< RARE MUSIC STARTSEITE

Zinman und der Urtext-Humbug

Die neue Bärenreiter-Edition der Symphonien Ludwig van Beethovens bestätigt wenig überraschend, daß ein aufwendig erstellter Urtext dieser tragenden Säulen des symphonischen Repertoires, welcher mehr Quellen denn je heranzieht (und dabei unbegreiflicherweise seinen wichtigsten und kompetentesten Vorgänger, die Markevitch-Edition, ignoriert), keine umwerfenden Neuerkenntnisse erbringt. Was nichts daran ändert, daß Jonathan Del Mar mit gewaltigem Aufwand vorzügliche Arbeit geleistet hat und, auch dank verlegerischer Schnelligkeit, vor allem eine überfällige Neuausgabe der Neunten Symphonie vorlegen konnte. Irritiert war die Fachwelt hingegen von der hochfliegenden Werbekampagne des Verlags, die sich allerdings inzwischen als sehr effektiv erwiesen hat. Den neuen, "gültigen" Beethoven, das "wissen" nach all der großzügigen Berichterstattung in allerlei Populärmagazinen auch viele Laien, gibt’s von Bärenreiter. Simon Rattle, J. E. Gardiner und Claudio Abbado zählen zu den prominenten Benutzern. Was also läge näher für eine prestigehungrige Münchner Niedrigpreis-CD-Firma, welche sich ein feines Traditionsorchester unter einem amerikanischen Erfolgsdirigenten für ihr Beethoven-Projekt aufgetan hat, als, schnell und risikolos auf den fahrenden Zug aufzuspringen mit der flotten Etikettierung "World Premiere Recording on Modern Instruments according to New Bärenreiter Edition". Nun geht es an dieser Stelle nicht darum, was man musikalisch von David Zinmans Beethoven-Zyklus mit dem Tonhalle-Orchester Zürich hält. Das Bemühen um fetzige "metronomical correctness" ist evident, die Bässe dröhnen, die Pauken knallen, die Akzente kommen wie Peitschenhiebe, der allgegenwärtige Sportsgeist verweist auf Speedy Gonzalez – näher an der Post-Disney-Ästhetik unserer Tage war Beethoven nie, was manchem Kollegenohr authentisch erscheint und in Preisungen wie "Beethoven-Referenz fürs 21. Jahrhundert" ausmündet. Immerhin, auch anderes wurde bemerkt. So war mehrfach zu lesen, daß die neue Urtext-Ausgabe im Wesentlichen nichts Neues bringe, sähe man einmal von den "wenigen neuen Noten" ab… Wie? Offenkundig hörbare, neue Noten? Unerhört, im wahrsten Sinne des Wortes, bei diesen so allbekannten, vielgespielten Werken, die nie dem akribischen Interesse der Wissenschaftler entglitten sind! Neue Originalnoten, die bisher allen entgangen sind? Das wäre in der Tat eine Sensation, auch wenn sie von den betreffenden Kritikern nicht als solche eingestuft wurde.

Was nun ist bei Zinman zu hören, der ja nicht der erste ist, der nach der Del Mar-Edition spielt, sondern nur der erste auf modernem Instrumentarium? Um es vorwegzunehmen: Seine Einspielung nimmt den neuen Urtext als Sprungbrett zur Urtext-fremdesten Ausführung der Schallplattengeschichte, und dies unter ausdrücklichem, werbewirksamem Verweis auf die von ihm ad absurdum geführte wissenschaftliche Ausgabe. In wenigstens einem Fall, das sei zu seiner Entlastung angeführt, entscheidet er sich sinnvollerweise gegen Del Mar: Im Scherzo der Neunten verwirklicht er die von Beethoven intendierte direkte Temporelation zum Trio und schließt sich nicht dem Pragmatismus des Herausgebers an – gut so! Wofür es allerdings gut sein soll, im Menuett der Ersten Symphonie auch beim Dacapo die Wiederholungen spielen zu lassen, erfährt man nicht. Es verstößt gegen Brauch und Urtext – was als Marotte durchginge, würde man sich nicht ausdrücklich auf Letzteres berufen. Als Unsinn möchte ich auch bezeichnen, dem modernen Horn die lästigen Schwächen des historischen Instruments anzudichten und in der Zweiten Symphonie die Quarte g des Horns in d (nur vom ersten Hornisten…) schneidend gestopft zu verlangen – das ist sicher irregeleiteter Historismus.

Und was ist davon zu halten, daß es bei Beethoven keine Tenuti gegeben haben soll (außer innerhalb des Legatobogens und im gesprochenen Wort)? Nichts wird ausgehalten, auch da nicht, wo die Werte im Wechsel der Instrumente direkt aneinander anknüpfen und durch das Abreißen nun völlig entstellende Pausen eintreten (z. B. 2. Satz der 2. Symphonie). Eine Parodie in Staccato… All’ diese Mängel wären nun angesichts des "interpretatorischen" Umfeldes noch nicht allzu aufsehenerregend. Wäre da nicht der eigentliche Clou, sozusagen die wahre Überraschung des amerikanischen Hexenmeisters der grellen Cocktails: die besagten neuen Noten! Mit denen hielt man sich in den Symphonien Nr. 5-8, die zuerst erschienen, noch zurück. Doch dann, im Trauermarsch der Eroica, erhält der Oboist die Absolution zur dekorativ-barockisierenden Auszierung seiner Partie (Tt. 11 und 37-39) – fürwahr, so hat man es noch nicht gehört und wird es hoffentlich auch nicht mehr hören, denn schließlich handelt es sich nicht um den Solopart eines Klavierkonzerts, sondern um eine Stimme im Kollektiv, von der der Komponist genauere Vorstellungen hatte als seine Interpreten. Die Verführungen zur Auszierung sind naturgemäß in den langsameren Sätzen gegeben, wo eben bei uninspirierter Wiedergabe schneller Langeweile aufkommt, so gelegentlich anscheinend von Beginn an (Solooboe im Poco andante des Eroica-Finales, Tt. 354-55). In der Vierten bleibt die Entstellung auf die Soloklarinette in der Reprise des zweiten Satzes beschränkt (Tt. 82-86, geschmacklose Durchgangskette). Der eigentliche Skandal ereignet sich im Larghetto der Zweiten Symphonie, mit manierierten Vorboten (nach einem Oboenmelisma in T. 3) am Ende der Adagio-Einleitung des Kopfsatzes, wo vier Takte lang im Dialog von Flöte und ersten Geigen die Triller durch wohlsynchronisierte Zweiunddreisigstel ersetzt werden (Tt. 29-32) – mit keinem offenkundig ungünstigen Effekt, aber durchaus gegen den Willen des Komponisten. Warum nicht ein bißchen dilettantisch herumkomponieren in dem herrlich sicher gefügten Zusammenhang des großen Meisters? Im zweiten Satz gibt es kein Halten mehr, die Stimme der Soloklarinette ist zum Abschuß freigegeben, ergeht sich in lustvollen Arabesken und flotten Vorhalten (Tt. 12-15, 166, 170, 182-89, 266). Nichts davon steht in den Partituren, worin sich die älteren Ausgaben mit der neuen Urtext-Edition gleichen. Es ist nur ein in dieser Form ungewöhnlicher Willkürakt, der mit lockerer Improvisationshaltung nur scheinbar und auf unseriöse Art zu tun hat. Denn schließlich ist das Ergebnis ein für allemal unter dem Etikett Beethoven festgehalten, das vorgeblich Spontane (jedoch Erklügelte) wird in verewigter Form schlicht zu vollendeter falscher Absicht. Obendrein ist das Ganze nicht nur ein verfälschtes Dokument, sondern schamlose Irreführung des interessierten Publikums und glatter Etikettenschwindel unter gänzlich ungerechtfertigter Berufung auf einen Urtext, mit dem allerlei Humbug getrieben wird.

Christoph Schlüren

('Zwischenruf' für Österreichische MusikZeitschrift)