< RARE MUSIC STARTSEITE

Harald Sæverud (1897-1992)

Portrait Harald Sæverud
Mörder des Musikzuckers

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Mit neun Sinfonien, vielen Klavierminiaturen und drei Streichquartetten ein heimlicher "Klassiker der Moderne" war der seit Edvard Grieg bedeutendste norwegische Komponist

Harald Sæverud (1897-1992).
Portrait Harald SæverudMörder des Musikzuckers

 
"Ja, es liegt wohl Gewaltsames in meiner Musik – einmal hat ein Polizist meine Hände begutachtet und behauptet, daß Mord in ihnen läge… Ich hoffe nur, daß dann die Zuckerfabrikanten die Leidtragenden sind."
Als sein Berliner Kompositionsprofessor Friedrich E. Koch kritisierte, in seiner Musik sei so viel Stein, erwiderte der 24jährige Sæverud: "Ich liebe Stein. Stein, Fels ist das Fundament unter allem anderen. Darüber kommt die Erde, die großen Bäumen wie zarten Blumen Halt gibt." Wäre nicht vor ihm Grieg gewesen, so hätte Harald Sæverud wohl so etwas wie der "Bartók Norwegens" werden können. So aber wuchs er hinein in ein nationalromantisches Milieu, mit dem er früh radikal brach. Geboren am 17. April 1897 zu Bergen an einem Ort, der einst sowohl Friedhof als auch Hinrichtungsstätte gewesen war, floh er früh vor den Garstigkeiten des Lebens in die magische Welt der Musik und der umgebenden Natur. Schon die ersten Kompositionsversuche bestechen mit ausgeprägtem Eigenton. Später hat Sæverud immer wieder betont, er habe von niemandem etwas gelernt und alles selbst gefunden. Den 1916-18 komponierten ersten Satz seiner ersten Sinfonie zeigte er Christian Sinding, der nicht fassen konnte, wie ein junger Mann fast ohne Ausbildung ein solches sinfonisches Format vorlegen konnte, auch wenn ihm die aus kleinen Motiven aufgebaute, ungeschönte Sprache befremdlich erschien. Als Student in Berlin schrieb er seine glutvolle Klaviersonate in g-moll. In reifen Jahren komponierte er für Klavier ausschließlich Miniaturen, unter welchen die vier Bände "Lieder und Tänze aus Siljustøl" herausragen – welch’ unbändiger, tiefer Humor aus diesen Stücken spricht, welche Poesie und unverbrüchliche Originalität! Mit fortwährendem Gewinn kann man sich hineinhören in diese tönenden Gestalten, wo Sæverud mit jenen so typischen plötzlichen Wendungen des Geschehens, jener Unvorhersehbarkeit und detaillierten Finesse operiert, die doch stets mit motivischer Logik korrespondiert und die Atmosphäre nicht zerstört, sondern unerwartet erhellt, neue Blicke freigibt. Sæveruds Welt, seine Affektsprache bewegt sich auf einer sehr feinstofflichen Ebene, was kraftvolle, ja derbe Gestalten durchaus einschließt – sein Schaffen kennzeichnet urwüchsige Sensibilität.. Oft sind es nicht die Themen, die so bemerkenswert erscheinen, nicht das Ausgangsmaterial, sondern die Art, wie diese meist äußerst knappen, auf das Allernotwendigste reduzierten Motive behandelt werden. Mag das Basismaterial aber noch so entschlackt, aller überflüssigen Zutaten entledigt sein, so ist es doch immer äußerst charakteristisch, hat Entschiedenheit, Individualität. Auch die seltsamsten Umschwünge haben ihre innere Folgerichtigkeit, jedes Detail bestimmt in subtiler Weise die Psyche der Gesamtform mit.

Gegen Ende der zwanziger Jahre wurde Sæveruds Stil zusehends radikaler. Die Klaviersuite op. 6 z. B. berührt sich mit frühem Prokofjew und Bartók. Mit der Familiengründung – Sæveruds Sohn Ketil Hvoslef ist heute einer der wichtigsten norwegischen Komponisten – fand er zu jener inneren Balance, die sein Schaffen bis ins hohe Alter begleitete. Die scharfen Attacken wurden noch zielgerichteter ins Werk gesetzt, in Wechselspiel mit dem Zarten, Lyrischen, präzis Einfachen. Als Sinfoniker schuf er sich seinen eigenen, unverwechselbaren Orchesterklang. Die 1942 komponierte ostinato e crescendo-Obsession "Kjempeviseslåtten" (Canto rivoltoso) wurde zum Symbolstück des musikalischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Internationale Anerkennung fanden die einsätzigen Sinfonien Nr. 6 (Sinfonia dolorosa) und 7 (Salme) sowie seine neue, antiromantische Schauspielmusik zu Ibsens "Peer Gynt". Doch die späteren Werke, die eigentlichen Höhepunkte seines Schaffens, darunter die viersätzigen Sinfonien Nr. 8 und 9 und die grandios eigensinnigen drei Streichquartette, fanden in einer Welt mit anderen musikalischen Idealen nicht mehr die ihnen gebührende Würdigung. Bis zuletzt schöpferisch agil, starb Harald Sæverud am 27. März 1992, kurz vor seinem 95. Geburtstag, in Bergen. Heute beginnt man, ihn zu entdecken.
Christoph Schlüren

('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 1998)
 
Diskographie:
Sinfonien Nr. 4-8, Canto ostinato, Galdreslåtten, Rondo amoroso; Bergen Philh., D. Kitajenko; Simax 2 CD PSC 3124.
3. Sinfonie, Violinkonzert; T. Sæverud (Violine), Stavanger SO, O. K. Ruud; BIS 872.
9. Sinfonie, Klavierkonzert etc.; N. Ogawa (Klavier), Stavanger SO, A. Dmitriev; BIS 962.
Siljuslåtten, Vade mors, Peer Gynt-Suiten Nr. 1 und 2, Klavierkonzert, Divertimento für Flöte und Streicher, Gjætlevise-Variationen, Kjempeviseslåtten, Violinromanze, Variazioni piccoli, Fanfare und Hymne etc.; T. Sæverud (Violine), E. Røttingen (Klavier), Bergen Philh., K. Andersen; Simax 2 CD PSC 3125.
Komplette Soloklaviermusik; Einar Røttingen; Simax 3 CD PSC 1116.
Streichquartette Nr. 1-3; Hansa Quartett; Simax PSC 1141.
Oboenkonzert, Sinfonien Nr. 6 und 7.; E. N. Larsen (Oboe), Oslo Philh., M. Jansons etc.; Aurora 4953.
Lucretia-Suite, Fagottkonzert etc.; R. Rønnes (Fagott), Stavanger SO, A. Dmitriev; BIS 822.
Violinromanze, Violinkonzert, 20 kleine Duette für 2 Violinen, Elegie für Violine Solo; T. Sæverud (Violine) etc.; Simax PSC 1087.
9. Sinfonie, Galdreslåtten, Kjempeviseslåtten, Rondo amoroso; Royal Philh. Orch., P. Dreier; Aurora 4913.
6. Sinfonie, Peer Gynt-Suiten Nr. 1 und 2, Galdreslåtten, Kjempeviseslåtten; Stavanger SO, A. Dmitriev; BIS 762.
Fagottkonzert (+ O. Berg, Nordheim); R. Rønnes (Fagott), Stavanger SO, G. Oskamp; Aurora 1934.
Peer Gynt-Suiten Nr. 1 und 2 (+ Grieg); Norwegisches RSO, A. Rasilainen; Finlandia/east-west 0630-17675-2.
Vertrieb für Simax und BIS: Disco-Center.
Aurora-Vertrieb: Liebermann.
(Stand 1998)