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Die Urlinie lebt

Murray Perahia (Klavier) spielt Johann Sebastian Bach
Englische Suiten Nr. 1 A-Dur, Nr. 3 g-moll und Nr. 6 d-moll
Sony CD SK 60276.

So zielgerichtet und sinnenklar, wie er mit dem Prélude aus Bachs erster Suite den Hörer vom ersten Ton an mit auf die Reise nimmt, so unwiderstehlich hält Perahia seine ungeteilte Aufmerksamkeit wach bis zum Schluß der Gigue aus der sechsten Suite eine gute Stunde später. Wohl seit Dinu Lipatti hat kein Pianist Bachs Kosmos so undogmatisch vital und zugleich widerspruchslos klar durchmessen. Das Analytische ist bei Perahia stets zugleich zu organischer Gestalt sich Bündelndes, die Schenkersche Urlinie lebt, indem sie das Zentralnervensystem des Formprozesses bildet, der nichts Starres, Totes mit sich schleppt. Hier entsteht jede Form als Neues, Einmaliges, und dies nie im Widerspruch zum historischen (Tanz-)Typus, sondern in Übereinklang mit demselben. Das Genre wird erfüllt, aber mit unverwechselbarem Gesicht, mit Leben. Perahias Artikulation überträgt immerzu eindeutig die metrische Empfindung, doch zugleich ist sie schwerelos, überall legt sie aus dem Wechselspiel von Schwer und Leicht das essentiell Melodische frei. Diese äußerste Flexibilität im Detail fügt sich ohne Manierismen und Übertreibungen in den übergeordneten harmonischen Werdegang, der den Spannungsverlauf des Satzes bestimmt. Perahia mag mit Hilfe aufwendiger theoretischer Mittel das Wesentliche von Unwesentliche unterscheiden gelernt haben – entscheidend ist:

Er verwirklicht es wie kein anderer, als sei es das Natürlichste von der Welt. Die rhythmischen Freiheiten, die er sich gestattet, sind stets aus dem Zusammenhang motiviert und fern jeglicher Willkür. Oft entsteht so ein quasi improvisatorischer Zug, der wirkt, als entstünde die ganze Komposition tatsächlich in diesem Moment zum ersten Mal. Erwähnt sei, daß Perahia Bachs Musik zuerst auf dem Cembalo erarbeitete, um die angemessenen Ausdrucksdimensionen zu erschließen. Um wieviel bezwingender ist es, wenn dem so Gewonnenen die erweiterten Möglichkeiten des modernen Konzertflügels zur Seite treten! Der Klang ist hervorragend, sehr natürlich, rund und präzise. Perahias aufschlußreicher eigener Kommentar im Booklet allerdings wurde katastrophal ins Deutsche übersetzt.

Christoph Schlüren

Interpretation: höchste Bewertung
(Rezension für Neue MusikZeitung)