mit. Das Orchester gerät mit ihm in die gleiche
Ekstase und auch der Zuhörer unterliegt der suggestiven Kraft
und erlebt die Musik besonders stark: für den Verfasser war
Celibidache das bisher größte Musikerlebnis.
Das Radio-Symphonieorchester hat bisher noch nie
so gut gespielt wie in Celibidaches Konzert. Die Erklärung
ist sehr einfach: Celibidache fordert mehr Proben als irgendein
anderer Dirigent. Seine Anforderungen an die Musiker sind nahezu
unmenschlich hoch angesiedelt... Nun haben wir einen klaren Beweis
dafür, daß das Orchester durchaus das Potential besitzt,
ein hohes internationales Niveau zu erreichen... Prokofjews Orchestersuite
aus dem Ballett 'Romeo und Julia', welche gern im Rahmen von Konzerten
aufgrund ihres populären und 'leichten' Inhalts gespielt wird,
formte Celibidache in ein tiefsinniges Drama mit starken Spannungen
um." Und zur zweiten Symphonie von Sibelius: "Celibidache
erwies sich von Anfang bis Ende konsequent hinsichtlich der jugendlich
brodelnden Intentionen des Tonsetzers. Er gab den pathetischen Ausbrüchen
noch einen besonderen Schwung. Auf dem Weg zum Höhepunkt der
Symphonie, dem triumphierenden Finale, baute er eine Steigerung
mit unbeschreiblicher Stärke auf. Celibidaches Persönlichkeit
hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck."
Weggefährten und Taschengarten
Unter den wenigen Solisten, die Celibidache als Partner ohne Einschränkung
schätzte, müssen die Geiger Ida Haendel und Rony Rogoff
und die Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli, Walter Gieseking
und Murray Perahia unbedingt genannt werden. Insbesondere mit Michelangeli,
für Celibidache "der größte Musiker des Jahrhunderts",
verband ihn eine völlige Übereinstimmung jenseits aller
Konventionalität, und Kenner wissen, was es heißt, wenn
Celibidache nicht ohne Stolz sagen konnte, daß Michelangeli
noch nie(!) ein Konzert mit ihm abgesagt hatte. Umso schmerzlicher
traf ihn zuletzt der Tod des für seine Hörer scheinbar
so Unnahbaren mit diesem "im besten Sinne entpersönlichten
Spiel" - damit hatte er den wohl einzigen wirklichen Weggefährten
verloren. Die Komposition einer Trauermusik für seinen verstorbenen
Freund blieb Torso. Eine angemessene Würdigung des Komponisten
Celibidache steht bis auf Weiteres aus. Außer der Orchestersuite
"Le jardin de poche" (Taschengarten), die 1978 in Stuttgart
für Intercord als einzige Plattenaufnahme Celibidaches
nach dem Brahms-Violinkonzert mit Ida Haendel von 1953 eingespielt
wurde, kam nur in München in inoffiziellen Kreisen ein Geburtstagsständchen
aus seiner Feder zu Gehör. Alles andere blieb bis heute unaufgeführt,
auch die Rumänische Suite in 8 Sätzen für großes
Orchester, die lange Zeit zur Aufführung in München vorgesehen
war. Celibidaches Stil ist, abgesehen von der exquisiten und neuartigen
Orchesterbehandlung, von starker Eigenart in der völlig unkonventionellen
Satzweise und Formung aufgrund verborgener Aspekte diatonischen
Zusammenhangs. Extreme Komplexität entsteht auf der Basis äußerster
Einfachheit.
Wollen Sie denselben Nachtzug nehmen?
Celibidache leitete in den achtziger Jahren das Studenten-Symphonieorchester
des Curtis-Institute of Philadelphia und zweimal das Symphonieorchester
der Orchesterakademie Schleswig-Holstein, formte jeweils einen Monat
lang einen Haufen begabter, unerfahrener Individualisten zu einem
orchestralen Ganzen mit unverwechselbarem Gesicht, dessen musikalische
Resultate hinter denen seiner institutionalisierten Orchester nicht
zurückstanden. Überhaupt: Als Lehrer wurde Celibidache
zur legendenumwobenen Gestalt unter den Dirigenten dieses Jahrhunderts,
hatte nach eigener Aussage 6000 Schüler. Kaum einer war darunter,
dessen Entwicklung er letztlich positiv beurteilte an Ausnahmen
seien die Dirigenten Til Köster und Konrad von Abel, der Fagottist
Peter Bastian, der Geiger Rony Rogoff und der Pianist Juan Chuquisengo
genannt. Vielen stand sein maximaler Anspruch von vornherein im
Weg, führte zu destruktiver Selbstkritik oder der Suche nach
leichter begehbaren, karriereträchtigeren Wegen. Die Schüler
der späten Jahre waren weitgehend auf theoretische Unterweisung
und schlagtechnische Kontrollen angewiesen, hatten kaum Gelegenheit,
mit ihm vor dem Orchester zu arbeiten - kein Forum also für
eilige Aufsteiger in einer schnellebigen Zeit... Der Unterricht
bei Celibidache war immer unentgeltlich, und manch mittelloser Student
wurde von ihm jahrelang finanziell unterstützt.
Seine geistige Heimat fand der tiefreligiöse Wahrheitssuchende
in einer konfessions- und konventionslosen Gewißheit, die
er der Erfahrung der buddhistisch-hinduistischen Welt verdankte.
So waren seine Kurse in "Musikalischer Phänomenologie",
die ab den siebziger Jahren in Deutschland zunächst
in Trier, dann lange Jahre an der Mainzer Universität (einer
regelrechten "Celibidache-Pilgerstätte") und zuletzt
in München und Paris stattfanden, nicht nur für
jene interessant, die mehr Wesentliches über Musik erfahren
wollen: Philosophen, Physiker, Ärzte, Psychologen, Künstler
anderer Sparten - sie alle wollten lernen von diesem Mann, der kein
System vertrat, kein theoretisches Gebäude, dessen Vorgehensweise
nur helfen konnte, aus der Zerstörung falscher Theorien, der
Befreiung von im Wege stehenden Gewohnheiten heraus das freizulegen,
was sich jeder Definition entzieht: das spontane Erleben, das Erfahren
des nicht Zeitgebundenen, unzweifelhaft Wahren.
Kein Wunder, daß ironisch-distanzierte Beobachter mit dieser
"Lebensphilosophie" nichts anfangen konnten und die "Celibidache-Gemeinde"
mit Hohn und Spott überzogen. Wie sollten sie begreifen, daß,
wo am Ende nichts Greifbares übrigbleibt, ihr Begriff vom Leben
auf der Strecke blieb? Oder, in Celibidaches Worten (in einem Interview,
das 1976 in der Zeitschrift 'Das Orchester' erschien): "Bevor
ich einsteige, möchte ich gerne wissen, ob Sie, meine mir nahestehenden
Menschen, von Liebhabern bis Musikwissenschaftlern, denselben Nachtzug
nehmen wollen und ob Sie die gleiche dynamische Auffassung von Musik
wie ich auf diese Reise mitnehmen; denn das Neubeleuchten der alten
Landschaft und die Verdunkelung der neuen Kunststoffwälder
hängen zum Teil davon ab."
Erfüllung eines Künstlerlebens
Am 14. Februar 1979 dirigierte Celibidache mit Bartóks 'Konzert
für Orchester' zum ersten Mal die Münchner Philharmoniker,
nach dem Ableben des Chefdirigenten Rudolf Kempe ein verwaister
städtischer Klangkörper, der gefährlich an Profil
verloren hatte. Im Juni 1979 nahm er die erste feste Stellung seit
seiner Berliner Zeit an, wurde Generalmusikdirektor der Stadt München
und Chefdirigent der Münchner Philharmoniker mit dem erklärten
Ziel, das Orchester von der regionalen Stellung emporzuführen
zur Klasse eines 'Weltorchesters'. Seine andernorts 'unerfüllbaren'
Bedingungen wurden erfüllt: meistens mehr als eine Woche Probenzeit
für ein Programm (auch bei Standardwerken), keine gleichzeitige
Einstudierung anderer Projekte, keinerlei Studioarbeit oder Schallplatteneinspielungen
usw. Einige Krisen, deren schwerste 1984 zur vorübergehenden
Demission führte, konnten die angekündigte Entwicklung
zum 'Weltorchester' nicht verhindern, die sich auch in äußeren
Erfolgen niederschlug: Tourneeeinladungen aus aller Welt prasselten
herein, man wünschte gar Bruckner-Aufführungen in Südamerika
und ganze Bruckner-Zyklen in Japan; die Zahl der Münchner Abonnenten
stieg auf mehr als das Doppelte an, die Generalproben vor den -
immerzu - ausverkauften Konzerten waren oft hoffnungslos überfüllt;
das Orchester wurde auf die höchste deutsche Besoldungsstufe
gestellt. Vor allem die Japan-Tourneen wurden unvergleichliche Triumphzüge
(Celibidache: "Die Japaner sind das beste, konzentrierteste
Publikum der Welt."). Die Münchner Philharmoniker wurden
unter ihm zum weltweit führenden Bruckner-Orchester mit der
einmalig weichen, runden Klangfülle ihrer Blechbläser,
der Fähigkeit des ganzen Orchesters, aufeinander zu hören
und Transparenz auch bei maximaler Intensität zu bewahren,
immer wach den Gesetzen der symphonischen Kontinuität zu folgen.
Zugleich aber hat Celibidache die Fachwelt extrem polarisiert wie
alle überragenden Künstlerpersönlichkeiten zu allen
Zeiten. Viele nahmen ihm die radikale Polemik gegenüber den
von ihm als solche nicht akzeptablen 'Kollegen' übel ("Gilbert
Bécaud vermittelt Empfindungen und auch Karl Böhm, wenngleich
auch weniger feine"), erst recht die völlige Verachtung
der Inkompetenz der Fachpresse ("Wieso 'Fach'? Wenn jeder das
tun würde, was er wirklich kann, gäbe es keine Probleme.").
Das Ende im Anfang erleben
Die überbordende Impulsivität der früheren Jahre
hatte Celibidache im hohen Alter zu unauslöschlichem inneren
Feuer gebündelt. Bei seinem Musizieren koexistierten vollkommene
Passivität und höchste Aktivität. Die vereinzelnde
Dynamik der momentanen Empfindung erlangte nie die Oberhand, sein
Bewußtsein blieb immer auf die Verwirklichung der Gesamtform
als lebendiges Ganzes gerichtet, innerhalb dessen jeder Moment seine
unerläßliche Funktion hat. Je komplexer dabei die Gesamtform
ist, desto determinierter ist der einzelne Moment in seiner Ausführung
- das gilt für Bruckner wie für Webern und stößt
bei Letzterem auf eine empfindliche Grenze der Ausführbarkeit,
denn die miniaturistische Ausformung der hochkomplizierten tonalen
Beziehungen fordert eine höchst differenzierte Realisierung
auf kleinstem Raum ein. Eine Woche Proben für einige Minuten
Webernscher Orchestermusiken: Das wollte auch ein Celibidache seinen
musikalischen Fahrgesellen nicht zumuten.
Bei diesem bezüglich des Gesamterlebnisses funktionalen Zugang
zu jeder einzelnen klanglichen Situation ist es klar, daß
zunächst beim Studium kein Unterschied gegeben ist, ob es sich
nun um ein Werk von Frescobaldi, Mozart, Tschaikowskij oder um die
bevorstehende Uraufführung eines neuen Werkes handelt. Der
Unterschied entsteht erst mit dem Erleben der Beziehungen zwischen
den angeeigneten Faktoren, und da soll der Studierende vollkommen
in der Erlebniswelt des Komponisten in absichtsloser Hingabe aufgehen.
Es soll nichts mehr zwischen dem Menschen und seiner Tätigkeit
sein, der Musiker ist gleich einem Chamäleon in einer musikalischen
Landschaft. So klangen Bach, Mozart, Beethoven, Bruckner, Debussy,
Sibelius oder Strawinskij nirgends spezifischer als unter Celibidaches
Stabführung. Aus dem ganzheitlichen Zugang heraus versteht
es sich von selbst, daß der Studierende die Partitur allmählich
in sich zum Leben erweckt und nicht über den äußeren
Höreindruck, am Klavier oder gar mit einer Aufnahme, sich aneignet.
Und wenn er dirigiert, benötigt er von der ersten Probe an
keine Partitur, wenn er die Details nicht mehr als Gedächtnisleistung
abzurufen braucht, sondern aus ihrer Sinnfälligkeit im Gesamtzusammenhang
heraus erlebt. Kein Wunder also, wenn Celibidache vor einer Uraufführung
stets schon zur ersten Probe ohne Partitur kam, und wenn der Komponist
hinterher bekannte, er habe gar nicht gewußt, "daß
ein solcher Reichtum in meiner Partitur steckt".
Erste und letzte Aufgabe des Dirigenten ist, so Celibidache, "Einheit
zu schaffen in jeder Beziehung". Konsequenterweise bedeutet
das, daß es keinen Unterschied zwischen dem Anfang und dem
Ende eines Stücks gibt. Es kehrt dorthin zurück, wo es
herkam - zur ursprünglichen Ruhe: "Ich entferne mich -
und komme näher." Für den Musizierenden reißt
in keinem Moment die Gebundenheit an Anfang und Ende ab, wobei im
Verlauf die Zugkräfte von unterschiedlicher Intensität
sind. So ist zunächst alles auf den Höhepunkt zu gerichtet,
und nach Erreichen dieses maximal gespannten Moments, der zugleich
Wendepunkt des Geschehens ist, auf das Ende zu, also folglich zurück
zum Anfang. Freilich besteht niemals eine der Tendenzen in sich,
jeder extrovertierte Schritt impliziert seine introvertierte Ergänzung
und umgekehrt. Der ganze Prozeß, der in der Zeit stattfindet,
ist seinem Wesen nach außerzeitlich, spielt sich in der Gleichzeitigkeit
aller involvierten Momente ab, in der Gleichzeitigkeit von Anfang
und Ende. Mozart sprach von jenem "alles auf einmal hören".
Im Falle des Gelingens fallen Anfang und Ende zusammen, wobei es
weder einen Anfang noch ein Ende gibt als für sich bestehende
Punkte. Von dieser Warte aus ist zu verstehen, daß für
Celibidache Bruckner der begabteste Symphoniker war: Keiner sonst
war in der Lage, unter Aufbietung solch extremer Kontraste die Form
noch zu beherrschen, das "Ende im Anfang" zu erleben.
Die Münchner Philharmoniker waren das letzte Orchester, das
unter Sergiu Celibidaches Leitung aufbrach, um solches Erleben allen
unvoreingenommenen Hörern zu ermöglichen. Und "ganz
selten ist uns das auch gelungen".
Heute werden an verschiedenen Orten mehr oder weniger ambitionierte
Versuche unternommen, Celibidaches musikalisches Vermächtnis
zu pflegen. Dazu ist die in Venedig ansässige "Scuola
di Rony Rogoff" (deren herrlicher Live-Zyklus mit Brahms-Kammermusik
soeben bei Mondo musica erschienen ist) ebenso zu zählen wie
die von Celibidaches Assistent Konrad von Abel in Frankreich gegründete
"Association des musiciens pour la perénnité
de lhéritage musical de Sergiu Celibidache". Am
dritten Todestag Celibidaches, dem 14. August dieses Jahres, soll
zudem die Celibidache-Stiftung mit Sitz in München gegründet
werden, deren finanzieller Grundstock sich aus den CD-Tantiemen
rekrutiert. Die Stiftung wird mit der Umsetzung zweier Hauptanliegen
betraut sein: mit Dokumentation und Lehre. Natürlich erhebt
sich die Frage, ob es sinnvoll sein kann, den Anspruch auf die Bewahrung
des musikalischen Erbes eines großen Verstorbenen zu erheben:
Lehre aus zweiter Hand? Das ist eine äußerst heikle Zielsetzung,
die ebenso frei von sektiererischer Einengung wie von ideeller Verwässerung
betrieben werden muß. Von holdem Weihrauch umflorte Dogmen
könnten vitale, weiterentwickelnde Ansätze ersticken.
Aber es gibt sie, die "Erben Celibidaches": Man höre
nur das Danish Wind Quintet um Peter Bastian, das niemals einen
solchen Anspruch geltend machen würde, ihn aber nach 30jährigem
Bestehen in unveränderter Besetzung umso bezwingend spielerischer
einlöst. Musizieren ist Leben, nicht verharrendes Gedenken.
Auch dafür stand geradezu symbolisch in der positiven,
nachhaltig aus dem Augenblick schöpfenden Überwindung
aller Tradition Sergiu Celibidache.
Christoph Schlüren
(veröffentlicht in Music Manual, 1999)
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