Jean Sibelius: Symphonien Nr. 2 und 5Schwäne und klares kaltes Wasser |
Wo denn die "Löcher im Wasser" geblieben seien, die der "starke Intellektuelle" gebohrt hatte, fragte Sergiu Celibidache in einem Interview Mitte der siebziger Jahre Heinz Ludwig. Ja, Adorno hatte vermeintlich Tausende von Löchern in Jean Sibelius musikalischem Gewebe identifiziert, ohne sich je auch nur ein bißchen ernsthaft mit dessen Werken beschäftigt zu haben. Jean Sibelius hatte sich, nach seiner nationalromantischen ersten Glanzzeit um die Jahrhundertwende, vom chromatisch gleißenden Fieber der allmählich in expressionistische Übersteigerung ausufernden neudeutschen Romantik abgewandt. Sibelius suchte das "klare kalte Wasser", in dem andere dann wieder später nach Löchern suchen sollten eine naturgeschichtliche Unmöglichkeit zwar, aber doch, zumal im deutschsprachigen mit gravierenden rezeptionsgeschichtlichen Folgen. Sibelius ging es nicht um den vielbeschworenen nordischen Ton, jenes zentralistische Klischee. Fraglos aber ging es ihm um eine Verwurzelung in dem, was sein Eigenes war, und da war die nordische Mentalität ein selbstverständlicher Aspekt. Diese Verwurzelung, von der wir annehmen dürfen, daß sie im "klaren kalten Wasser" fließenden Halt fand, sollte ihm zur Basis für die Erkundung neuer musikalischer Landschaften geben. Hier sei vor dem Irrtum, gewarnt, den Begriff der Landschaft bildlich zu nehmen. Zwar haben sich ganze Generationen von Filmmusikkomponisten erfolgreich bei ihm (und in der Klangphantasie teilweise verwandten Tonschöpfern wie Arnold Bax oder Ralph Vaughan Williams) bedient, jedoch ist trotz aller mannigfaltigen Beschwörungen der Stimmung nordischer Mythenwelt Sibelius Musik nur in Marginalfällen deskriptiv stimuliert. Gerade ihm ging es mit einem Idealismus wie nur wenigen Komponisten um die rein musikalische Form, die motiviert ist aus den Triebkräften der motivischen Keime, wo sich das Kleine im Großen und das Große im Kleinen widerspiegelt. Seine Werke sollten knospen, blühen und verwelken wie ein lebendes Wesen. Etwas Mystisches ist dabei am Werke: Wie oft beobachten wir, daß das eigentliche thematische Material wie ein Geheimnis behandelt wird, zunächst noch verhüllt, in seiner wahren Gestalt und Größe noch nicht erkennbar. In der menschlichen Affektwelt entsprechen solchen Vorgängen die Dimensionen der Ahnung, des Naturhaften, der Überraschung. Sibelius Symphonien sind allesamt organisch gewachsene Gebilde, die sich zusehends von den gegebenen Formschemata ablösen. Ist, bei aller Kraft der musikalischen Persönlichkeit und unbestreitbaren Originalität, im 'Kullervo' ein gelegentlicher Einfluß des Mächtigen Häufleins zu vernehmen, in den Lemminkäinen-Legenden ein ferner Widerhall Brucknerscher Riesenschritte zu vernehmen und auch in der Ersten Symphonie einige Male noch eine kräftige Brise Tschaikowskij zu spüren, so darf die Zweite Symphonie vielleicht der nachhaltigste Schritt Sibelius zu sich selbst genannt werden. Die luzide, wie von selbst sich aufbauende, nirgends durch Formklammern gezwungen scheinende Tonwelt, die bei aller innewohnenden Weite, rapsodisch freien Empfindung, ja, Entgrenztheit des motivischen Materials doch knapp, nüchtern und präzise gebaut ist: "klares kaltes Wasser" eben. Der zweite Satz ersteht in gänzlich unprätentiöser Monumentalität, die gesamte Entwicklung nicht nur das Tempo ist breit angelegt, spart Überflüssiges aus und läßt so am Kulminationspunkt und am Satzende die kleinen Bausteine wie Gebirgsmassive aufragen. Am Finale, das aus dem frischen, unverbrauchten Ton des Scherzos hervorwächst wer denkt hier nicht ein wenig an Beethovens Fünfte? scheiden sich nach wie die Geister, und aus kritischer Distanz erscheint dieser Satz vielen als der pathetisch Äußerlichste, am wenigsten Originelle, plakativ Optimistische. Daß alle interpretatorischen Distanzierungsversuche nur auf eine Verstärkung dieser negativen Eindrücke hinauslaufen, läßt sich hörend leicht nachvollziehen ähnlich wie bei Tschaikowskij: das Heroische, Sentimentale, Pathetische wird vor allem dann peinlich, wenn man ihm zu entgehen, es zu vermeiden sucht. Hört man Celibidaches Einstudierung, so wird
man feststellen, daß er seine Musiker die emotionale Spannbreite
voll auskosten läßt, dabei aber und das ist Wesentliche
nie die Position des Moments im Gesamtprozeß aus den
Augen verliert. Bezwingender könnte es nicht sein, und davon
kündet die Begeisterung des damals 19-jährigen finnischen
Komponisten Pehr Henrik Nordgren, der am 12. Juni 1964 anläßlich
Celibidaches einzigem Gastspiel beim Symphonieorchesters des Finnischen
Rundfunks schrieb: "Celibidaches Zugang weicht von Bekanntem
völlig ab. Er lebt intensiv in der Musik. Er ist souverän,
was seine Schlagtechnik betrifft. Um etwas hervorzuheben, läßt
er sich zu einem kräftigen Schlagen der Schuhabsätze hinreißen
oder singt laut mit. Das Orchester gerät mit ihm in die gleiche
Ekstase und auch der Zuhörer unterliegt der suggestiven Kraft
und erlebt die Musik besonders stark: für den Verfasser war
Celibidache das bisher größte Musikerlebnis. Das Radio-Symphonieorchester
hat bisher noch nie so gut gespielt wie in Celibidaches Konzert.
Die Erklärung ist sehr einfach: Celibidache fordert mehr Proben
als irgendein anderer Dirigent. Seine Anforderungen an die Musik
sind nahezu unmenschlich hoch angesiedelt
" Und was die
das Konzert beschließende Zweite Sibelius betrifft,
bemerkte Nordgren: "Celibidache erwies sich von Anfang bis
Ende konsequent hinsichtlich der jugendlich brodelnden Intentionen
des Tonsetzers. Er gab den pathetischen Ausbrüchen noch einen
besonderen Schwung. Auf dem Weg zum Höhepunkt der Symphonie,
dem triumphierenden Finale, baute er eine Steigerung mit unbeschreiblicher
Stärke auf. Celibidaches Persönlichkeit hinterließ
einen unauslöschlichen Eindruck." Ein Jahr später
dirigierte Celibidache in Stockholm zu Beginn seiner stetigen Zusammenarbeit
mit dem Symphonieorchester des Schwedischen Rundfunks die hier dokumentierte
Aufführung. Christoph Schlüren (Booklettext für Deutsche Grammophon CD) |