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Symphonische Synthesen

Franck: Symphonie / Hindemith: Mathis-Sinfonie

Der naive geistliche Musikant Franck neigt in seiner 1886-88 komponierten Symphonie in einem Maß weltlicher Sinnenfreude zu, daß dieses Stück zum Klassiker in den Konzertsälen wurde, während der raffinierte weltliche Musikant Hindemith in 'Mathis der Maler' und der Sinfonie daraus sich von der provokativen, oftmals lausbübischen Haltung seiner revolutionär-neusachlichen Schaffensperiode abwendet und in altmeisterlicher Reife und deutscher Tiefsinnigkeit sakrale Stilelemente dem Musikdrama einverwebt. Die harmonische und kontrapunktische Komplexität beider Werke ist hoch, die Form so kühn und eigentümlich wie zusammenhangsbewußt gemeistert. Letzteres ist es, was für Sergiu Celibidache zeitlebens von besonderer Bedeutung war. Hector Berlioz, Franz Liszt und Gustav Mahler gehörten wahrlich nicht zu seinem bevorzugten Repertoire, indem ihm die weitgehend der Wirkung des Moments verschriebene Bezugslosigkeit und die daraus resultierende formale Willkür keine künstlerische Erfüllung verschaffte (während er trotzdem Einiges von Berlioz dirigierte, darunter immer wieder die 'Symphonie fantastique' und den 'Carnaval Romain', sind dem Verfasser nur je ein Werk von Liszt und Mahler bekannt, die Celibidache geleitet hat: 'Les Préludes' und die Kindertotenlieder).
So populär César Francks d-moll-Symphonie auch ist – mit fast allen der großen, legendären Dirigenten existieren Aufnahmen, und wohl jeder führte sie im Repertoire –, hat es doch nie an Stimmen gemangelt (zumal in Deutschland), die ihm weichliche Sentimentalität vorwarfen und melodische Banalität. Über das beim Publikum besonders beliebte Englischhorn-Thema des Mittelsatzes schreibt Charles Rosen (in 'Musik der Romantik', Salzburg 2000/Englisches Original: 'The Romantic Generation', Cambridge/Mass. 1995): "Darius Milhaud hat seinen Schülern diese Stelle als ein abschreckendes Beispiel vorgeführt, um zu zeigen, was passiert, wenn sich ein Komponist nicht von einem Ton zu lösen vermag. Bei Franck wird das F bei fast jedem Erscheinen durch einen vollkommenen Dreiklang in Grundstellung harmonisiert, bei den meisten handelt es sich dazu um Tonikaklänge. Der Einfallsreichtum von Chopins Repetition steht dazu in auffälligem Gegensatz…" Nun dürfte es außer Zweifel stehen, daß Francks Symphonie nicht aufgrund ausnehmend genialer Themen eine Sonderstellung beansprucht. Seine Melodien sind primär eingängig und gefällig, und mit dieser unmittelbaren Einprägsamkeit steht ihm ein wirksames Gegengewicht zur komplizierten chromatischen Harmonik zur Verfügung. Die besondere Kunst liegt bei ihm in der großflächigen Disposition der Harmonik und, damit verknüpft, in der eigenartigen und dabei klaren, zielgerichteten Formung. Im Kopfsatz von langsamer Einleitung und Allegro-Hauptsatz zu sprechen, heißt, die tatsächliche Beschaffenheit zu verleugnen. Vielmehr sind es die zwei Tempo-Qualitäten, deren Kontrast die Physiognomie des ganzen Satzes bestimmt, und an den entscheidenden Punkten kehrt das Lento wieder, sei es, in machtvoller Imitation, am Höhepunkt, oder, in Andeutung, zu Beginn der Coda. Harmonisch liegt ein ähnlicher Kontrast zugrunde, und Franck selbst hat geäußert, der Satz stehe zugleich in d-moll und f-moll. Auch sonst sollte man in dieser Symphonie nicht zu sehr nach konventionellen Merkmalen suchen. So haben viele Kommentatoren im Mittelteil des zweiten Satzes, einer Art flüchtigem Trio, einen Ersatz für das Scherzo herauszulesen versucht. Höchst eigentümlich ist auch das Klangbild dieses Werks mit Englischhorn, Baßklarinette und zwei Kornetten zusätzlich zur vollen romantischen Holz- und Blechbläserbesetzung. Der Klang ist dunkler als ein typisch französischer, die Sprache weicher und eleganter als die Wagners oder Brahms’. Im Finale versucht Franck, die Themen der vorangegangenen Sätze auf organische Weise einzuweben, was sehr beeindruckend ist, aber doch Fragen offen läßt: Warum z. B. entschärft er die Apotheose des Themas aus dem Mittelsatz, indem es zuvor schon in aller lyrischen Schönheit sich ausbreitet? Stilistisch findet in dieser Symphonie eine Synthese deutscher und französischer Qualitäten statt, was sich idealerweise in der Aufführung niederschlagen sollte. Celibidache gelang es, die Leichtigkeit, Eleganz und Eloquenz des französischen Stils – wie sie besonders eindrücklich Charles Münch zum Ausdruck brachte – mit der Breite, Großflächtigkeit und herben Polyphonie deutscher Provenienz zu einem bezwingendsich ausfaltenden Tondrama zu vereinen.

Viele neigen dazu, es als Schwäche und Rückschritt des anfangs so revolutionär agitierenden Paul Hindemith auszulegen, daß er sich dem Gang in die Atonalität – also in die harmonische Beziehungslosigkeit – verweigerte und auf einer bis an die Grenzen des Fassungsvermögens erweiterten – man könnte auch sagen: freien – Tonalität bestand, die er mit seiner unverkennbar eigenen Sprache erkundete. Für Celibidache war diese jeglicher Konzession an die Konjunktur abholde Haltung ein schlagender Beweis von Charakter und Musikalität – eine Haltung, von der Hindemith nie mehr abwich und die ihm schließlich zu Unrecht den Ruf eines geradezu konservativen, hemdsärmeligen Handwerkers eintrug, wo eigentlich nur der Begriff 'Personalstil' angebracht ist – ein Personalstil, den die Nationalsozialisten nicht weniger verachteten als die Serialisten nach dem Krieg, und es ist schon eine höhnische Kapriole der Geschichte, daß sich um so ein unpolitisches Kunstwerk wie die Oper 'Mathis der Maler' 1934 der "Fall Hindemith" und, als Konsequenz der völkischen Hatz, Ahndung von Zivilcourage, der "Fall Furtwängler" entspann. In der Sinfonie 'Mathis der Maler' ist Hindemith eine vollendete Synthese aus der Tradition gewachsener Handwerklichkeit und auf der Höhe der Zeit stehender, persönlicher Ausdrucksweise geglückt – wie eine späte Erfüllung von Busonis Forderung nach einer "Neuen Klassizität". Ob man bezüglich der Einschätzung von Hindemiths weiterem Werdegang Furtwängler zustimmt, ist eine andere Frage. Dieser schrieb 1952 an Hindemith nach der Uraufführung der Sinfonie 'Die Harmonie der Welt': "Das Werk selber hat dem Orchester und vor allem mir selber, je länger wir uns damit befaßten, desto mehr Freude gemacht. Mir scheint es das beste aller ihrer bisherigen Orchesterwerke zu sein…" Celibidache hat zeitlebens viel Hindemith dirigiert, und nicht nur Schlachtrösser wie die Mathis-Sinfonie oder die Sinfonischen Metamorphosen Carl Maria von Weberscher Themen (zu seinem Repertoire gehörten u. a. auch: 'Philharmonisches Konzert', 'Der Schwanendreher', Symphonie in Es, Klavierkonzert von 1945 und Cellokonzert von 1940, Lieder aus dem 'Marienleben' und einige der frühen 'Kammermusiken'), und es dürfte keinen Kollegen gegeben haben, der mit diesen Werken so intensiv vertraut war wie er. Wo sonst wäre die kontrapunktisch verschachtelte Faktur so lebendig und deutlich in ihrer Hierarchie und Linearität hörbar gemacht und eingebunden in einen suggestiv sich ergebenden, sinnfälligen Zusammenhang? Die durchweg sangliche, weitschauende, aufs Subtilste die harmonischen Spannungsverhältnisse berücksichtigende Phrasierung läßt die Musik mit einer auratischen Strahlkraft triumphieren, die alle vermeintliche Kunstgewerblichkeit souverän transzendiert. Nur eine solcherart angemessene Aufführung – mit einem Orchester, das in äußerster Vertrautheit, Klangkultur, Konzentration und Hingabe wie ein Organismus funktioniert, der mit dem Werk-Organismus 'übereinklingt' – läßt keinen Zweifel daran, daß Hindemith nicht nur ein Könner war (Kurt Weill zu Stuckenschmidt nach der Uraufführung von 'Neues vom Tage': "Verglichen mit ihm sind wir alle Dilettanten"), sondern ein Genie.

Christoph Schlüren

(Booklettext für Deutsche Grammophon CD)