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Ludwig van Beethoven
"Zeitgenosse Beethoven"

"Das Eindeutige so mannigfaltig" · Die neun Symphonien

 

"Zeitgenosse Beethoven"? Daß Beethovens Schaffen wie das keines anderen Komponisten von seinem Tod bis heute bruchlos als aktuell empfunden wurde und sogar das, was seinerzeit revolutionär war, diese Wirkung nicht eingebüßt hat, legt nahe, ihn mit fiktiver Zeitgenossenschaft zu belegen. Seine Symphonien, Streichquartette und Klaviersonaten wurden zum Maß alles Späteren in diesen Gattungen. Insbesondere in der strukturellen Dichte und Verinnerlichung der späten Streichquartette fanden viele Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts eine unausschöpfliche Inspirationsquelle. Die Neunte Symphonie wurde zum Symbol einer sich selbst nicht mehr genügenden Gattung, die über die immanenten Züge hinausweist, und damit zum Vorboten der Zerrissenheit einer Moderne, die mit Mahler ansetzt, im Symphonischen die ganze Welt umfassen zu wollen. Der bei Beethoven einmalige, glückliche Fall, daß Originalität und technische Meisterschaft in höchster Form zusammenfallen, hat ihn zu einem Giganten werden lassen, dessen Riesenschritte seine Nachfolger zugleich beflügelten und hemmten. Und wo träte uns das Neue in so selbstverständlicher, aus den Fundamenten der Tradition emporgetriebener Weise entgegen wie in seinem Schaffen? Wo sonst ist das Eindeutige so mannigfaltig, das Mannigfaltige so eindeutig, schlagend formuliert?

Beethoven mußte Heldenverehrung zuteil werden, sei es in idealistischer, romantischer, nationalistischer oder materialistischer Weise. Man hat ihn vor jeden erdenklichen ideologischen Karren gespannt – sogar Stalin soll ihn geliebt haben. Paradoxerweise liegt der Grund für die willkürliche Verfügung über sein Schaffen nicht in irgendeiner Beliebigkeit der Aussage, sondern in der Eindeutigkeit von Gehalt und Gestalt, in der unmißverständlichen Deckung von Inhalt und Ausdruck. Wie aber kann unmißverständlich bleiben, was sich gleichzeitig so vorzüglich zu ideologischer Vereinnahmung, zu grobem Mißbrauch gar, eignet? Welche Musik, freilich, müßte man gegenfragen, läßt sich nicht mißbrauchen, mißdeuten, fehlinterpretieren?

Musik kann nichts konkret Außermusikalisches ausdrücken, sie kann außermusikalische Inhalte nur transportieren, mit ihnen befrachtet werden, den Stimmungsgrund dafür bereitstellen – was allerdings, wie Eisler und Adorno nachwiesen, mittels treffsicherer Enttäuschung der musikalischen Entsprechung nicht weniger effektiv bewerkstelligt werden kann als in der emotionalen Parallelzeichnung von zu vermittelnder Botschaft und Musik. Das Verhältnis von Musik und täglichem Leben ist grundsätzlich polyvalent, und jeder kann dem, was gerade erklingt, seine persönliche Befindlichkeit aufoktroyieren und dabei der Meinung sein, es sei die Musik, die so zu ihm spreche und ihn mitreiße. Eine Musik, die eindeutig auftritt, kann gerade aufgrund der polyvalenten Beziehung zu allem Außermusikalischen überzeugender Träger unterschiedlichsten Ideenguts sein – wie sonst wäre es möglich gewesen, daß unter Wagners Dach sowohl Theosophen als auch Nationalsozialisten verkehrten?

Nun gab es bei Wagner stets Einwände, Aversionen, auch rein musikalische, gegen das Überredende, den Hörer Einlullende, Betäubende. Bei Beethoven hingegen greifen solche Argumente nicht. Zu groß ist die Mannigfaltigkeit seiner Struktur, zu unabhängig sein Geist. Umso verführerischer, sich dies dienstbar zu machen, im besten Glauben an die Übereinstimmung mit der eigenen Weltsicht. Man hat sein überlegenes Format auf das des größten Helden der deutschen Tonkunst ebenso wie auf jenes des grimmigen Exponenten der französischen Revolution reduziert. Die einen haben in ihm den tiefgründigsten Philosophen in Tönen gesehen, die anderen machten einen musikalischen Hasardeur aus ihm, dessen Empfinden – der Nachwelt in Form atemberaubender Metronomangaben vorliegend – vor allem jenseits der Grenzen des physisch Ausführbaren liegt. Jede solche extreme Auslegung aufgrund emphatischer Selbstbehauptung der Interpreten führt zwangsläufig zur Vernachlässigung oder gar Aushebelung ganzer Charakterzüge. Fehlt es den einen an Prägnanz und Klarheit, so haben die anderen keinen Sinn für Poesie und organischen Zusammenhang. Für sich genommen kann das eine wie das andere vordergründig überzeugend scheinen. Daß sich in diesen Fragen interpretatorischer Auseinandersetzung kein Anflug von Übereinstimmung ankündigt, eine angemessene Balance der Gegensätze selten angestrebt und noch seltener erreicht wird, ist sicher ein Indiz für Beethovens Zeitgenossenschaft.

Struktur und Metronom

Simon Rattle dirigiert nach der derzeit im Druck erscheinenden neuen Beethoven-"Urtext"-Ausgabe des Bärenreiter-Verlags, die von dem englischen Musikwissenschaftler Jonathan Del Mar herausgegeben wird. Del Mars Vater, der Dirigent Norman Del Mar, hatte sich auf Druckfehler und Irrtümer in der Orchesterliteratur spezialisiert, deren aufsehenerregendste er 1981 in dem Buch 'Orchestral Variations. Confusion and Error in the Orchestral Repertoire' diskutierte. Unter den besprochenen Werken befanden sich auch die Symphonien Nr. 3, 4, 7 und 9 von Beethoven.

 

So war Jonathan Del Mar prädestiniert, die von seinem Vater geschlagene Bresche im Dschungel der Verirrungen weiter zu verfolgen. Er hat für seine Ausgabe eine Vielzahl von Quellen durchforstet, darunter auch einige bisher nicht herangezogene, und mit großer Akribie die Differenzen aufgelistet. In vielen Fällen kam er dabei zu anderen Lösungen als die bisherigen Ausgaben, wobei man einwenden kann, daß es sich fast durchweg um Kleinigkeiten handelt, und daß, wo die Abweichung vom Gewohnten erheblicher ist, meist alternative Lösungsmöglichkeiten vorliegen.

Interessant ist, daß die neue Ausgabe in der strittigsten Angelegenheit von den bisherigen Lesarten abweicht. Nie konnte im Scherzo der Neunten Symphonie geklärt werden, in welchem Verhältnis die Tempi von Scherzo und Trio zueinander stehen sollten. Stets war für beide Charaktere die Metronomzahl 116 angegeben, im Scherzo, Allegro vivace, für die ganzen Dreivierteltakte, im Trio, Presto, hingegen in zwei Versionen: 116 für die ganzen Noten bzw. 116 für die halben Noten im Zweihalbetakt. Doch sowohl Interpreten als auch Musikwissenschaftler befanden stets beide Lösungen für unannehmbar. Die schnellere Version schien schlicht zu schnell, die langsamere hingegen absurd langsam für ein auf eine Beschleunigung folgendes Presto.

Also wurden Kompromißlösungen zur gängigen Praxis. Jonathan Del Mar läßt nun erstmals ein Fragezeichen stehen und überläßt den Interpreten, die das eh schon immer so handhabten, die freie Entscheidung. Er tut dies in den Fußstapfen seines Vaters, der folgende "true-to-life theory" Peter Stadlens kolportierte: "…der jähzornige Beethoven diktierte die Metronomangaben seinem unglückseligen Neffen, während er die Musik auf dem Klavier spielte; …der elende Karl verpaßte die Angabe für das Trio, und seine nervöse Nachfrage sorgte nur für die wütende Wiederholung der Scherzo-Metronomisierung, die anzuzweifeln er viel zu verängstigt war, sodaß er es pflichtschuldigst als gültige Angabe auch für das Trio aufschrieb, dessen korrekte Angabe so für immer verloren ist." Fragwürdige Umstände, in der Tat.

Der einzige Dirigent, der radikal die schnelle Version des Trios spielen ließ, war Sergiu Celibidache, mit unbestreitbarem Gewinn für die Gesamtgestalt. Was er dafür ebenso radikal opfern mußte, waren die Metronomvorgaben. Ein stimmiges relatives Resultat ließ sich nur über das Ignorieren der absoluten Vorgabe erzielen. Und hier sind wir am Kern jener Schwierigkeiten, die einzig auf Beethoven selbst zurückgehen und zu jener Misere führten, die man als das "Problem der Interpretation" bezeichnet hat. Manche Stücke, wie beispielsweise das Finale der Achten Symphonie, kann man nie in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit, die das Spielen von sechzehn Noten in der Sekunde voraussetzte, ausführen – von gestaltendem Vortrag ganz zu schweigen. Andere lassen sich gerade noch ausführen, auf Kosten vieler Feinheiten, oder, wie im ersten Satz der Siebten Symphonie das Vivace-Haupttempo, auf Kosten des korrekten ternären Rhythmus, der immer wieder zu einem binären verwischt. Und wenn man dann auch noch den von Beethoven konsequent durchgeführten Gegensatz zwischen Tenuto- und Staccato-Artikulation, der am Höhepunkt aufeinanderprallt, herausarbeiten möchte, so geht dies nur, indem das ganze Vivace in einem drastisch langsameren Tempo gespielt wird. Dem steht die absolute Metronomangabe entgegen. Unvereinbar. Die Forderungen der Struktur mit der Vorschrift der absoluten Geschwindigkeit zur Deckung zu bringen, ist nicht menschenmöglich. Man kann sich in der Nachfolge von Kolisch, Scherchen oder Leibowitz für den rasanten Gestus entscheiden, den die Einhaltung der Metronomangaben – oder die möglichste Annäherung an dieselben – in vielen Fällen hervorruft. À la revolution Française! Das hat seinen unmittelbar zündenden Reiz. Doch die Verluste sind gewaltig. Wo liegt die Wahrheit? Irgendwo dazwischen? Dieses Rätsel, diesen Widerspruch hat Beethoven allen Musikern, Hörern und Musikwissenschaftlern hinterlassen, und auch in dem Sinne, daß es keinesfalls zu lösen ist, wird Beethoven immer Zeitgenosse bleiben.

Christoph Schlüren

(Programmheft-Beitrag für Salzburger Festspiele)