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Wir treffen uns, wo Anfang
und Ende zusammenfallen

Portrait Sergiu Celibidache, Ein Berg ist kein Tal

Das Vermächtnis Sergiu Celibidaches ist gebrochen. Es bestand unter anderem in seiner unversöhnlichen Ablehnung der Schallplatte, der Unzulänglichkeiten bei der Wiedergabe konservierter "Musik". Sein Sohn Serge Celebidachi, dem die Welt auch den hinreißenden Film "Der Garten des Sergiu Celibidache" verdankt, arrangierte sich schon bald nach Celibidaches Ableben mit der Firma EMI, welche inzwischen zwei umfangreichere Editions-Boxen Celibidaches mit seinem letzten Orchester, den Münchner Philharmonikern, herausgebracht hat, die weltweit reißenden Absatz fanden: Eine gemischte Sammlung mit Symphonischem von Haydn bis Bartók und eine reine Bruckner-Box. Noch bevor die EMI ihre Münchner Editionsreihe mit sämtlichen Beethoven- und Brahms-Symphonien im Mai abschließt, hat nun die Deutsche Grammophon ihrerseits eine Celibidache-Edition begonnen, die ca. 60 CDs umfassen soll. Zum Auftakt erschienen die Symphonien von Johannes Brahms mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, live aufgenommen vom Süddeutschen Rundfunk in den siebziger Jahren. Die Münchner Philharmoniker waren (nur!) unter Celibidache ein absolutes Spitzenorchester und vermochten nach langjähriger Arbeit mit ihm Leistungen zu erbringen, hinter denen die Stuttgarter Ergebnisse bei Beethoven, Brahms oder Bruckner zwangsläufig zurückbleiben mußten. Nicht so übrigens im französischen Repertoire, wo die Stuttgarter über mehr Leichtigkeit und Flexibilität verfügten – hier darf man von deren künftigen Veröffentlichungen einiges erwarten. Die Deutsche Grammophon aber wird mit Celibidache nicht nur weitere Stuttgarter Aufnahmen auf den Markt werfen, sondern voraussichtlich auch solche aus Stockholm, Kopenhagen, Paris, Berlin, Italien und – aus der Menge dessen, was die EMI übriggelassen hat – München.
Als Sergiu Celibidache am 14. August 1996 starb, hatten die landauf, landab hochgehaltenen Ideale der "Interpretation" für ihn schon seit Jahrzehnten keine Bedeutung mehr, standen vielmehr ganz lapidar der Realisierung des dem Werk innewohnenden dynamisch-lebendigen Formprozesses im Wege. Denn an dem "ist nichts zu interpretieren. Erkenne ich, worauf es ankommt, so habe ich gar keine Wahl, kann nicht mehr so oder auch anders gehen, sondern nur noch so und nicht anders. Im musikalischen Geschehen ist nichts statisch, und insofern ist das folgende Bild unzureichend, ja irreleitend wie jede Vergegenständlichung: aber wenn Sie durch eine Landschaft gehen, können Sie doch nicht aus einem Berg ein Tal machen. Der Berg ist da, und wenn der Weg drübergeht, müssen Sie eben drüber. Was könnte man daran interpretieren? Die Topographie ist unabwendbar gegeben. Die Art, wie Sie diesen Weg gehen, hängt natürlich von Ihnen ab - Sie tun es so, wie Sie es können. Aber jede Landschaft hat doch ihre einmalige Beschaffenheit, für die anderen wie für Sie. Also: wie kann ich ein Ritenuto machen, wenn der Satz ein Accelerando fordert? Und wie kann ich einen Sturm entfachen, wo Ruhe herrscht? Die Idee der Interpretation, vom 'genialen Interpreten', von der persönlichen Auslegung ist nur Dokument persönlicher Armut, von Ignoranz, Anmaßung und Eitelkeit." Der solch radikale Haltung vertrat, konfrontierte auch mit radikalen Resultaten. Celibidache hat nie den Erfolg, die Karriere gesucht - etwas kam auf ihn zu, und er nahm es an und versuchte, das Beste daraus zu machen.
 
Sofort nach Berlin kommen!
 
Sergiu Celibidache wurde am 11. Juli (nach dem damals im Bereich der Ostkirche gültigen julianischen Kalender am 28. Juni) 1912 im moldawischen Teil Rumäniens, in Roman in der Nähe von Iasi, geboren. Sein Vater, Offizier und Präfekt des Distrikts, hatte sich, als er die Überbegabung seines Sohnes sah, in den Kopf gesetzt, daß dieser einst rumänischer Staatspräsident würde. Als der junge Sergiu sich stattdessen gänzlich für die Musik entschied, mußte er sein Zuhause verlassen und verdiente sich als Pianist in einer Bukarester Tanzschule den Lebensunterhalt. Da hörte er eines Tages im Radio ein Streichquintett von dem Komponisten Heinz Tiessen aus Berlin und war so überwältigt, daß er gleich selbst ein Quintett schrieb und die Partitur an Tiessen schickte, dessen Antwort umgehend, knapp und eindeutig lautete: "Sofort nach Berlin kommen!"
1936-45 studierte Celibidache in Berlin Komposition und Dirigieren (bei Walter Gmeindl) an der Musikhochschule, zudem Musikwissenschaft (bei Arnold Schering und Georg Schünemann) und Philosophie (bei Eduard Spranger und Nicolai Hartmann) an der Universität. Sein wichtigster Lehrer war freilich Heinz Tiessen (1887-1971), der auch den großen Pianisten und Komponisten Eduard Erdmann in Komposition unterrichtete. Für Celibidache wurde der strenge und geistvolle Ostpreuße zum musikalischen Mentor, der seine Sinne für Form als organisch Zusammenhängendes, tonal Ausgehörtes schulte. Tiessen selbst gehörte bis in die frühen dreißiger Jahren zu den führenden Tonsetzern des deutschen Expressionismus und suchte in undogmatischer Weise von Richard Strauss ausgehend eine freitonale 'Neue Klassizität' zu begründen. Während des Nationalsozialismus verstummte er als Schaffender fast völlig, um nach dem Krieg abseits der modischen Strömungen umso nachhaltiger vergessen zu werden.
Celibidache sah sich während der Studienzeit primär als Komponist, jedoch müssen die Auftritte als Dirigent - in kleinem Rahmen, zum Beispiel mit Bachs Brandenburgischen Konzerten, innerhalb der Hochschule - von größter Eindringlichkeit gewesen sein, notierte doch Heinz Tiessen schon im Dezember 1944 als "meine Lieblingsdirigenten: Celibidache, Furtwängler, früher Strauss und Nikisch." Ein Anfänger, ein 'Niemand' stand für diesen Unbestechlichen an erster Stelle, zusammen mit den ganz großen deutschen Dirigenten!
Nach Kriegsende, im August 1945, schrieb die sowjetische Besatzungsmacht einen Dirigierwettbewerb am Pult des Berliner Rundfunk-Symphonieorchesters aus, an dem Celibidache auf Drängen Tiessens teilnahm. In seiner Aufregung hielt der 33jährige eine "Terror-Probe" ab, die die Musiker restlos forderte, und der 'Niemand' gewann den Wettbewerb. Als dann am 23. August Leo Borchard, Stellvertreter des gesperrten Furtwängler, irrtümlich von einem Besatzungs-Soldaten erschossen wurde, holten die Berliner Philharmoniker in ihrer Not Celibidache. Das erste gemeinsame Konzert fand am 29. August statt, mit Dvoráks Symphonie 'Aus der Neuen Welt', und im Dezember wurde der Rumäne als "politische Jungfrau" zum 'Lizenzträger' der Berliner Philharmoniker ernannt. Anfang 1946 wählte ihn das Orchester zum Chefdirigenten bis zur Rückkehr Wilhelm Furtwänglers. Die Leistung, die der junge Dirigent aus dem Stand vollbrachte, ist unermeßlich: neben der künstlerischen und organisatorischen Verantwortung und der bedingungslosen Unterstützung des angeschlagenen Furtwängler in dessen 'Entnazifizierungs'-Verfahren waren dies vor allem 108 Konzerte in der ersten Saison, 128 in der zweiten - zunächst alles Erstaufführungen für den Unerfahrenen, darunter tatsächlich eine stattliche Zahl Ur- und deutsche Erstaufführungen, oft von bis dahin 'Entarteter Musik'. Dieses Pensum konnte nur mit absoluter Unbeirrbarkeit, Hingabe und Disziplin bewältigt werden, und Celibidache dürfte sich in jener Zeit jene 'eiserne Haut' zugelegt haben, die alles, was ihm unwesentlich oder als falsche Fährte erschien, abprallen ließ und in ihrer unerbittlichen Härte manch zahmeren Zeitgenossen in Angst und Schrecken versetzte.
Kometenhaft war sein Aufstieg, von "stupender Kontrolle", "wilder Besessenheit", "dämonischem Ausdruckstanz" und "bezwingendem Charisma" berichten begeisterte Zuhörer. Celibidache selbst hielt später nicht mehr viel von seinem damaligen Tun: "Natürlich habe ich irgendwie gewußt, daß Musik nicht nur Intensität und Feuer ist. Und ich wußte genau, daß alle diese Momente, die dem Menschen etwas geben, zu transzendieren sind. Ich hab's aber nicht gekonnt. Bis einmal mein Professor zu mir gekommen ist und gesagt hat: 'Du bist ein Idiot'."
 
Musik ist nicht
 
Aus den vom Kriegsdesaster mitgenommenen Philharmonikern schmiedete er wieder einen Top-Klangkörper. Celibidaches zentrale Motivation war, das Orchester baldmöglichst in erstklassigem Zustand an den gesperrten Furtwängler zu übergeben. Ab Mai 1947 dirigierte er Seite an Seite mit dem rehabilitierten Furtwängler, dem er die erste entscheidende phänomenologische Einsicht seines Lebens verdankte. Da hatte er ihn gefragt, wie schnell es denn an einem bestimmten Übergang weitergehe, und von Furtwängler die verständnislose Antwort erhalten: "Je nachdem, wie es klingt." Der Musiker Furtwängler war überragendes Leitbild bis hin zur 'Traumatisierung': "Er hat wie kein anderer die Beziehung von vertikalem Druck und horizontalem Fluß gehört und realisiert" - Tempo also nicht als etwas Feststehendes, sondern als eine die Vielfalt der Erscheinungen zusammenschließende Bedingung, die jedesmal neu und einmalig gegeben ist! Von dieser Initialentdeckung nahm die "Musikalische Phänomenologie" - entwickelt auf der Grundlage der philosophischen Methodik Edmund Husserls - ihren Ausgang, die Celibidache bis zuletzt Tausenden von Schülern nahezubringen versucht hat: eine Wissenschaft davon, was dem Musizieren im Wege stehen kann, eine Wissenschaft vom 'Nein'. Denn das 'Ja' bleibt intellektuellem Erkennen verschlossen. Was ist Musik? "Musik ist nicht der Klang. Musik ist überhaupt nicht, hat keine Daseinsform. Ein solches Dasein hat der Klang, dessen Wesen Harmonie ist, dessen Schönheit uns anzieht. Das Wesen der Musik ist Wahrheit. Aber wie könnten wir über Musik sprechen? Musik ist nicht etwas, aber etwas kann unter bestimmten einmaligen Bedingungen Musik werden, und dieses Etwas ist der Klang."
Was die Gründe dafür waren, daß Furtwängler seinem Statthalter nicht die gleiche Rückendeckung gab wie dieser ihm, ist nicht bekannt. Jedoch traf Celibidaches Art, den Musikern immer uneingeschränkte Hingabe abzufordern, bei vielen auch auf zunehmenden Widerstand. Während er sich zusehends andernorts profilierte (in Mittel- und Südamerika, beim Orchestra della Scala und beim London Philharmonic Orchestra), lebte er sich mit den Berliner Philharmonikern auseinander. 1952 wurde Furtwängler als Chefdirigent auf Lebenszeit verpflichtet, und als er 1954 starb, war der unbequeme Celibidache längst ins Hintertreffen geraten. Statt den Fanatiker musikalischer Wahrheit zurückzuholen, der inzwischen auch Schallplattenproduktionen grundsätzlich ablehnte, entschied man sich für den glänzenden Pragmatiker Herbert von Karajan. So wurde mit der Traditionslinie Nikisch-Furtwängler (für die Celibidache einstand) jäh gebrochen, jedoch marktstrategisch umso effektiver gehandelt - Musik als Ware mit scheinheiligem Heiligenschein. Am 27. November 1954 erhielt Celibidache das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, am 29. November dirigierte er zum letzten Mal - bis zum spektakulären, einmaligen Comeback im März 1992 - die Philharmoniker, und am 30. November starb Wilhelm Furtwängler.
Für Celibidache aber war nun nach 414 Konzerten mit den Berliner Philharmonikern kein Platz mehr in Berlin. Jedoch blieb er Berlin konsequent verbunden, indem er bis zur deutschen Wiedervereinigung lediglich über einen Westberliner Paß verfügte und keine andere Staatsbürgerschaft annahm.
 
Nahezu unmenschlich hoch angesiedelt
 
Celibidache ging 27 Jahre lang, von 1952 bis zur Übernahme der Münchner Philharmoniker 1979, keine feste Bindung mehr ein und unterschrieb bis 1985 nie einen Vertrag. Dafür verdanken ihm etliche Orchester Höhenflüge, die vorher und nachher unerreicht blieben, frei nach der Devise: 'Es gibt keine guten und schlechten Orchester, es gibt nur gute und schlechte Dirigenten'. So leitete Celibidache in Italien die vier Orchester der Rundfunkanstalt Rai (in Milano, Torino, Napoli und Roma) und die Orchester der Mailänder Scala, der Accademia di Santa Cecilia in Rom, in Bologna und Florenz; das Symphonieorchester des Schwedischen Rundfunks; in Deutschland die Symphonieorchester des SDR in Stuttgart, des WDR in Köln, die Berliner Staatskapelle in Ostberlin, die Bamberger Symphoniker und die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz; im ungeliebten Wien Symphoniker und Philharmoniker; das Züricher Tonhalle-Orchester und das Schweizerische Festspielorchester in Luzern; das Symphonieorchester des Spanischen Rundfunks und fast alle führenden Orchester in Süd- und Mittelamerika; in Kopenhagen Anfang der sechziger Jahre die Königliche Kapelle, Anfang der siebziger das Dänische Nationale Rundfunk-Symphonieorchester; Mitte der sechziger Jahre das Finnische Rundfunk-Symphonieorchester; in den siebziger Jahren das Orchestre National de l'ORTF in Paris, das London Symphony Orchestra, das NHK-Symphonieorchester in Tokyo, das Staatliche Rumänische Symphonieorchester in Bukarest usw.
Vor allem die intensive Zusammenarbeit mit dem Schwedischen Rundfunk-Symphonieorchester, die von 1962 bis 1971 dauerte, und mit dem Symphonieorchester des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart, die 1958 zaghaft begann, um 1970 immer regulärer wurde und 1982 im Schatten der Münchner Erfolge ausklang, prägte diese Orchester, weckte in den einzelnen Musikern die Bewußtheit über ihre Funktion im symphonischen Kontext, forderte nie nachlassende geistige Präsenz und ging unablässig an die Grenzen der Möglichkeiten aller Mitwirkenden. "Die Zahl der Proben hängt von der Qualität des Orchesters ab. Je besser ein Orchester ist, desto mehr Möglichkeiten bietet mir jeder Einzelne, um etwas zusammenzustellen." Also: Je fähiger die Ausführenden sind, desto weiter ist der Weg zum Ziel. Das konnte eigentlich kein Orchester auf die Dauer aushalten. War am Anfang stets der - durchaus positive - Schock, so war das Ende doch meist ein Ende mit Schrecken: Eklats, Zerwürfnisse, wütende Enttäuschung des Dirigenten über allfällige menschliche Schwächen, charakterliche Unzulänglichkeiten und 'Vertragsbrüchigkeit' von Intendanten und Agenten zogen den Schlußstrich unter fast jede heiße musikalische Liaison.
Was für einen eruptiven Eindruck der vulkanische Celibidache der rastlosen Wanderjahre allerorten hinterließ, davon zeugt eine Kritik von dem großen, damals 19jährigen Komponisten Pehr Henrik Nordgren, erschienen am 12. Juni 1964 nach Celibidaches erstem Auftritt mit einem finnischen Orchester: "Celibidaches musikalischer Zugang weicht von Bekanntem völlig ab. Er lebt intensiv in der Musik. Er ist souverän, was seine Schlagtechnik betrifft. Um etwas hervorzuheben, läßt er sich zu einem kräftigen Schlagen der Schuhabsätze hinreißen oder singt laut mit. Das Orchester gerät mit ihm in die gleiche Ekstase und auch der Zuhörer unterliegt der suggestiven Kraft und erlebt die Musik besonders stark: für den Verfasser war Celibidache das bisher größte Musikerlebnis.

Das Radio-Symphonieorchester hat bisher noch nie so gut gespielt wie in Celibidaches Konzert. Die Erklärung ist sehr einfach: Celibidache fordert mehr Proben als irgendein anderer Dirigent. Seine Anforderungen an die Musiker sind nahezu unmenschlich hoch angesiedelt... Nun haben wir einen klaren Beweis dafür, daß das Orchester durchaus das Potential besitzt, ein hohes internationales Niveau zu erreichen... Prokofjews Orchestersuite aus dem Ballett 'Romeo und Julia', welche gern im Rahmen von Konzerten aufgrund ihres populären und 'leichten' Inhalts gespielt wird, formte Celibidache in ein tiefsinniges Drama mit starken Spannungen um." Und zur zweiten Symphonie von Sibelius: "Celibidache erwies sich von Anfang bis Ende konsequent hinsichtlich der jugendlich brodelnden Intentionen des Tonsetzers. Er gab den pathetischen Ausbrüchen noch einen besonderen Schwung. Auf dem Weg zum Höhepunkt der Symphonie, dem triumphierenden Finale, baute er eine Steigerung mit unbeschreiblicher Stärke auf. Celibidaches Persönlichkeit hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck."
 
Weggefährten und Taschengarten
 
Unter den wenigen Solisten, die Celibidache als Partner ohne Einschränkung schätzte, müssen die Geiger Ida Haendel und Rony Rogoff und die Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli, Walter Gieseking und Murray Perahia unbedingt genannt werden. Insbesondere mit Michelangeli, für Celibidache "der größte Musiker des Jahrhunderts", verband ihn eine völlige Übereinstimmung jenseits aller Konventionalität, und Kenner wissen, was es heißt, wenn Celibidache nicht ohne Stolz sagen konnte, daß Michelangeli noch nie(!) ein Konzert mit ihm abgesagt hatte. Umso schmerzlicher traf ihn zuletzt der Tod des für seine Hörer scheinbar so Unnahbaren mit diesem "im besten Sinne entpersönlichten Spiel" - damit hatte er den wohl einzigen wirklichen Weggefährten verloren. Die Komposition einer Trauermusik für seinen verstorbenen Freund blieb Torso. Eine angemessene Würdigung des Komponisten Celibidache steht bis auf Weiteres aus. Außer der Orchestersuite "Le jardin de poche" (Taschengarten), die 1978 in Stuttgart für Intercord – als einzige Plattenaufnahme Celibidaches nach dem Brahms-Violinkonzert mit Ida Haendel von 1953 – eingespielt wurde, kam nur in München in inoffiziellen Kreisen ein Geburtstagsständchen aus seiner Feder zu Gehör. Alles andere blieb bis heute unaufgeführt, auch die Rumänische Suite in 8 Sätzen für großes Orchester, die lange Zeit zur Aufführung in München vorgesehen war. Celibidaches Stil ist, abgesehen von der exquisiten und neuartigen Orchesterbehandlung, von starker Eigenart in der völlig unkonventionellen Satzweise und Formung aufgrund verborgener Aspekte diatonischen Zusammenhangs. Extreme Komplexität entsteht auf der Basis äußerster Einfachheit.
 
Wollen Sie denselben Nachtzug nehmen?
 
Celibidache leitete in den achtziger Jahren das Studenten-Symphonieorchester des Curtis-Institute of Philadelphia und zweimal das Symphonieorchester der Orchesterakademie Schleswig-Holstein, formte jeweils einen Monat lang einen Haufen begabter, unerfahrener Individualisten zu einem orchestralen Ganzen mit unverwechselbarem Gesicht, dessen musikalische Resultate hinter denen seiner institutionalisierten Orchester nicht zurückstanden. Überhaupt: Als Lehrer wurde Celibidache zur legendenumwobenen Gestalt unter den Dirigenten dieses Jahrhunderts, hatte nach eigener Aussage 6000 Schüler. Kaum einer war darunter, dessen Entwicklung er letztlich positiv beurteilte – an Ausnahmen seien die Dirigenten Til Köster und Konrad von Abel, der Fagottist Peter Bastian, der Geiger Rony Rogoff und der Pianist Juan Chuquisengo genannt. Vielen stand sein maximaler Anspruch von vornherein im Weg, führte zu destruktiver Selbstkritik oder der Suche nach leichter begehbaren, karriereträchtigeren Wegen. Die Schüler der späten Jahre waren weitgehend auf theoretische Unterweisung und schlagtechnische Kontrollen angewiesen, hatten kaum Gelegenheit, mit ihm vor dem Orchester zu arbeiten - kein Forum also für eilige Aufsteiger in einer schnellebigen Zeit... Der Unterricht bei Celibidache war immer unentgeltlich, und manch mittelloser Student wurde von ihm jahrelang finanziell unterstützt.
Seine geistige Heimat fand der tiefreligiöse Wahrheitssuchende in einer konfessions- und konventionslosen Gewißheit, die er der Erfahrung der buddhistisch-hinduistischen Welt verdankte. So waren seine Kurse in "Musikalischer Phänomenologie", die ab den siebziger Jahren in Deutschland – zunächst in Trier, dann lange Jahre an der Mainzer Universität (einer regelrechten "Celibidache-Pilgerstätte") und zuletzt in München und Paris – stattfanden, nicht nur für jene interessant, die mehr Wesentliches über Musik erfahren wollen: Philosophen, Physiker, Ärzte, Psychologen, Künstler anderer Sparten - sie alle wollten lernen von diesem Mann, der kein System vertrat, kein theoretisches Gebäude, dessen Vorgehensweise nur helfen konnte, aus der Zerstörung falscher Theorien, der Befreiung von im Wege stehenden Gewohnheiten heraus das freizulegen, was sich jeder Definition entzieht: das spontane Erleben, das Erfahren des nicht Zeitgebundenen, unzweifelhaft Wahren.
Kein Wunder, daß ironisch-distanzierte Beobachter mit dieser "Lebensphilosophie" nichts anfangen konnten und die "Celibidache-Gemeinde" mit Hohn und Spott überzogen. Wie sollten sie begreifen, daß, wo am Ende nichts Greifbares übrigbleibt, ihr Begriff vom Leben auf der Strecke blieb? Oder, in Celibidaches Worten (in einem Interview, das 1976 in der Zeitschrift 'Das Orchester' erschien): "Bevor ich einsteige, möchte ich gerne wissen, ob Sie, meine mir nahestehenden Menschen, von Liebhabern bis Musikwissenschaftlern, denselben Nachtzug nehmen wollen und ob Sie die gleiche dynamische Auffassung von Musik wie ich auf diese Reise mitnehmen; denn das Neubeleuchten der alten Landschaft und die Verdunkelung der neuen Kunststoffwälder hängen zum Teil davon ab."
 
Erfüllung eines Künstlerlebens
 
Am 14. Februar 1979 dirigierte Celibidache mit Bartóks 'Konzert für Orchester' zum ersten Mal die Münchner Philharmoniker, nach dem Ableben des Chefdirigenten Rudolf Kempe ein verwaister städtischer Klangkörper, der gefährlich an Profil verloren hatte. Im Juni 1979 nahm er die erste feste Stellung seit seiner Berliner Zeit an, wurde Generalmusikdirektor der Stadt München und Chefdirigent der Münchner Philharmoniker mit dem erklärten Ziel, das Orchester von der regionalen Stellung emporzuführen zur Klasse eines 'Weltorchesters'. Seine andernorts 'unerfüllbaren' Bedingungen wurden erfüllt: meistens mehr als eine Woche Probenzeit für ein Programm (auch bei Standardwerken), keine gleichzeitige Einstudierung anderer Projekte, keinerlei Studioarbeit oder Schallplatteneinspielungen usw. Einige Krisen, deren schwerste 1984 zur vorübergehenden Demission führte, konnten die angekündigte Entwicklung zum 'Weltorchester' nicht verhindern, die sich auch in äußeren Erfolgen niederschlug: Tourneeeinladungen aus aller Welt prasselten herein, man wünschte gar Bruckner-Aufführungen in Südamerika und ganze Bruckner-Zyklen in Japan; die Zahl der Münchner Abonnenten stieg auf mehr als das Doppelte an, die Generalproben vor den - immerzu - ausverkauften Konzerten waren oft hoffnungslos überfüllt; das Orchester wurde auf die höchste deutsche Besoldungsstufe gestellt. Vor allem die Japan-Tourneen wurden unvergleichliche Triumphzüge (Celibidache: "Die Japaner sind das beste, konzentrierteste Publikum der Welt."). Die Münchner Philharmoniker wurden unter ihm zum weltweit führenden Bruckner-Orchester mit der einmalig weichen, runden Klangfülle ihrer Blechbläser, der Fähigkeit des ganzen Orchesters, aufeinander zu hören und Transparenz auch bei maximaler Intensität zu bewahren, immer wach den Gesetzen der symphonischen Kontinuität zu folgen.
Zugleich aber hat Celibidache die Fachwelt extrem polarisiert wie alle überragenden Künstlerpersönlichkeiten zu allen Zeiten. Viele nahmen ihm die radikale Polemik gegenüber den von ihm als solche nicht akzeptablen 'Kollegen' übel ("Gilbert Bécaud vermittelt Empfindungen und auch Karl Böhm, wenngleich auch weniger feine"), erst recht die völlige Verachtung der Inkompetenz der Fachpresse ("Wieso 'Fach'? Wenn jeder das tun würde, was er wirklich kann, gäbe es keine Probleme.").
 
Das Ende im Anfang erleben
 
Die überbordende Impulsivität der früheren Jahre hatte Celibidache im hohen Alter zu unauslöschlichem inneren Feuer gebündelt. Bei seinem Musizieren koexistierten vollkommene Passivität und höchste Aktivität. Die vereinzelnde Dynamik der momentanen Empfindung erlangte nie die Oberhand, sein Bewußtsein blieb immer auf die Verwirklichung der Gesamtform als lebendiges Ganzes gerichtet, innerhalb dessen jeder Moment seine unerläßliche Funktion hat. Je komplexer dabei die Gesamtform ist, desto determinierter ist der einzelne Moment in seiner Ausführung - das gilt für Bruckner wie für Webern und stößt bei Letzterem auf eine empfindliche Grenze der Ausführbarkeit, denn die miniaturistische Ausformung der hochkomplizierten tonalen Beziehungen fordert eine höchst differenzierte Realisierung auf kleinstem Raum ein. Eine Woche Proben für einige Minuten Webernscher Orchestermusiken: Das wollte auch ein Celibidache seinen musikalischen Fahrgesellen nicht zumuten.
Bei diesem bezüglich des Gesamterlebnisses funktionalen Zugang zu jeder einzelnen klanglichen Situation ist es klar, daß zunächst beim Studium kein Unterschied gegeben ist, ob es sich nun um ein Werk von Frescobaldi, Mozart, Tschaikowskij oder um die bevorstehende Uraufführung eines neuen Werkes handelt. Der Unterschied entsteht erst mit dem Erleben der Beziehungen zwischen den angeeigneten Faktoren, und da soll der Studierende vollkommen in der Erlebniswelt des Komponisten in absichtsloser Hingabe aufgehen. Es soll nichts mehr zwischen dem Menschen und seiner Tätigkeit sein, der Musiker ist gleich einem Chamäleon in einer musikalischen Landschaft. So klangen Bach, Mozart, Beethoven, Bruckner, Debussy, Sibelius oder Strawinskij nirgends spezifischer als unter Celibidaches Stabführung. Aus dem ganzheitlichen Zugang heraus versteht es sich von selbst, daß der Studierende die Partitur allmählich in sich zum Leben erweckt und nicht über den äußeren Höreindruck, am Klavier oder gar mit einer Aufnahme, sich aneignet. Und wenn er dirigiert, benötigt er von der ersten Probe an keine Partitur, wenn er die Details nicht mehr als Gedächtnisleistung abzurufen braucht, sondern aus ihrer Sinnfälligkeit im Gesamtzusammenhang heraus erlebt. Kein Wunder also, wenn Celibidache vor einer Uraufführung stets schon zur ersten Probe ohne Partitur kam, und wenn der Komponist hinterher bekannte, er habe gar nicht gewußt, "daß ein solcher Reichtum in meiner Partitur steckt".
Erste und letzte Aufgabe des Dirigenten ist, so Celibidache, "Einheit zu schaffen in jeder Beziehung". Konsequenterweise bedeutet das, daß es keinen Unterschied zwischen dem Anfang und dem Ende eines Stücks gibt. Es kehrt dorthin zurück, wo es herkam - zur ursprünglichen Ruhe: "Ich entferne mich - und komme näher." Für den Musizierenden reißt in keinem Moment die Gebundenheit an Anfang und Ende ab, wobei im Verlauf die Zugkräfte von unterschiedlicher Intensität sind. So ist zunächst alles auf den Höhepunkt zu gerichtet, und nach Erreichen dieses maximal gespannten Moments, der zugleich Wendepunkt des Geschehens ist, auf das Ende zu, also folglich zurück zum Anfang. Freilich besteht niemals eine der Tendenzen in sich, jeder extrovertierte Schritt impliziert seine introvertierte Ergänzung und umgekehrt. Der ganze Prozeß, der in der Zeit stattfindet, ist seinem Wesen nach außerzeitlich, spielt sich in der Gleichzeitigkeit aller involvierten Momente ab, in der Gleichzeitigkeit von Anfang und Ende. Mozart sprach von jenem "alles auf einmal hören". Im Falle des Gelingens fallen Anfang und Ende zusammen, wobei es weder einen Anfang noch ein Ende gibt als für sich bestehende Punkte. Von dieser Warte aus ist zu verstehen, daß für Celibidache Bruckner der begabteste Symphoniker war: Keiner sonst war in der Lage, unter Aufbietung solch extremer Kontraste die Form noch zu beherrschen, das "Ende im Anfang" zu erleben. Die Münchner Philharmoniker waren das letzte Orchester, das unter Sergiu Celibidaches Leitung aufbrach, um solches Erleben allen unvoreingenommenen Hörern zu ermöglichen. Und "ganz selten ist uns das auch gelungen".
Heute werden an verschiedenen Orten mehr oder weniger ambitionierte Versuche unternommen, Celibidaches musikalisches Vermächtnis zu pflegen. Dazu ist die in Venedig ansässige "Scuola di Rony Rogoff" (deren herrlicher Live-Zyklus mit Brahms-Kammermusik soeben bei Mondo musica erschienen ist) ebenso zu zählen wie die von Celibidaches Assistent Konrad von Abel in Frankreich gegründete "Association des musiciens pour la perénnité de l’héritage musical de Sergiu Celibidache". Am dritten Todestag Celibidaches, dem 14. August dieses Jahres, soll zudem die Celibidache-Stiftung mit Sitz in München gegründet werden, deren finanzieller Grundstock sich aus den CD-Tantiemen rekrutiert. Die Stiftung wird mit der Umsetzung zweier Hauptanliegen betraut sein: mit Dokumentation und Lehre. Natürlich erhebt sich die Frage, ob es sinnvoll sein kann, den Anspruch auf die Bewahrung des musikalischen Erbes eines großen Verstorbenen zu erheben: Lehre aus zweiter Hand? Das ist eine äußerst heikle Zielsetzung, die ebenso frei von sektiererischer Einengung wie von ideeller Verwässerung betrieben werden muß. Von holdem Weihrauch umflorte Dogmen könnten vitale, weiterentwickelnde Ansätze ersticken. Aber es gibt sie, die "Erben Celibidaches": Man höre nur das Danish Wind Quintet um Peter Bastian, das niemals einen solchen Anspruch geltend machen würde, ihn aber nach 30jährigem Bestehen in unveränderter Besetzung umso bezwingend spielerischer einlöst. Musizieren ist Leben, nicht verharrendes Gedenken. Auch dafür stand – geradezu symbolisch in der positiven, nachhaltig aus dem Augenblick schöpfenden Überwindung aller Tradition – Sergiu Celibidache.

Christoph Schlüren

(veröffentlicht in Music Manual, 1999)