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Travestie gegen Beethoven

Höchstqualität zum Niedrigstpreis ist etwas, was sich jeder Konsument wünscht, und was sich, wenn solches Zusammentreffen fachkritisch gepriesen wird, in hohen Vekaufszahlen niederschlägt. Ein Musterfall dafür scheint der neue Gesamtzyklus der neun Symphonien Ludwig van Beethovens in Aufnahmen mit dem Züricher Tonhalle-Orchester unter Leitung des Amerikaners David Zinman zu sein. Die internationale Presse überschlug sich im Großen und Ganzen vor Begeisterung bis hin zum Slogan von der "Beethoven-Referenz fürs 21. Jahrhundert". Da konnte natürlich die Jury des Deutschen Schallplattenpreises nicht zurückbleiben und verlieh, als germanisches Kronjuwel, den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik 1999. Das müßte man weiter nicht ernstnehmen. Nun hebt die hymnische Begründung aber folgendermaßen an und ab: "Arte Novas Gesamtaufnahme der Beethoven-Sinfonien basiert auf dem Text der neuesten, die jüngsten musikalischen Erkenntnisse berücksichtigenden Notenedition Jonathan Del Mars, sie überträgt konsequent die Erfahrungen der historischen Aufführungspraxis auf ein modern besetztes Orchester…" usw. Hieraus kann nur geschlossen werden, daß diese Behauptung bar jeder Überprüfung durchging. Der neue Urtext Del Mars darf tatsächlich, allen Neidern zum Trotz, als die bislang bestbegründete, im profundesten Sinn quellenkritische Ausgabe der beethovenschen Symphonien gelten. Doch schon da hätte versierten Beobachtern aufgehen dürfen, daß es sich bei Zinman nicht, wie das Cover verkündet, um die erste Aufnahme nach dieser Edition auf modernem Instrumentarium handelt, denn die hat bereits Charles Mackerras besorgt – womöglich ein Schwindel aus Versehen. Was man für die generelle Darstellung des Notentexts schon nicht mehr ins Feld führen kann.

Unter Zinman liefert das ausgezeichnete Orchester eine Beethoven-Parodie in Staccato, in den ganzen neun Symphonien kommt fast keine Tenuto-Note vor, was reine Willkür ist, von der unerschöpflichen strukturellen und emotionalen Mannigfaltigkeit des Genies eine gnadenlos desensibilisierte Slapstick-Version herauszieht und uns schon damit unverhohlen um das Original betrügt. Hinzu kommt erschwerend, daß Zinman neue Noten erfinden läßt, die seine Kritiker fahrlässig für den neuen Urtext hielten – es handelt sich um nichts weniger als geschmäcklerisch auszierende Zusätze aus einem originalitätskranken Dirigentenhirn. Wer es genau wissen will, höre sich – als abschreckendstes Beispiel – aus der Zweiten Symphonie die langsame Einleitung (Tt. 3, 29-32) und – Gipfel pseudobarockisierenden Manipulierens – den skrupellos der Partitur aufoktroyierten Ornamentenmüll im Larghetto (Tt. 12-15, 166, 170, 182-89, 266) an. Weitere besonders entstellende Beispiele finden sich in den langsamen Sätzen der Eroica und 4. Symphonie. Bärenreiters Urtext-Herausgeber Jonathan Del Mar reagierte angemessen und ließ den Autor wissen, er halte Zinmans Operationen für eine "Travestie gegen Beethoven" und eine "Verfälschung meiner Urtext-Ausgabe". Bedarf es noch klarerer Worte? Der Jahrespreis fürs etikettengefälschte Produkt ist nur noch ein weiterer schlechter Witz und Dokument kollektiven Dilettantismus’, indem er sich traumseliger Hörigkeit statt wachem Hören verdankt. Das Geschäft mit den Urtext-fremdesten Beethoven-Versionen der Schallplattengeschichte wäre also gemacht!

Christoph Schlüren

(Beitrag für Neue MusikZeitung)