In der 1880 vollendeten endgültigen
Fassung seiner Vierten Symphonie ist Bruckner zum zweiten Mal nach
der Fünften Symphonie (1875-78) gelungen, was in der 1889-90
entstandenen zweiten Fassung der Achten Symphonie mit völlig
neuartigen zyklischen Mitteln der symphonischen Gesamtdisposition
seine Krönung erfahren sollte: die Überhöhung des
Finales als eigentliches Ziel des symphonischen Baues. Und wohl
nie sonst vermochte die Coda eines Symphoniefinales eine solch soghaft
visionäre Wirkung zu entfalten. Dabei blieb dieser Satz als
Ganzes durchaus einigem Mißverstehen unterworfen. Als beachtlicher
Symphoniker, BBC-Produzent und -Redakteur war Robert Simpson (1921-97)
der eminenteste Kenner und Wegbereiter von Bruckners Musik in England.
Seine Einführungen in Bruckners Symphonien, zusammengefaßt
in dem Band 'The Essence of Bruckner', dürften an sprachlicher
Eindringlichkeit und subtilem Gespür für die musikalischen
Zusammenhänge bis heute unerreicht sein. Im Vorwort zur 1991
erschienenen dritten Auflage bekennt Simpson, die Analysen seien
keinen drastischen Erneuerungen unterworfen worden, "ausgenommen
im Finale der Vierten,
durch das Hören einer revelatory
Aufführung der letzten Fassung unter Sergiu Celibidache, dessen
Tempi das Stück für mich erleuchteten wie nie zuvor".
Wenn Simpson nun in seiner Analyse des Finales der Vierten beim
großangelegten lyrischen Seitenthemenkomplex ankommt (Takt
93, 'Noch langsamer'), so schreibt er über das imitatorisch
geführte Thema im Streichersatz: "Dieses Thema fiel Bruckner
nicht vor 1880 ein [die erste Fassung der Vierten stammt von 1874],
und seine Feierlichkeit fügt sich würdig in den Zusammenhang.
Es muß doppio meno mosso gespielt werden, um seine ganze Weite
zu entfalten; Sergiu Celibidache hat aufs Herrlichste bewiesen,
daß das Finale als Ganzes in Wahrheit ein Adagio ist, und
indem er dieses Tempo über das nächste Thema in Dur hinweg
aufrechterhielt, machte er meine spöttischen Bemerkungen aus
der ersten Auflage dieses Buchs zu Unsinn ('eine leere Zigarettenschachtel,
aufgelesen in Pompeji'). Wir sind es gewohnt, diese Musik doppelt
so schnell als im richtigen Tempo zu hören! Wenn man sie mutig
im langsamen Tempo spielt, wirken die 'aufdringlichen zweitaktigen
Perioden' nicht ermüdend, sondern ruhevoll besonnen, und die
verborgenen Einzelheiten werden klar und ausdrucksvoll
Es
ist schade, daß uns Celibidaches Ablehnung der Schallplatte
einer greifbaren und wiederholbaren Demonstration natürlich
flexibler, aber zugleich im Großen kontrollierter, zueinander
bezogener Tempi beraubt, die den umfassenden, langsamen durchgehenden
Impuls erhalten." Über die entsprechende Stelle in der
Reprise urteilt Simpson: "Hier gibt es ein Problem mit dem
Tempo, welches Celibidache bewundernswert löste, indem er in
der folgenden Passage noch langsamer wurde
Im richtigen langsamen
Zeitmaß ist es nicht (wie ich 1966 einwendete) 'stagnierend'
das passiert nur, wenn es zu eilig genommen wird
In
den Tempi, die die meisten Dirigenten anschlagen, mißlingt
es
aber sie sind es, die dafür zu tadeln sind,
und nicht Bruckner."
In seinen späten Münchner Jahren galt Celibidache in weiten
Kreisen als "Bruckner-Spezialist", und manche Experten
konnten einfach nicht genug bekommen von Klischees wie "Entdeckung
der Langsamkeit" oder gar "Bedächtigkeit". Sie
lagen und liegen daneben. Celibidache ging es nie um Langsamkeit
als Zustand, als anzustrebende Größe. War etwas langsam,
so war es musikalisch begründet, wie auch die Untersuchungen
Simpsons nachdrücklich belegen. Und wenn man den Konzertmitschnitt
des Symphonieorchesters des Schwedischen Rundfunks von den Berliner
Festwochen im September 1969 hört auf dem Höhepunkt
der langjährigen engen Zusammenarbeit Celibidaches mit diesem
Orchester , so wird wohl kaum jemand als besonderes Charakteristikum
'Langsamkeit' heraussstreichen wollen.
Später wurde Celibidache in den meisten Werken nachweislich
langsamer dies nicht so sehr in der Stuttgarter Zeit als
vielmehr während der letzten siebzehn Jahre bis zu seinem Tod
als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Die Verbreiterung
war physikalisches Nebenprodukt des immer tieferen Eindringens in
alle verschlungenen Details, die Celibidache immer hinsichtlich
ihrer Funktion im Gesamtzusammenhang begriff. Die daraus resultierende
extreme Langsamkeit der allerletzten Zeit mag den meisten Hörern
im Konzertsaal nicht langsam erschienen sein. Da jedoch keine Aufnahme-
und Wiedergabetechnik der Welt die reale Saalakustik in ihrem gesamten
Reichtum, in ihrer völligen räumlichen Echtheit wiederzugeben
imstande sein wird, da somit viele Feinheiten verlorengehen, die
für die von Celibidache geforderte Sensibilisierung maßgeblich
waren, erscheinen viele dieser Aufnahmen nun doch auch bei intensivster
Hörleistung langsam, folglich "zu langsam".
Solches läßt sich vom Celibidache der sechziger und siebziger Jahre
schwerlich behaupten. Natürlich ist da öfters mehr äußere
Verve, Drang, Feuer und vibrierende Intensität verbunden mit
weniger Ruhe, Fülle, Weite und Gelassenheit. Ein prinzipieller,
musikalischer Unterschied zwischen den früheren und späteren
Aufnahmen besteht jedoch nicht.
Celibidaches grundsätzliche Haltung, jedes Detail aus dem Zusammenhang
begreifen zu wollen, als Funktion eines lebendigen Ganzen, fand
in Bruckners Musik die ideale Entsprechung: "Keiner hat es
wie er vermocht, auch bei maximaler Gegensätzlichkeit der Gedanken
immer die Identität von Anfang und Ende zu erleben. Alles hängt
mit allem zusammen." Daß ihm die Zerrissenheit Gustav
Mahlers umso ferner lag, kann da nicht verwundern. Celibidache brauchte
die Orientierung, die Motivation aus dem Gesamtzusammenhang, aus
dem Erleben der "Gleichzeitigkeit der kruzialen Momente: Anfang,
Höhepunkt und Ende", um überhaupt jenen Akt der Befreiung
von der Vielfalt des Erklingenden ermöglicht zu finden, der
ihm erst Musizieren bedeutete. Es versteht sich ebenso, daß
solches Musizieren sich anders definiert als es die Konvention vorsieht,
wie es eben überhaupt keine Definition für Musik geben
kann. Denn in ihrem nichtgegenständlichen Wesen kann sie nicht
gedacht werden. Was kann demzufolge Bruckners Vierte Symphonie dem
wachen Hörer geben? "Was du an Bruckner schätzst,
ist nicht 'seine Musik', sondern was seine Klänge in Dir hinterlassen,
was absolut nicht faßbar, nicht zu definieren ist"
soweit Celibidache.
Christoph Schlüren
(Booklettext für Deutsche Grammophon CD)
Simpson, Originaltext aus
"The Essence of Bruckner", 3. Auflage
(London, Victor Gollancz Ltd., 1992):
The analyses of these works were therefore in no need of drastic
renewal, except in the Finale of No. 4, for a different reason,
the hearing of a revelatory performance (of the final revision)
under Sergiu Celibidache, whose tempi illuminated the piece for
me as never before. (p. 9)
This theme (bar 93) did not occur to Bruckner until 1880, and its
gravity is worthy of the context. It needs to be played doppio meno
mosso for its full breadth to emerge; Sergiu Celibidache has magnificently
shown that the whole of this Finale is really an adagio, and by
maintaining the slow tempo through the next theme in the major (bar
105) made nonsense of my derisive remarks in the first edition of
this book ('an empty cigarette packet picked up in Pompeii'). We
are used to hearing this music at twice its proper tempo! Played
courageously slowly the 'fussy two-bar periods' become not tiresome
but calmly deliberate, and the inner details become clear and expressive.
The continuation floats gently at this pace. (bar 109) Its rhythm
dates from 1878, replacing smooth and less characterful quintuplets.
We must now be aware that this Finale is not going to be mobile
in any obvious way, that its positive attribute is in fact a great
static quality, and the firm adoption of a slow tempo here preserves
a vast quiescent motion that seems to have been lost in less patient
performances. It is a pity that Celibidaches refusal to make
records has robbed us of a readily available and repeatable demonstration
of naturally flexible but monumentally controlled, related tempi
that preserve the vast slow momentum. (p. 106)
There is a problem of movement here, and Celibidache solved it admirably
by going slower still in the following passage; what at a faster
speed seems desultory treatment (of Exx. 18 and 19) becomes when
properly paced a natural relaxing transition to a reappearance (of
Ex. 17 in f-minor, bar 269). At its correct slow pace, this does
not (as I averred in 1966) 'stagnate' it does this only if
hurried. Its deliberation and its eventual concentration into rhythmic
repetition on the dominant of A (bar 291) creates a hushed tension
that has to be relieved by another massive tutti. At the speeds
adopted by most conductors, the passage fails as castigated in the
earlier editions of this book but it is they who are to blame,
not Bruckner, to whom I offer an abject apology. (p. 107-08)
|