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Celibidache dirigiert Strauss und Respighi

Tiefe und Frivolität
 

Sind Richard Strauss’ Werke aus dirigentischer Sicht wirklich in erster Linie "Fundgruben zum Ausleben für einen Kapellmeister", wie Arthur Nikisch von Donat Danielson zitiert wird? Tummelplätze des großorchestralen Effekts, klug psychoanalytisch manipulierter Klangemotionen? Für Sergiu Celibidache nicht. Auch für ihn waren die oft dargelegten, allzu offenkundig auseinanderstrebenden Stärken und Schwächen des Münchner Meisters außer Frage, und seine Haltung dazu lag nicht allzu fern derjenigen des tief verehrten Wilhelm Furtwängler, der in Tod und Verklärung "dies geniale ´Theater» des jungen Strauss" sah und, vor Strawinskys dahingehenden Expeditionen, exemplifizierte: "Man denke sich R. Strauss oder Strawinsky eine Messe schreiben! So sieht man, was an ihnen dran ist. Fern von wirklichen Inhalten. Aber ––– virtuos!" Denn, so Furtwängler (unter typisch deutscher Verkennung Debussyscher Werte): "Mit Mahler, Strauss, Reger, Debussy fängt die Technik an, sich vom Erlebnis zu entfernen, selbstherrlich zu werden. Verflüchtigung der Substanz, ästhetische Zeitbedingtheit und zugleich Publikumsform ist charakteristisch." Und, spezifischer: "Der spielerische Zug bei Strauss: Nicht das Spielen des Kindes, das eigentlich bitterer Ernst ist, sondern das bewußte Spielen des Verantwortungslosen, Inhaltslosen, Überflüssigen. Da er es nie ganz wahr, ganz warm, ganz ernst meint, so wird er vom Hörer auch nie ganz wahr, ganz warm, ganz ernst genommen und empfunden. Er ist unter allen der, der am meisten ´kann» und am wenigsten ´ist». (Beides hängt übrigens kausal zusammen.)" Nicht nur dieses: "Strauss’ Werke: Als Äußerung schwungvollen Entfesseltseins suchen sie ihresgleichen. Was aber entfesselt wird, ist nicht der Rede wert. Er bezahlt seinen Schwung mit seiner Banalität, respektive diese macht jenen erst möglich."
Diese klaren Einsichten hielten Furtwängler nicht davon ab, Strauss zu dirigieren – sogar die Symphonia domestica, auf welche seine Ausführungen in besonders decouvrierender Weise zutreffen. Celibidache, nach dem Krieg Furtwänglers Statthalter an der Spitze der Berliner Philharmoniker, hat dieses Werk nie dirigiert. Wie er überhaupt wählerisch war mit Straussens Werk. Also sprach Zarathustra (gegeben in Berlin im September 1949) wird man später vergeblich auf seinen Programmen suchen (wohl vor allem des nur programmatisch, nicht aber musikalisch plausiblen, unaufgelösten Schlusses wegen), Aufführungen von Macbeth und der von ihm als besonders äußerlich deskriptiv abgelehnten Alpensinfonie sind nicht bekannt. Opern hat er sowieso keine dirigiert. Dagegen studierte er recht häufig Don Juan, Tod und Verklärung und Till Eulenspiegels lustige Streiche ein und einige Male Don Quixote (in Kopenhagen und München), Ein Heldenleben (in Stuttgart und München) und die Vier letzten Lieder (mit Gundula Janowitz bzw. Jessye Norman) und einige weitere Orchesterlieder. Ein Kuriosum am Rande ist der hohl auftrumpfende Feierliche Einzug der Ritter des Johanniter-Ordens, 1985 in einer Matinée zur Eröffnung der Münchner Philharmonie ("auf Drängen der Strauss-Familie", so Celibidache) beigesteuert. Außer Heldenleben, Don Juan und Tod und Verklärung musizierte das Radiosinfonieorchester Stuttgart unter seiner Leitung bereits 1965 Till Eulenspiegel, was in einer eindrucksvollen Fernsehaufzeichnung von Probe und Konzert dokumentiert ist.

Was Celibidache an Strauss, wie stets fern ideologischer Implikationen, bemängelte, war beispielsweise die "oft gewaltsame Instrumentierweise: Nehme ich acht Hörner, vier Flöten usw., so kommt’s natürlich durch (je verstimmter die Hörner, desto dramatischer!)…" Denn "Strauss setzt auf Quantität, was nicht immer hilft, und die dreigestrichene Oktave im Holz kann die zweigestrichene im Blech nicht ausgleichen." Um die praktische Effektivität der Strauss’schen Orchestration wissend, griff er den Meister der Trickkiste umso ungeschminkter an, wenn diesem ein kleinerer Mißgriff unterlief. Er attestierte ihm insbesondere einen "fantastischen Instinkt für die Pauke: wann Schläge, wann Tremolo", sah ihn aber auch, im Gegensatz zu Mahler oder Debussy, keineswegs frei von "Klischee-Instrumentation". Worin Celibidache hingegen Richard Strauss große Bewunderung zollte, war die souveräne Meisterung der Form bei der Verwendung solch heterogener Mittel, bei all dieser luxuriösen Liebe zu kleingliedrigem Gebärdenspiel, zu virtuoser Überfrachtung.
In vielerlei Hinsicht (Tiefe der Empfindung, auch die Tempi betreffend) steht Celibidaches Strauss demjenigen Furtwänglers am nächsten. Doch verfügt er trotz der oft sehr breiten Gangart über jene beflügelte Leichtigkeit und sanguinische Frivolität, die unbedingt dazugehören und Strauss eigenen Deutungen in höchstem Maße eignen. In Celibidaches Durchdringung erfahren die Strauss’schen Tondichtungen im Ausloten und finalen Vereinigen dieser äußersten Gegensätze eine organische Folgerichtigkeit, die nur möglich ist aus dem Erleben jeder spezifischen Situation in ihrem Bezug zur Gesamtgestalt, sozusagen einer omnipräsenten Orientierung "hinsichtlich der cruzialen Momente: Anfang, Höhepunkt und Ende".
Nicht anders verstand Celibidache den vielgeschmähten Ottorino Respighi, ohne die beiläufige Arroganz eines Otto Klemperer ("…dirigierte etwas von Respighi, ich glaube, es heißt Die Pinien von Rom. Für mich ist es ein entsetzliches Stück…") oder Claudio Abbado (Paradebeispiel für das, was er nicht dirigiert) der Grenzen dieser Musik wohlbewußt: "Respighis Instrumentation ist wirkungssicher, aber weit weniger genial als die eines Verdi. In ihm war recht wenig los, und er wollte es durch Instrumentation bereichern, auffüllen." Hört man die Pini presso una catacomba unter Celibidache, so darf man staunen, welche erzählerische Qualität, welchen sublimen Zauber der introvertierte Abstieg, welche Suggestivkraft das Anwachsen der Streicherbewegung entfaltet, wie erst zum Höhepunkt hin die Blechbläser majestätisch bestimmen. Das vollständige Ausreizen der impressionistischen Palette in den Pini del Gianicolo untersteht nur einem Gesetz: dem des zwingenden Zusammenhangs. Distanziertes Vermeiden wirkt hier weit sentimentaler als jene hingebungsvolle Sinnlichkeit, die jeden Moment in seinem Bezug zum Gesamtprozeß begreift. Und dann ist der Nachtigallengesang nichts weiter als atmosphärische Dekoration am Übergang zum aus antiker Ferne herauftönenden Triumphmarsch zum Kapitol.

Christoph Schlüren

(Booklettext für Deutsche Grammophon CD)