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Beethoven: Sinfonien Nr. 1-9

Karita Mattila (Sopran), Violeta Urmana (Mezzosopran), Thomas Moser (Tenor), Thomas Quasthoff (Bass), Schwedischer Rundfunkchor, Eric Ericsin-Kammerchor, Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado; DG 469 000-2 (5 CDs/337'/1999, 2000) Jetzt fragen sich natürlich viele, was ein weiterer Zyklus der Beethoven-Sinfonien mit Claudio Abbado soll, diesmal in weitgehender Orientierung an Jonathan Del Mars inzwischen abgeschlossener Urtextausgabe. Zunächst das Positive: Es gibt keine Aufnahme dieser Sinfonien, in der so viele Details, insbesondere Thematisches der Holzbläser, in solcher Deutlichkeit zu hören sind, die üblicherweise kaum hörbar zu machen sind – dies gilt vor allem für die hinsichtlich der Balance ohne Retuschen eigentlich unmöglichen Stellen im ersten und zweiten Satz der Neunten, oder auch für die ins Bassregister gelagerten Hauptstimmen in Durchführung und Reprisebeginn des Kopfsatzes der Achten. Dass die weithin bemerkenswerte Transparenz und Vielschichtigkeit des Klangbilds mit massiven dynamischen Manipulationen – immer wieder deutlichste Anhebung der Holzbläser, die auch viele Marginalien im Tutti-Fortissimo frappierend zu Gehör bringt – erkauft wird, ist selbstverständlich. Wie es tatsächlich im Raum geklungen hat, kann man sich kaum vorstellen. Solche Balance ist primär Verdienst der Tontechniker, und das reale Ausmaß der Dynamik geht dabei verloren, viele Fortissimi wirken anschließend merkwürdig schwach. Dass Abbado Spitzenkräfte um sich scharen konnte, ist keine Frage, auch wenn Quasthoff hier gewiss Geschmackssache bleibt. Am Niveau der einzelnen Musiker gemessen, sind die Berliner Philharmoniker fraglos das deutsche Spitzenorchester. Doch dass der spezifische Klang – besonders in den Streichern – verloren gegangen ist, wird auf besonders bestürzende Weise deutlich, wenn man an Barenboims unlängst veröffentlichte Aufnahmen mit der Berliner Staatskapelle denkt. Und Abbado hat kein klangliches Konzept, sondern laboriert wechselhaft zwischen Anleihen an historisierender Aufführungspraxis und Furtwängler-Anhänglichkeiten, bleibt in kleingliedriger Gestaltung verhaftet. Ob man sich gerade in der Exposition oder in der Reprise befindet, ob kurz vor oder nach dem Höhepunkt, davon ist meist nichts zu spüren.

So kann sich der bezwingende Zusammenhang nirgends einstellen. Und wenn er – modisch… – die Streicher verkürzte Tenuti spielen lässt, machen die Holzbläser das noch lange nicht mit: Minderheitenrechte in der Demokratie, exemplarisch durchgesetzt in der sentimentalisierten Oboenkadenz im Kopfsatz der Fünften oder auch – etwas unauffälliger – im Jeu inégal des Oboisten im Andante der Pastorale. Abbado bevorzugt flotte bis rasante Tempi. Wie immer zu schnell auch für die besten Musiker ist der Kopfsatz der Siebenten, wo der ternäre Rhythmus in binäre Primitivität umschlägt. Bei den Wiederholungen geht er auf philologische Nummer Sicher: Er macht sie alle (auch die wiederlegte Repetition des Scherzos der Fünften). So entstehen unerträgliche Längen, zumal bei solch selbstverliebt kurzatmigem Spiel. Die Phrasierung ist weitgehend dem Gusto der Orchestermusiker überlassen, und oft genug kann im Fortissimo auch die raffinierte Tontechnik die Balance nicht mehr retten (z. B. im Sturm der Pastorale). Das Finale der Siebenten wird von Anfang an mit brachialem Hochdruck ohne jegliche melodische Physiognomie herausgepeitscht, später fehlen die Reserven für die entscheidende Steigerung in der Durchführung. Und wie unkonturiert determinierende Basslinien gezeichnet sind (siehe die Coda im Kopfsatz der Siebenten)! Fazit: zwar besser und ernstzunehmender als etwa David Zinmans Züricher Urtextverfälschungen, aber letztlich ein imposantes Scheitern unter klanglich-technisch idealen Voraussetzungen.

Christoph Schlüren

(Rezension für Klassik Heute, 2000)