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Beethovens Sinfonien als Urtext-Ausgabe?

Sind die Sinfonien von Ludwig van Beethoven, der Kernbestand des Orchesterrepertoires, bis heute falsch gespielt worden? Seit einiger Zeit erscheint die neue "Urtext"-Ausgabe der Beethoven-Sinfonien, herausgegeben von dem Musikwissenschaftler und Dirigenten Jonathan Del Mar, beim Bärenreiter-Verlag in Kassel. Diese Ausgabe, als deren letzter Band für Mai 2000 die Siebte Sinfonie geplant ist, wird angepriesen als "das zuverlässige Standardmaterial… im neuen Jahrtausend". Bereits John Eliot Gardiners aufsehenerregende Aufnahmen für die DG entstanden in enger Zusammenarbeit mit Del Mar. Charles Mackerras, Claudio Abbado und viele andere mehr benutzten sogleich die Neuausgabe. David Zinmans Zyklus mit dem Tonhalle-Orchester Zürich wirbt gar mit einer "Welterstaufnahme". Von Anfang an stand Simon Rattle hinter dem Projekt und empfahl Del Mar nachdrücklich an Bärenreiter. Bei seinem Gastspiel in Salzburg mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra wird Rattle in fünf Konzerten alle neun Beethoven-Sinfonien, kombiniert mit zeitgenössischen britischen Werken, dirigieren (16., 17., 19., 20. und 22. 8.) – selbstverständlich nach dem neuen "Urtext".

Leider nur ist es problematisch, von einem definitiven Urtext zu sprechen. Passender wäre die Bezeichnung "Kritische Neuausgabe". Denn natürlich hat Del Mar bei seiner akribischen Forscherarbeit viele kleinere Fehler und Ungenauigkeiten getilgt – mit immensem Arbeitsaufwand: Allein für die Neuausgabe der Neunten Sinfonie mußte er ungefähr zwanzig Quellen an neun verschiedenen Orten Takt für Takt vergleichen. Autograph, Stichvorlage mit Beethovens handschriftlichen Korrekturen, gedruckte Ausgaben, authentische Stimmensätze – oftmals liegen einander widersprechende Informationen vor, und in den meisten Fällen ist die plausiblere Version ersichtlich. Aber einige Widersprüche zwischen den einzelnen Quellen lassen sich nicht lösen, und der Herausgeber muß sich schließlich für eine Fassung der betreffenden Passage entscheiden. Auf die andere Möglichkeit für die Ausführung der Stelle verweist nicht mehr die Partitur, sondern der kritische Bericht. Mit Recht übrigens wurde moniert, daß derselbe in der Bärenreiter-Ausgabe nur separat erhältlich ist, was viele "Praktiker" dazu verleitet, den nun vorgelegten Notentext als definitiv zu erachten und auf den Erwerb des kritischen Berichts zu verzichten. Bei den konkurrierenden Neuausgaben der 4., 5. und 7. Sinfonie im Verlag Breitkopf & Härtel in Wiesbaden, der einst für die alte Gesamtausgabe von 1862-64 verantwortlich zeichnete, ist der kritische Bericht mitenthalten.

Immer wieder wiesen Dirigenten schon in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts auf Fehler hin, die auf die alte Gesamtausgabe zurückreichten. 1977 eröffnete Peter Gülke beim Peters-Verlag in Leipzig mit der Fünften Sinfonie (und dem anschließend veröffentlichten, hochinteressanten Bericht zu Werk und Edition) den Reigen der kritischen Neuausgaben. Weitere Neueditionen (1., 4. und 6. Sinfonie, herausgegeben von Peter Hauschild) erschienen bei Peters. 1994 legte im Rahmen der Neuen Beethoven-Gesamtausgabe Armin Raab im Münchner Henle-Verlag die Sinfonien Nr. 1 und 2 vor. Im gleichen Jahr erschien bei Breitkopf & Härtel Hauschilds Neuausgabe der Siebten Sinfonie. Norman Del Mar begann bei Bärenreiter mit dem schwierigsten Brocken: im Dezember ’96 kam zum Auftakt die überfällige Neuedition der Neunten Sinfonie heraus, und von nun an legte Del Mar ein Tempo vor, mit dem die Konkurrenz nicht gerechnet hatte. Bis jetzt sind die Sinfonien Nr. 1, 2, 3, 8 und 9 erschienen, im November kommt die Sechste, und in knapp zwei Jahren wird die Edition abgeschlossen sein. Die offensive Werbekampagne "im Geiste der Wiederentdeckung", die auch mit schlagwortartigen Vereinfachungen arbeitete, hat viel Widerspruch erregt. Vollmundig heißt es da etwa: "Die musikwissenschaftlichen Forschungsergebnisse setzen neue Maßstäbe für die Interpretation. Sie eröffnen Musikern und Hörern neue Zugänge zur Musik Beethovens." Sollte dies tatsächlich geschehen, so könnten auch die anderen Neuausgaben damit prunken. Freilich handelt es sich tatsächlich um eine Unmenge nützlicher, ja notwendiger, aber eben doch marginaler Veränderungen. Del Mar konnte auf einige neuentdeckte Quellen zurückgreifen: die Stichvorlagen zur 6. und 8. Sinfonie und eine handschriftliche Korrekturliste Beethovens zur 9. Sinfonie. Vieles ist differenzierter geworden vor allem im Bereich der Artikulation, so die Anwendung der Sforzati. Und einige Details ergeben einen deutlich hörbaren Unterschied, so die Verwendung von Dämpfern auch für die ersten Geigen im langsamen Satz der Pastorale.

Die wesentlichsten und zahlreichsten Korrekturen ergaben sich in der Neunten Sinfonie. So ist endlich der (metronomisierte) Puls des Alla marcia im Finale von punktierten Vierteln zu punktierten Halben berichtigt, der Charakter stimmt jetzt und die unmotivierte Beschleunigung zum nachfolgenden Fugato, das nunmehr im selben Tempo daraus hervorgeht, entfällt. Doch ausgerechnet die fraglichste aller Stellen, die Metronombezeichnung des Trios im Scherzo, wurde – erstmals! – mit keiner Lösung versehen, aus pragmatischen Erwägungen heraus. Statt einer Metronomangabe steht da ein Sternchen mit Verweis auf den kritischen Bericht. Nicht nur hier weist sich Del Mar als Praktiker aus, der über mehr als philologische Besessenheit verfügt. Diese Haltung und Voraussetzungen für seine Arbeit sind ihm freilich in die Wiege gelegt worden. Sein Vater, der angesehene Dirigent Norman Del Mar, hat neben dem Standardwerk "Anatomy of the Orchestra" eine kommentierte Sammlung von Partiturirrtümern veröffentlicht unter dem Titel "Orchestral Variations. Confusion and Error in the Orchestral Repertoire" (Eulenburg Books, London 1981). Er führt dort nur Werke auf, in denen die Fehler gehäuft und massiv auftreten, und sein Privatarchiv umfaßt sicher die Unregelmäßigkeiten seines gesamten Repertoires. In vorliegendem Buch finden sich auch Anmerkungen zu den Sinfonien Nr. 3, 4, 7 und 9 von Beethoven. Dort vertritt Norman Del Mar die Ansicht, die Metronomangabe sei auf ein Mißverständnis beim Diktat zurückzuführen und die gültige Anweisung sei für immer verloren – eine Ansicht, die in der allgemein gängigen Aufführungspraxis gründet und über seinen Sohn nun Eingang in die neue "Urtext"-Ausgabe fand. Worum geht es aber an der betreffenden Stelle?

 

Unvereinbarkeit von Struktur
und Metronomisierung

Für das Scherzo, Tempo molto vivace, ist die Metronomisierung punktierte Halbe = 116 vorgeschrieben. Das Trio folgt nach einer achttaktigen Beschleunigungsphase im (schnelleren) Tempo presto. Hier gibt es zwei widersprüchliche Metronomangaben: einerseits 116 für die ganzen Noten, andererseits 116 für die Halben. Beide Modelle wurden von der Praxis nicht akzeptiert. Die langsame Version ist tatsächlich eine absurde Verschleppung, vor allem angesichts der vorangehenden Beschleunigung und der schnelleren Tempobezeichnung. Die schnelle Version hingegen gilt als unausführbar. Womit wir uns mitten in der für Beethoven typischen Problematik befinden. Ist eine eindeutig definierte Temporelation deswegen hinfällig, weil sie in der vorgeschriebenen Metronomisierung nicht spielbar ist? Wäre das "zu schnelle" Tempo vom Beginn des Satzes an gefordert, so würde man es zwangsläufig soweit drosseln, daß es ausführbar ist (wie das immer im Finale der Achten Sinfonie sein wird, wo Beethovens Forderung von 16 Noten in einer Sekunde die Grenzen des physisch Möglichen übersteigt). Doch hier, im Scherzo der Neunten, wird bedenkenlos ein an der Metronomvorgabe orientiertes Molto vivace vorgelegt, ohne die Relation zum schnelleren Trio einzukalkulieren. Also "geht es nicht", es liegt ein "Irrtum" vor. Als einziger Dirigent hat Sergiu Celibidache hier radikal die satzimmanente Beziehung verwirklicht, indem er die ganzen Takte des Trios im selben Tempo wie vorher die ganzen Takte des Scherzos nahm, weswegen ihm vorgeworfen wurde, er habe "die Melodie des Trios versprudelt". Der Effekt ist verblüffend, die Gesamtform profitiert unzweifelhaft, gerade auch die kurze Wiederaufnahme des Trio-Tempos vor dem Schluß wirkt ungemein erfrischend. Insgesamt ist es, als hörte man ein anderes Stück. Doch die Verwirklichung dieser Beziehung hat ihren Preis. Celibidache mußte das Tempo des Scherzos deutlich zurücknehmen, die Metronomisierung schlichtweg ignorieren. Und da scheiden sich die Geister, wird die Aufführung Beethovenscher Werke auch zum Forum ideologischer Auseinandersetzung.

Die bedingungslosen Befürworter der Metronomvorschrift, jener uninterpretierbaren, objektiv meßbaren Forderung des Komponisten, berufen sich bei Beethoven auf Rudolf Kolisch und René Leibowitz. Wer sich intensiver mit dieser Problematik (und einem daraus resultierenden objektivistischen Positivismus) auseinandersetzen will, sei auf den 8. Band der Musik-Konzepte verwiesen: "Beethoven. Das Problem der Interpretation" (edition text + kritik, München 1985). Neben aufschlußreichen Erörterungen Rainer Riehns zu "Beethovens Verhältnis zum Metronom" und zu "…durch Vergleiche der Charaktere erschlossenen Metronomisierungen" finden sich brisante Aufsätze von Peter Gülke und Peter Stadlen, aber auch Polemik Heinz-Klaus Metzgers, die in solchen Statements gipfelt: "Die meisten Musiker halten Beethovens Tempi allein deshalb schon für unglaublich, weil es nicht im Bereich ihrer modesten technischen Möglichkeiten läge, sie auch nur annähernd zu spielen. Indes liegt der Vorzug dieser Tempi nicht bloß darin, daß sie die Musik derart straffen, daß die Dauerverhältnisse ganzer Formteile, ihre Proportionen zueinander, wahrnehmbar werden, sondern es verschwinden durchs exzessive Brio alle jene Züge des schlecht Pathetischen und "Feierlichen" gewisser Sätze…" Welch wirre Mischung von Abneigung und rhetorischer Emphase, schlauem Ungefähr und eindeutiger Idee! Solche Autoren übergehen geflissentlich die Tatsache, daß bei Beethoven in manchen Fällen ein durch nichts aufzulösender Widerspruch zwischen zu verwirklichender Struktur und absoluter Geschwindigkeitsforderung via Metronom besteht. Ein gutes Beispiel ist das Vivace-Haupttempo im Kopfsatz der Siebten Sinfonie, wo bei Befolgung der rasanten Metronomvorschrift die ternäre rhythmische Struktur verwischt in Richtung einer binären, von der konsequent durchgeführten Gegenüberstellung von Staccato- und Tenuto-Artikulation ganz abgesehen, mit deren Verdichtung der Höhepunkt gebaut ist. All diese formkonstituierenden Elemente können überhaupt erst in einem langsameren Tempo realisiert werden. Hier ist mit Dogmatismus überhaupt nichts auszurichten, wozu zum Schluß John Eliot Gardiner zitiert sei (aus einem Interview mit Sören Meyer-Eller, Fono Forum 10/94): "Manchmal hat Beethoven das Metronom auch falsch beurteilt. Ich glaube, daß manchmal die Musik in seinem Kopf schneller war, als es ihm in der Praxis gefallen würde." Dem ist momentan nichts hinzuzufügen.

Christoph Schlüren

Kritische Neuausgaben von Beethoven-Sinfonien:

Sinfonien Nr. 1, 2, 3, 8, 9 (Bärenreiter)

Sinfonien Nr. 1, 4, 5, 6 (Peters)

Sinfonien Nr. 1 und 2 (Henle)

Sinfonien Nr. 4, 5, 7 (Breitkopf & Härtel)

(Beitrag für Klassik Heute)