Harald Sæverud, Norwegens bedeutendster Symphoniker,
wäre am 17. April 1997 100 Jahre alt geworden. Als er 1992
starb, hinterließ er ein unverwechselbares uvre, nach
Ansicht vieler die "norwegischste Musik", die je komponiert
wurde.
HARALD SÆVERUD
Singende Bäume, tönende Steine
Kjempevise-slåtten ('Canto rivoltoso') op. 22 Nr. 5 aus 'Slåtter
og stev fra Siljustøl' für Klavier Solo, 2. Band op.
22;
Einar Røttingen (Klavier);
Simax/Vertrieb: Disco-Center 3CDs PSC 1116;
(Dauer: 3'20").
Mitten im Kriege, 1942, schrieb Harald Sæverud, Norwegens
bedeutendster Symphoniker, das kurze Klavierstück 'Kjempevise-slåtten',
auch 'Canto rivoltoso' betitelt, das Symbolstück des musikalischen
Widerstands gegen die nationalsozialistische Besetzung Norwegens.
Die gedrängte, intensive Ostinato-Crescendo-Obsession spielte
Einar Røttingen. 'Kjempevise-slåtten' entstammt einem
Zyklus von 20 Klavierminiaturen unterschiedlichsten Charakters,
die Sæverud zwischen 1942 und 1944 schrieb, 1966 um einen
vierten Band ergänzte und unter dem Titel 'Lieder und Tänze
aus Siljustøl' zusammenfaßte.
1933 dirigierte Harald Sæverud das Bergener Orchester 'Harmonien',
das heutige Philharmonische Orchester Bergen, mit seiner zweiten
Symphonie. Nach dem Konzert kam eine Frau Marie Hvoslef hinter die
Bühne und eröffnete spontan dem Komponisten, nach diesem
Erlebnis müsse sie ihn nun einfach heiraten. Sæverud
stimmte dem zu. Ein Jahr später wurde - gegen den erbitterten
Widerstand von Maries Mutter - in der New Yorker Town Hall die Ehe
geschlossen, und sie sollte eine glückliche werden. Marie Hvoslef
war sehr wohlhabend, ermöglichte ihrem Gatten die Mitgründung
der Norwegischen Gesellschaft für Neue Musik und den Bau eines
schloßartigen Domizils zu Siljustøl.
"Es ist eine Spinnerei von mir, daß alles groß
sein muß! Schauen Sie sich das Haus hier an - es hat 86 Türen!...
Das Haus wurde aus Protest gegen die Sardinenbüchsenhäuser
gebaut."
Sæverud etablierte sich als Norwegens führender Symphoniker,
doch waren es keineswegs nur die großen Formen, die ihn interessierten,
wie seine vielen Klavierminiaturen, am bekanntesten darunter die
Siljustøl-Sammlungen, bezeugen - mit Titeln wie 'Fingerhut',
'Ihr letztes Wiegenlied', 'Walzer des kleinen Vogels', 'Scène
macabre', 'Binsen-Seide spielt die Mondschein-Geige', 'Dunkler Traum'
oder 'Rondomoltogâjo'. Aus einigen dieser Stücke spricht
ein unbändiger, knapper, direkter Humor, der mit den für
Sæverud so typischen plötzlichen Wendungen des Geschehens,
jener Unvorhersehbarkeit und detaillierten Finesse operiert, die
doch stets mit motivischer Logik korrespondiert, die Atmosphäre
nicht zerstört, sondern unerwartet erhellt, neue Blicke freigibt.
Sæveruds Welt, seine Affektsprache bewegt sich auf einer sehr
feinstofflichen Ebene, was kraftvolle, ja derbe Gestalten durchaus
einschließt - sein Schaffen kennzeichnet urwüchsige Sensibilität.
Oft sind es nicht die Themen, die so bemerkenswert sind, das Ausgangsmaterial,
sondern die Art, wie diese meist äußerst knappen, auf
das Allernotwendigste reduzierten Motive behandelt werden. Mag das
Basismaterial aber noch so entschlackt, aller überflüssigen
Zutaten entledigt sein, so ist es doch immer äußerst
charakteristisch, hat Entschiedenheit, Individualität. Auch
die seltsamsten Umschwünge haben ihre innere Folgerichtigkeit,
jedes Detail bestimmt in subtiler Weise die Psyche der Gesamtform
mit.
"Ich weiß, daß nichts so schwierig ist wie gute,
einfache, charakteristische Melodien zu schreiben. Man kann sie
nicht schreiben, sie können nur geschaffen werden. -
Alle Gefühle und Stimmungen der menschlichen Seele können
in reine Musik umgewandelt werden. -
Das Unterbewußte leistet die Hauptarbeit. Es arbeitet völlig
zeitlos. Eine Symphonie kann praktisch in einer Nacht entstehen.
90% machen die schaffende Kraft aus, und 10% sollen den Stoff ordnen
und zupassen."
Einar Røttingen spielt nun fünf kleine Stücke von
Harald Sæverud: 'Auf den Saiten eines Spinnennetzes', 'Vorsicht,
Bär!', 'Rendezvous, doch sie kam nicht', 'Rondo amoroso' und
'Der hämmernde Thor'.
'Auf den Saiten eines Spinnennetzes' op. 22 Nr. 4;
(Dauer: 1'05").
'Vorsicht, Bär!' op. 24 Nr. 3;
(Dauer: 1'11").
'Rendezvous, doch sie kam nicht' op. 18 Nr. 1;
(Dauer: 1'41").
'Rondo amoroso' op.14 Nr. 7;
(Dauer: 4'26").
'Der hämmernde Thor' op. 24 Nr. 5;
(Dauer: 1'29").
'Einar Røttingen (Klavier);
Simax/Vertrieb: Disco-Center 3CDs PSC 1116.
Einar Røttingen spielte fünf kleine Klavierstücke
von Harald Sæverud. Das vorletzte Stück, 'Rondo amoroso',
eine seiner populärsten Kompositionen, hat einen für Sæverud
ganz besonderen Hintergrund. Es trägt den zusätzlichen
Titel 'Wilde Blumen an eines Kindes Grab' und entstand aus einem
Zwiegespräch mit einem seiner Söhne: Das Kind fragt, der
Vater antwortet. Es ist eine musikalische Entdeckung kindlichen
Wesens, kindlicher Unschuld.
"Daß ich in dieser Weise Zugang zu einer Kinderseele
finden durfte, ist etwas vom Wunderbarsten, was mir je widerfahren
ist."
Harald Sæverud wurde am Ostersamstag, dem 17. April 1897 in
Nordnesbakken 7 zu Bergen geboren, an einem Ort, der einst sowohl
Friedhof als auch mit Galgen bestückte Hinrichtungsstätte
gewesen war.
"Melancholie und Dunkelheit habe ich mit der Muttermilch aufgesogen."
Sæverud war ein sehr introvertiertes Kind und früh an
Musik interessiert, liebte insbesondere die in Molltonarten stehenden
Gesänge aus Lindemans Psalmen- und Hymnensammlung, vor allem
'Genagelt ans Kreuz auf dem Boden'. Unter den Kindermelodien gefielen
ihm jene im Dreivierteltakt besonders, was sich später in vielen
Walzerkompositionen niederschlug. Seine erste Komposition stand
natürlich in Moll und hieß 'Der Tod der Henne'.
Der Vater Sæverud war ein erfolgreicher Geschäftsmann,
doch kam er 1910 nach dem Bankrott seiner Firma sogar für zwei
Monate in Haft, die Familie erlebte finanzielle Not und soziale
Degradierung. Harald, eines von acht Kindern, flüchtete in
die Magie, in den Zauber der Musik und der umgebenden Natur. Eine
Klavierkomposition des Zehnjährigen heißt 'Reise ins
Märchenland' und zeigt bereits ausgeprägten Eigenton.
Als 15jähriger schrieb er eine Elegie für Geige und Klavier,
von der er in reifen Jahren allen unnötigen Dekor abstreifte,
indem er sie für Solovioline bearbeitete. Sæverud bestimmte
diese herb-innige Huldigung an Bach zu seiner eigenen Begräbnismusik.
Sein Enkel Trond Sæverud spielt die Elegie für Violine
Solo.
Elegie für Violine Solo (1912);
Trond Sæverud (Violine);
Simax/Vertrieb: Disco-Center CD PSC 1087;
(Dauer: 4'55").
Trond Sæverud spielte die frühe Elegie für Violine
Solo von Harald Sæverud. 1915 verließ Harald Sæverud
die Schule und studierte an der Musikakademie Bergen bei der bekannten
Pianistin und Schülerin Carl Reineckes, Borghild Holmsen. Sæverud
hat später immer betont, daß er von niemandem etwas gelernt
habe und alles selbst fand. So komponierte er in den Jahren 1916-18
den ersten Satz seiner ersten Symphonie. Er zeigte die Partitur
in Kristiania, dem heutigen Oslo, dem berühmten Komponisten
Christian Sinding, der über die Maßen beeindruckt war
und kaum glauben konnte, daß ein junger Mann fast ohne Ausbildung
ein solches symphonisches Format vorlegen konnte. Aber als Wagnerianer
konnte Sinding kaum Verständnis für Sæveruds Eigenheiten
aufbringen. Er zog lange Linien und üppigen Klang vor. Bei
Sæverud hingegen war von Anfang an das meiste aus sehr kleinen
Motiven aufgebaut.
Der symphonische Satz wurde 1920 in Kristiania uraufgeführt.
Im April desselben Jahres kam Sæverud nach Berlin, wo er -
beinahe mittellos - an der Musikhochschule bei Prof. Friedrich E.
Koch studierte, einem erzkonservativen Mendelssohnianer, dessen
Stil so überhaupt keine Spuren in Sæveruds Schaffen hinterlassen
hat.
Kurzer Ausschnitt aus:
Friedrich E. Koch, 'Waldidyll op. 20, 2. Satz 'Nixenspuk';
Pallas-Trio;
musicaphon/Vertrieb: Disco-Center CD 56813.
Harald Sæverud war in der Berliner Zeit sehr produktiv, schrieb
seine glutvolle Klaviersonate in g-moll, begann mit der zweiten
Symphonie. Als Prof. Koch kritisierte, in seiner Musik sei "so
viel Stein", erwiderte er:
"Ich liebe Stein. Stein, Fels ist das Fundament unter allem
anderen. Darüber kommt die Erde, die großen Bäumen
wie zarten Blumen Halt gibt."
Kurzer Ausschnitt aus:
Sæverud, Galdreslåtten op. 20 (Danza sinfonica con passacaglia);
Symphonieorchester Stavanger, Alexandr Dmitrjew;
BIS/Vertrieb: Disco-Center CD 762.
Sæveruds Berliner Professor Koch störte sich nicht nur
an der "steinigen" Setzart, sondern auch an der von Sæverud
häufig bevorzugten metrischen Gliederung in kurze betonte und
lange unbetonte Werte. Sæverud wiederum lehnte Kochs Rat,
Orchesterwerke zuerst in Klavierfassung zu notieren, ab, denn ein
Orchesterwerk sollte originär für Orchester sein. Sonst
gäbe es keinen Grund, für Orchester zu schreiben. Nach
zwei Jahren ging Sæverud das Geld aus, doch bevor er nach
Norwegen zurück ging, arrangierte sein Freund Mowinckel noch
ein Konzert mit den Berliner Philharmonikern, in dem diese den zweiten
Teil von Sæveruds erster Symphonie, die heutige 'Overtura
appassionata', uraufführten. Wieder zuhause in Bergen, hielt
sich Sæverud als Klavierlehrer und furchtloser Kritiker über
Wasser.
"Einmal war ich unglücklich in ein Mädchen verliebt,
das in der dritten Etage über mir wohnte - ihre Eltern fanden,
daß ich nicht gut genug für sie wäre. Da schrieb
ich eine Steigerung in genauso vielen Etagen, damit bei ihr oben
die Scheiben klirren sollten. Sie hörte sie nur nicht. Aber
Carl Nielsen hörte sie und wurde mein Freund fürs Leben."
Von Carl Nielsen, Dänemarks großem Komponisten, erhielt
Harald Sæverud 1922 einen Brief: "Ihre Komposition hat
mich vom ersten bis zum letzten Takt gefesselt. Das passiert mir
äußerst selten. Ich erwarte viel von Ihnen. Bleiben Sie
sich treu, auch wenn Sie Widerstand erfahren."
Mit enormem Erfolg gab das Bergener
Harmonien-Orchester 1923 erstmals Sæveruds zweite Symphonie,
die Kritik war polarisiert, da war auch von "amorphem Lärm"
die Rede. Sæverud verfolgte immer radikaler seine stilistische
Linie auf der Suche nach Echtheit, nach nackter Substanz. Maßlose
romantische Schwärmerei stieß ihn ab. Seine Obsessionen
lagen eher in der schonungslosen Auswertung eines oft fast aufs
Unscheinbare minimierten thematischen Potentials, im schöpferischen
Erkunden des Mikrokosmos, den ihm jede musikalische Gestalt offerierte.
Anfang der dreißiger Jahre durfte er durchaus als ein sehr
persönlicher Modernist gelten, so in der Klaviersuite op. 6
von 1931, die manche Nähe zu frühem Prokofjew, zu Bartók
aufweist.
Doch mit der Gründung der Familie, mit der Geburt seiner drei
Söhne kam auch ein anderer Zug wieder verstärkt in sein
Schaffen: Das Zarte, Lyrische, vor allem das bei aller feinstrukturellen
Präzision Einfache wurde wichtig, bildete den ergiebigen Kontrast
zur über Stock und Stein fortschreitenden Unerbittlichkeit.
Es hieß, sein Ausdruck sei "menschlicher" geworden.
Sæverud profilierte sich als Symphoniker unerhörter Eigenart,
dessen Orchesterbehandlung überquillt von nie gehörten
Ideen, von grotesken, oft sensationellen Einfällen, deren schlagender
Effekt auf einfachen, aber grundlegenden Konventionsbrüchen
beruht. Diese orchestralen Wirkungen sind aber keineswegs äußerlich
motivierte Effekthascherei, nicht Folge experimenteller Einstellung,
sondern drastische Ausformulierung der dem Tonsatz innewohnenden
Naturgewalten. Sein Ruf als Norwegens herausragender Symphoniker
gründet vor allem in den drei Kriegssymphonien, Nr. 5-7: 'Symphonie
der Widerstandsbewegung', 'Sinfonia dolorosa' und 'Salme', die "Symphonie
von Vater und Mutter". Die 1942 komponierte 'Sinfonia dolorosa'
widmete Sæverud einem Freund, der der Widerstandsbewegung
angehörte und von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde.
Als motivisch dichter, allen abschweifenden Sentiments abholder
Schmerzensgesang von asketisch schneidender Intensität war
sie auch Ausdruck von Trotz, Stolz und Unbeugsamkeit vieler Norweger
in einer schwierigen Zeit, in der die Familie Sæverud im abgeschiedenen
Siljustøl zeitweise bis zu 34 schutzsuchenden Menschen Unterschlupf
gewährte. Hören Sie jetzt die 'Sinfonia dolorosa' von
Harald Sæverud. Karsten Andersen leitet das Philharmonische
Orchester Bergen.
'Sinfonia dolorosa' (6. Symphonie) op. 19;
Philharmonisches Orchester Bergen, Karsten Andersen;
Aurora/Vertrieb: jpc (mail-order) CD NCD-B 4953;
(Dauer: 12'05").
Harald Sæveruds 1942 im von Deutschen besetzten Norwegen komponierte
'Sinfonia dolorosa', seine sechste Symphonie, spielten die Philharmoniker
aus Bergen unter Karsten Andersen. Hatte Sæverud mit seinen
Kriegssymphonien den Durchbruch zu breiterer Anerkennung geschafft,
so war es nach dem Krieg eine besondere Herausforderung, als er
gebeten wurde, eine neue Schauspielmusik zu Ibsens 'Peer Gynt' zu
schreiben. Das hieß, Griegs in aller Welt heimisch gewordenen
Tonbildern eine eigene Version entgegenzusetzen. Sæverud schrieb
keine romantische Musik, sondern realistische, naturhafte, das Zeichnerische
betonende Charakterstücke, die das Extreme, das Groteske nicht
poetisch umschreiben, sondern auf den Punkt bringen. Nach der Première
1948 waren viele der Meinung, diese Musik sei viel näher am
Drama, am Wesen der Ibsenschen Aussage. Ein besonders skurriles
Stück daraus ist die 'Dovreslått', der "Bergtroll-Stampfer",
den das Stavanger Symphonieorchester unter Alexandr Dmitrjew spielt.
'Dovreslått' aus der Schauspielmusik zu 'Peer Gynt' op. 28;
Symphonieorchester Stavanger, Alexandr Dmitrjew;
BIS/Disco-Center CD 762;
(Dauer: 4'06").
"Ja, es liegt wohl Gewaltsames in meiner Musik - einmal hat
ein Polizist meine Hände begutachtet und behauptet, daß
Mord in ihnen läge... Ich hoffe nur, daß dann die Zuckerfabrikanten
die Leidtragenden sind."
Die 'Peer Gynt'-Musik unterstrich Sæveruds Rang als stärkste
schöpferische Persönlichkeit der neueren norwegischen
Musik und verankerte seinen Namen im Bewußtsein aller Norweger.
Doch auch international erweckte er nun immer größeres
Interesse als einer, der sich um modische Strömungen nicht
kümmerte, sondern die von ihm gefundenen Wegrichtungen unablässig
weiterverfolgte. Wo das Naturhafte, das Erdverbundene mit dem Artifiziellen
konfrontiert wurde, da entschied er sich stets für die naturgegebenen
Möglichkeiten.
"Elektronische Musik ist vielleicht gut als Entertainment für
Roboter." -
"Ich liebe es, barfuß in taunassem Gras oder im Schnee
zu gehen. Dadurch fühle ich mich gestärkt. Ich habe gelesen,
daß Vögel, die in Käfigen gehalten werden, allmählich
degenerierte Füße bekommen, wenn sie nie im Tau sitzen
dürfen."
Sæverud war ein großer Einzelgänger, der zu seiner
eigenen Klassizität fand. Immer mehr traten alle luxuriösen
und dekorativen Beigaben zurück zugunsten möglichst natürlicher
Ausformung der motivischen Essenz, des unverstellten Charakters,
der Unmittelbarkeit des Erscheinenden. Am weitesten trieb Sæverud
dies in seinen drei Streichquartetten, die zwischen 1970 und 1978
entstanden und in der kompromißlosen Ausformulierung des immer
durchscheinenden Skeletts, der tragenden Grundideen, in der besessenen
Durchführung der Hauptgedanken von zeitloser Modernität
sind als naturhaft asketische Schneisen im Dschungel artifizieller
Systeme.
Kurzer Ausschnitt von Kassette, ein- und ausgeblendet:
aus Streichquartett Nr. 3 (1978), 2. Satz;
Hansa-Quartett;
Simax CD PSC 1141.
Sind das singende Bäume, tönende Steine, jubilierende
Gräser? Wo orientiert sich das innere Ohr des Komponisten?
"Ich schreibe absolute Musik, aber sie ist Teil der Natur.
Dort probiere ich sie zuerst aus. Sie soll hinausgesungen werden
in die Natur, so daß man hören kann, ob sie zwischen
die Birken und diese ganze Umgebung paßt... Wenn das Thema
nicht mit der Erde verschmilzt, eins wird mit den Bergen, den Wasserfällen
und den Wäldern, stimmt etwas nicht."
Waren die sechste und die siebente Symphonie von gedrängterer
Gestalt, so sollten die letzten zwei - auch Sæverud schrieb
natürlich neun Symphonien - von ausgedehnt viersätziger
Anlage sein. Sæverud verband damit keine Rückorientierung
seines Stils zu großen Vorbildern, aber die Aufgabe, gegensätzliche
Charaktere opponieren zu lassen und in ihrer Ergänzung eine
bezwingende Einheitlichkeit der Formpsychologie zu erreichen, den
klassischen Weg mit seinen ganz persönlichen Mitteln zu gehen,
reizte ihn.
Der britische Dirigent Sir John Barbirolli, einer der größten
Mahler-Interpreten, setzte sich nachhaltig für die Musik Harald
Sæveruds ein. Daß sich der innere Reichtum nicht jedem
auf Anhieb erschließt, wußte auch er. Jedoch: "Ob
man die Musik Sæveruds mag oder nicht: Es stellen sich keine
Zweifel ein, von wem sie stammt, und das gilt für wenige Komponisten
heute." Sæverud ist unverwechselbar. Die Ablehnung des
luxuriösen Elements mag manchem zunächst als Armut erscheinen,
die obsessionelle Themenbehandlung mag bei mittelmäßiger
Darstellung ihre Wirkung nicht voll entfalten. Fraglos: Diese Musik
fordert zum Eindringen in die inneren Zusammenhänge geradezu
heraus. Zur Frage: Was ist Komponieren?
1987 ging der baskische Geiger-Komponist Ricardo Odriozola von Bilbao
nach Bergen, um bei dem 90jährigen Harald Sæverud zu
lernen, was woanders nicht zu lernen war: "Sæverud",
so erzählt er, "galt als der große Symphoniker,
aber seine Haltung war fern von Grandiosität. Es war für
mich, als führte er mich zurück zur Quelle aller Musik,
ja allen Lebens: Pflanze, Tier, Mensch - alles kommt von der kleinsten
Zelle, die sich dann zu etwas viel Größerem, Komplexerem
entwickelt. Und das war sein Zugang zum Komponieren: Man fängt
mit etwas ganz Kleinem an, und indem man der Intuition folgt, folgt
man den Möglichkeiten des Wachstums, die in dieser Zelle liegen.
Sæveruds Verhalten war sehr unmittelbar. Er ließ sich
von allem, was um ihn herum geschah, berühren. Darum auch wechselten
seine Stimmungen, seine Gesten so schnell, so abrupt. Sæverud
war keineswegs launisch. Er war ganz bewußt Geschöpf
der Natur, die stets auf ihr Umfeld reagiert. Er war immer wachsam.
All das schlug sich in seiner Musik, in der Art, das Material zu
behandeln, nieder." Zu den führenden Komponisten im heutigen
Norwegen zählt einer der Söhne Harald Sæveruds:
Der 1939 geborene Ketil Hvoslef, ein entschiedener Individualist
wie sein Vater. Er führt die geistige Einstellung des Vaters
weiter, ohne stilistisch an ihn gebunden zu sein. Harald Sæverud
starb am 27. März 1992 in Bergen, kurz vor seinem 95. Geburtstag.
Viele Jahre zuvor hatte man ihn gefragt, ob er Angst vor dem Tod
habe:
"Nein, das habe ich nicht. Ich hoffe, daß es richtig
dramatisch wird, damit es stimmt, was ich als Kind davon dachte,
als ich in einer Welt der Märchen lebte. Wenn nicht, werde
ich ordentlich enttäuscht sein."
Hören Sie zum Abschluß von Harald Sæverud die 'Kjempevise-slåtten',
im Untertitel 'Canto rivoltoso', das Symbolstück des norwegischen
Widerstands im Kriege, nunmehr in der Orchesterfassung. Alexandr
Dmitrjew dirigiert das Symphonieorchester Stavanger.
'Kjempevise-slåtten' (Canto rivoltoso) op. 22 a Nr. 5;
Symphonieorchester Stavanger, Alexandr Dmitrjew;
BIS/Vertrieb: Disco-Center CD 762;
(Dauer: 6'23").
Sendemanuskript für BR4 (Redaktion: Wilfried Hiller);
Produktion: 18.4.1997;
Erstsendung: 21.4.1997, 23:oo-24:oo, "Montagsthema"
Christoph Schlüren, 4/97
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