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Bruckner III

Eine leichte Willkür in des Adlers Schwingen

Mit vielen seiner Symphonien hat Anton Bruckner lange und wiederholt gerungen, ehe sie endgültige Gestalt annahmen. Die Vierte und die Achte Symphonie liegen in je zwei teils sehr unterschiedlichen Fassungen vor ( bei der Vierten kommen noch weitere Abweichungen hinzu), wobei in beiden Fällen die spätere aufgrund eindeutiger Qualitätsmerkmale als gültige anzusehen ist. Dagegen blieb die 1891 abgeschlossene Wiener Fassung der Ersten Symphonie mit der Einschmelzung reiferer Stilelemente umstritten. Am langwierigsten aber rang Bruckner mit seiner Dritten. Die 1873 entstandene erste Fassung erfuhr 1876-77 nach Fertigstellung der Fünften ihre entscheidende Umgestaltung, im Zuge derer Bruckner vor allem die offensichtlichen Wagner-Huldigungen eliminierte und größere Klarheit der Form erzielte. Auf Anraten seiner Anhänger ließ er sich über zehn Jahre später zu einer weiteren Überarbeitung des Werks bewegen, die er – nach Vollendung der Erstfassung der Achten – 1888-89 gemeinsam mit seinem Schüler Franz Schalk vornahm. Diese dritte Fassung ist die bis heute im Konzertleben übliche. Unter Bruckner-Experten gehen die Meinungen darüber auseinander, und viele ziehen die zweite Fassung vor. Im Rahmen der ersten großen Bruckner-Ausgabe durch Robert Haas im Brucknerverlag Wiesbaden legte Fritz Oeser 1950 ausdrücklich nicht die dritte, sondern die zweite Fassung vor. Viele sehen in der dritten Fassung eine teilweise Verstümmelung der Intentionen Bruckners, wenngleich der Meister die Eingriffe hier selbst guthieß. Man hat an der dritten Fassung im Vergleich mit der zweiten weniger das Wegfallen einiger wundervoller Passagen (Takte 136-145 im Adagio) und die unvermeidlichen Reifestil-Übernahmen beanstandet als die Zerstörung der Formordnung, des formalen Gleichgewichts im Finale, wo von der Reprise nun nur ein Torso übrigblieb. Oeser schrieb dazu im Vorwort zu seiner Ausgabe der zweiten Fassung: "Der Fortfall der Reprise des Hauptthemas (T. 379-432) ist schon deshalb abzulehnen, weil Bruckner von sich aus in keinem Symphoniesatz diesen Tragpfeiler der Sonatenform aufgegeben hat. Hier war der Punkt, wo die Berater immer mit ihren Kürzungsvorschlägen einsetzten und wo Bruckner, mußte er mit Rücksicht auf die Aufführungsdauer nachgeben, am ehesten zu Zugeständnissen bereit war… Wahrscheinlich war sie eine Aufführungsanordnung gleich der anderen, die mit 'Vi-' bei T. 465 beginnt, ohne daß ein '-de' darüber aufklärt, wo die Kürzung enden soll. Aufschluß darüber gibt der Klavierauszug Gustav Mahlers, der nämlich die Takte 465-514 gar nicht enthält; das legt den Gedanken nahe, daß Mahler an dem Kürzungsvorschlag beteiligt gewesen sein könnte. Offensichtlich hat Bruckner (wie er es später auch bei der Achten wünschte) auf die Aufnahme des Notentextes dieser Partie in die Druckpartitur bestanden und ist erst 1888 veranlaßt worden, den Strich endgültig zu akzeptieren.
Würde Bruckners Formsinn freiwillig kaum verfügt haben, daß durch die Tilgung der Hauptthema-Reprise zwei gleichgeartete Entwicklungen des Gesangsthemas sich aneinander schließen, so treffen die Kürzungen gegen das Ende des Satzes den Lebensnerv des Finales. Der Sprung von 463 auf 515 (der Mahlersche Sprung also) ist jetzt durch einen geradezu peinlich wirkenden 'Notübergang' ('accel.') geklittert; ob dieser von Bruckner stammt, scheint genauso fraglich, wie der in den Überleitungstakten 63-64."

Eine komplizierte Situation also, und nicht so eindeutig, wie Oeser sie gerne vermittelt hätte. Bruckner pflegte nicht seine endgültige Zustimmung zu geben, wenn die von außen an ihn herangetragenen Veränderungen fatale Folgen für den formalen Zusammenhang nach sich zogen. Er muß von tiefer Unsicherheit über die Beschaffenheit seiner Dritten bewegt gewesen sein.
Nach dem schrecklichen Mißerfolg der Uraufführung der zweiten Fassung am 16. Dezember 1877 brachte die Uraufführung der dritten Fassung durch die Wiener Philharmoniker unter Hans Richter am 21. Dezember 1890 einen umso größeren Erfolg, worüber Bruckner an seinen Biographen August Göllerich schrieb: "Ich bin noch zu ergriffen von der Aufnahme des philharmonischen Publikums, welches mich wohl zwölfmal gerufen hat, und wie!!" Ernst Schwanzara zitiert Bruckner in seinen Aufzeichnungen von dessen 'Vorlesungen über Harmonielehre und Kontrapunkt an der Universität Wien' vom 29. Oktober 1894: "Aus Nordamerika habe ich eine Zeitung bekommen. Ah, da möchten’S schaun! Wie die sich meiner annehmen! Und in Paris ist meine III. Symphonie aufgeführt worden. Ein Freund hat mir eine französische Zeitung gebracht und die Kritik über mein Werk übersetzt. Was da drinnen gestanden ist! Die Mutter des Königs von Serbien war auch bei der Aufführung und hat nachher gesagt: 'Schade, daß der Bruckner nicht Reklame zu machen versteht! Wenn alle jene, deren Namen jetzt die Zeitungen mit Jubel erfüllen, nicht mehr gekannt sein werden, wird dieser Adler erst anfangen, seine Schwingen auszubreiten'." Bruckner, so ergänzt Schwanzara, "erzählte dies mit sichtlicher Freude, aber – wie sonst immer – ganz bescheiden, ohne jegliche Selbstüberhebung".
Sergiu Celibidache entschied sich nach Abgleichung der Fassungen der Dritten Symphonie für diejenige von letzter Hand. Zum einen hielt er es auch sonst mit Bruckners letztem Willen, dem ja in anderen Fällen bedingungslos zu trauen ist. Zum anderen erkannte er in dieser, der "ersten ganz großen Bruckner-Symphonie", grundsätzliche Probleme in der Form nicht nur des Finales, sondern auch des zweiten Satzes (dem Adagio – in vorliegendem Stuttgarter Konzert besonders geglückt! –, welchem er "eine leichte Willkür" attestierte), die in keiner der drei Fassungen beherrscht sind. Zweifellos lag Celibidache richtig, wenn er einem so zielbewußten Neuerer der Form, wie Bruckner es war, manche Unausgeglichenheiten bereitwilliger nachsah als konventionelleren Geistern. In keiner anderen Symphonie Bruckners herrscht ein solches Übergewicht des Kopfsatzes wie in seiner Dritten. An diesen monumentalen Wurf konnte Bruckner nicht vollkommen adäquat anknüpfen, was den Wert von Adagio und Finale wohl relativ, nicht aber absolut minder scheinen läßt.

Christoph Schlüren

(Booklettext für Deutsche Grammophon CD)