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Erlebte Struktur

Zu Celibidaches Debussy

Sergiu Celibidache leistete bei der Musik Claude Debussys die Paradoxie, einerseits ihren Charakter des Vagierenden, scheinbar Ziellosen aufs Sinnlichste herauszuarbeiten, andererseits jedoch den übergreifenden dynamischen Zusammenhang in bezwingender Weise ins Werk zu setzen. Er hat immer wieder betont, er habe keinen Dirigenten je gehört, der das Zusammenhängende, die völlig unakademisch sich konstituierende lebendige Form bei Debussy zu verwirklichen imstande gewesen sei. Daß ein "rein strukturelles Verständnis" von Debussys Werken nicht nur den oft als atmosphärisch betörend, ja lasziv beschriebenen Charakter völlig verfehlt, hat mancher prätentiös angesetzte Interpretationsversuch großer Pultideologen gezeigt. Man muß sich an den Klang verlieren können, ohne sich im Klang zu verlieren. Celibidache mochte nur solche Kompositionen, bei denen es ihm und seinen "Fahrgesellen" (den Orchestermusikern) möglich sein konnte, "über den Klang zu kommen". Über den Klang kommt man freilich nur durch den Klang, was kaum je offenkundiger ist als bei Debussy, denn "der hat gar nicht instrumentiert, sondern bei ihm ist alles aus dem Instrument erfunden". Wobei das Instrument (in diesem Sinne ist auch das Orchester ein Instrument) – im Gegensatz zu sogenannter Kapellmeistermusik – für seine Imagination keine Fessel bedeutete, sondern in seinen Möglichkeiten als Katalysator schöpferischer Freiheit und Unvoreingenommenheit funktionierte.

Denn "Debussy kommt von nirgendwo her und entzieht sich jeglicher Definition. Er hat nichts vorgefunden, wovon er zehren konnte". In den Proben galt es nun, dieses von allen Fesseln der Konvention Losgelöste eben nicht als wundervollen Reigen impressionistischer Bilder zu entfalten, sondern – aus dem alle Details gebärenden inneren Zusammenhang heraus erlebt – zu einer organischen Einheit zu bündeln, die "nur so und nicht anders" sein kann. Es mag paradox scheinen, daß diese Bündelung bevorzugt einhergeht mit einem im Rahmen des Korrelierbaren maximalen Auskosten der Einzelheiten. Jedoch ergibt sich musikalische Struktur stets aus dem gerichteten Zueinander der einzelnen Artikulationen und kann kein abstraktes Dasein an sich haben wie eine mathematische Größe – da sie erlebte Struktur ist.

Christoph Schlüren

(Booklettext für Deutsche Grammophon CD)