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"Ich liebe Stein!"

Zum 100. Geburtstag von HARALD SÆVERUD

Kjempevise-Slåtten, Harald Sæveruds "Canto rivoltoso", war die klingende Antwort auf den Anblick deutscher Baracken mitten in der idyllischen Natur des besetzten Norwegen. Sein Bruder war aktiver Widerstandskämpfer. Harald Sæverud (1897-1992), dessen entlegene Ansiedlung Siljustøl Schutzsuchenden aus Bergen Unterschlupf gewährte, war der Anführer des musikalischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten. Am 17. April feiert Bergen den 100. Geburtstag von Norwegens bedeutendstem Sinfoniker und eigentümlichstem Komponisten. Wie Edvard Grieg den Höhepunkt der Nationalromantik verkörpert, so ist Sæverud die zentrale Figur der klassischen Moderne, flankiert von beachtlichen Kollegen wie Klaus Egge und Ludvig Irgens-Jensen. Sæverud war kein Romantiker. Alles Überladene widerstrebte ihm, den Wagnerianismus lehnte er ab, ihn zog die asketische Haltung eines Malers wie Ribera an. Auf glatte Clarté, Eleganz und alles Dekorative gab er nicht viel. Als sein Berliner Professor Friedrich E. Koch monierte, in seiner Musik sei "so viel Stein", konnte Sæverud nur freimütig erwidern: "Ich liebe Stein!"
1987 ging der baskische Geiger-Komponist Ricardo Odriozola von Bilbao nach Bergen, um bei dem alten Mann zu lernen, was woanders nicht zu lernen war: "Sæverud galt als der große Sinfoniker, aber seine Haltung war fern von Grandiosität. Es war für mich, als führte er mich zurück zur Quelle aller Musik, ja allen Lebens: Pflanze, Tier, Mensch - alles kommt von der kleinsten Zelle, die sich dann zu etwas viel Größerem, Komplexerem entwickelt. Das war sein Zugang zum Komponieren: Man fängt mit etwas ganz Kleinem an, und indem man der Intuition folgt, folgt man den Möglichkeiten des Wachstums, die in dieser Zelle liegen. Sæveruds Verhalten war sehr unmittelbar. Er ließ sich von allem, was um ihn herum geschah, berühren. Darum auch wechselten seine Stimmungen, seine Gesten so schnell, so abrupt. Sæverud war keineswegs launisch. Er war ganz Schöpfung der Natur, die stets auf ihr Umfeld reagiert. Er war immer wachsam. All das schlug sich in seiner Musik, in der Art, das Material zu behandeln, nieder." Sæverud wurde an einem Ort in Bergen geboren, der einst sowohl Friedhof als auch Hinrichtungsstätte gewesen war. Darauf führte er seine Vorliebe für Molltonarten zurück, und er meinte, er habe "Melancholie und Dunkelheit mit der Muttermilch aufgesogen". Früh kam die zunächst wohlhabende Kaufmannsfamilie durch den väterlichen Konkurs in Not, und Harald, eines von acht Kindern, flüchtete sich in die Welten der Musik und der Natur. Ab 1915 studierte er bei der berühmten Pianistin Borghild Holmsen (einer Reinecke-Schülerin) und komponierte 1916-18 seine erste Sinfonie, die er in Kristiania (dem heutigen Oslo) Christian Sinding zeigte. Sinding war beeindruckt von der urtümlichen Talentprobe, verstand aber die Mentalität Sæveruds keineswegs: Er kritisierte die kurzen Motive und die unkonventionelle Orchestration.

1920-22 studierte Sæverud bei dem akademischen Koch in Berlin und erwarb sich die gängigen Techniken und Einblick ins Musikleben, um hernach umso entschlossener auf dem zu bestehen, was ihm vorschwebte. Zurück in Bergen, schlug er sich als Klavierlehrer und geradliniger Kritiker durch. Carl Nielsen begeisterte sich nachhaltig für die Werke Sæveruds, der 1925 zusammen mit seinem jugoslawischen Maler-Freund Bozidar Jakac eine Reise nach Paris und Nordafrika unternahm. 1933 dirigierte er seine zweite Sinfonie mit dem Bergener Orchester "Harmonien", und spontan verliebte sich Marie Hvoslef in ihn und eröffnete ihm nach dem Konzert, sie müsse ihn heiraten, was im folgenden Jahr in der New Yorker Town Hall vollzogen wurde. Unter den drei Söhnen der beiden ist Ketil Hvoslef (geb. 1939) heute einer der bedeutendsten Komponisten Norwegens, ein entschiedener Individualist wie sein Vater.
Sæveruds Frau war sehr wohlhabend. Sie ermöglichte ihm die Gründung der Gesellschaft "Ny Musikk", und in Siljustøl erbauten sie ihr schloßartiges Domizil, wo Sæverud nun Werk um Werk schuf und seinem Land eine neue, rauhe musikalische Identität verschuf. Er war ein singender Baum, der dem stillen Gesang der Steine, der Gräser jene karge, ungekünstelte Schönheit ablauschte, die sein ganzes Werk in Vehemenz und Zärtlichkeit durchdringt. Mehr und mehr empfing er auch die Töne des Kindlichen, das beliebte "Rondo amoroso" ist ein ergreifend unprätentiös in Musik gesetzter Dialog: die Fragen des Kindes, die Antworten des Vaters.
Einen unerschöpflichen Fundus von Klavierminiaturen schuf Sæverud in Siljustøl, Literatur allerersten Ranges. Als Sinfoniker stieg seine Reputation mit der fünften Sinfonie, seinem zentralen Widerstandsstück gegen die Besetzer, "bis an die Zähne mit Aggression bewaffnet". Es folgten die knappe "Sinfonia dolorosa" und "Salme", die "Sinfonie von Mutter und Vater". Er wagte es auch, eine neue Musik zu Ibsens "Peer Gynt" zu schreiben, die ganz andere Wege als Grieg ging und viel näher am Geist des Dramas steht: voll drastischer Charaktere, mehr zeichnerisch als malerisch. In der achten und neunten Sinfonie, beides großformatige Werke, in dem herrlichen Fagottkonzert und den drei späten Streichquartetten, seinen wagemutigsten Schöpfungen, erreichte er den Gipfel schöpferischer Eigenart und Konzentration.
Im Rahmen einer umfassenden Sæverud-Edition sind bei Simax nach der kompletten Klaviermusik (3CDs 1116) nun die drei Streichquartette (1141), die Sinfonien Nr. 4-8 mit Kitajenko (2CDs 1144) und weitere Orchesterstücke erschienen (2CDs 3124). Auch BIS fährt mit der Einspielung von Sæveruds sinfonischen Werken fort.
Christoph Schlüren

(Beitrag für Fono Forum, 1997)