"Meistens kommt Bach tsch-k-tsch-k-tsch
daher. Er ist eben schwieriger als die anderen. Man muß die
Artikulation mit größter Wendigkeit ganz genau herausbringen.
Die Standard-Situation ist aber eher ein Bicycle-Race, denn die
wissen nicht, was sie als wesentlich ansehen sollen, also überhaupt,
worauf sie achten sollen. Die selbsterklärten Authentiker ersetzen
das heute gern mit stereotypen Formeln, wogegen man früher
meist überhaupt nicht artikulierte. Ich kann mit beidem nicht
übereinstimmen. Doch bei Furtwängler oder Edwin Fischer
ist die Linie da, die Seele, die Empfindung, wogegen heute die Idee
von der weittragenden melodischen Gestaltung als Zusammenhangstiftendem
fehlt."
Also nichts wie ran im "Bach-Jahr"! Nachdem Murray Perahia
mit den Englischen Suiten einer ganzen Musikergeneration vorgeführt
hat, wie der lange Schatten Glenn Goulds aufs Natürlichste
und Fesselndste zu überwinden ist, hat er sich nun die Goldberg-Variationen
vorgenommen. Mit dem von vielen Kritikern als exklusives Gould-Refugium
gehandelten Mammutwerk zog er auf einer großen Tournee überall
das Publikum über siebzig Minuten in Bann, und im Sommer wurde
in der Schweiz die Aufnahme gemacht. Der gemeißelten Strenge
und prickelnden Kontrastschärfe Goulds tritt mit Perahias atmender
Schwerelosigkeit und auf die Erlebbarkeit der Großform gerichteter
Flexibilität eine Welt spirituell gebündelter Vitalität
entgegen, in der Bachs Musik auf sanfte Art alle Fesseln der Konvention
sprengen kann. Zukunftsweisender und zugleich in überzeugender
in der Tradition großer Bach-Interpreten wie Dinu Lipatti
oder George Enescu läßt sich Bachs Musik zu keiner Zeit
verwirklichen. Daß viele es schwer haben werden, sich von
der tief in die Gehörgängen eingedrungenen Gould-Perspektive
zu lösen, ist freilich kein Wunder. Perahia selbst gesteht,
wie schwer es ihm viel, sich von dem suggestiven Einfluß Goulds,
dessen "extreme Musikalität" ihn nach wie vor frappiert.
Die klassische Fehletikettierung für Perahias Gould und mehr
noch die Sachlichkeitsaposteln transzendierende Musizierhaltung
lautet "romantisch": "Würden sie Bartók
auch einen Romantiker nennen, weil er die linke Hand vor der rechten
anschlägt, um seine Musik resonanter und weniger ruppig klingen
zu lassen? Wer Bach mit viel Ausdruck und Gefühl spielt, wird
sofort als Romantiker geoutet. Es ist das Letzte, was dazu paßt.
Auch Furtwängler war übrigens in vieler Hinsicht geradezu
anti-romantisch. Anders Mengelberg oder Cortot, das waren Romantiker,
hören Sie sich mal deren Rubati an! Die Struktur ist absolut
unentbehrlich, doch die wenigsten verstehen, daß ihre Realisierung
nichts mit Striktheit zu tun. Das Strikte hat nichts mit der Natur
des Musikalischen zu tun, es ist der Einfluß des Mechanistischen,
Unmenschlichen." Was nun die Goldberg-Variationen betrifft,
hat Perahia zu einer Darstellung gefunden, die jede Einzelheit organisch
wachsend lebendig werden läßt, gestalthaft als Zusammenhang
über die Variations-Vielfalt hinweg. Wer hiervon nach konzentriertem
Zuhören am Ende nicht tief berührt ist, kann nur unmusikalisch
sein, musikprüde sozusagen. Aber wo stehen die unverbesserlichen
Kenner, die Perahia höchste Sorgfalt und Formvollendung bescheinigen,
dabei aber die ungezügelten Ausbrüche à la Argerich
oder die didaktische Rhetorik Brendels vermissen?
Oder gar die Ästheten einer neuen Häßlichkeit, die bei Schubert
den Unton pervertierten Scheiterns suchen? "Die sind damit
beschäftigt, Emotionen vorzupräparieren. Emotion muß
aber aus der Musik selbst wachsen! Wenn man mit dem Studium eines
Stücks beginnt, geht es überhaupt nicht um eine so unstrukturierbare
Ebene wie die der Emotionen, deren Reiz ja eben im nicht Festlegbaren
besteht. Unterschiedlicher könnten die Ausprägungen nicht
sein als hier was übrigens auch die Tempo-Ebene betrifft.
Die emotionale Atmosphäre ist Summe des Engagements, das in
die Entstehung der Musik einging. Sie ist das Letzte und steht nie
am Anfang. Vergeßt die Emotionen! Die sind sehr subtil und
nicht in Worte zu fassen. Vor allem sollte die Beschäftigung
mit den Grundlagen vorangehen. Das ist harte Arbeit, und wer macht
sich die schon?"
Gerade die letzte große Steigerung der Goldberg-Variationen
ersteht bei Perahia mit nie gekannter Sogkraft. Diese Entfesselung
beruht auf Perahias ureigener Entschlüsselung des Formmysteriums:
"Die Struktur des Werkganzen ist die Struktur des Themas. Am
offensichtlichsten ist die Zweiteilung, indem er den zweiten Teil
im 17. Satz mit einer Französischen Ouvertüre eröffnet.
Das Thema hat 32 Takte, das Werk 32 Sätze: Aria, 30 Variationen,
Aria da capo. Auch harmonisch, bezüglich des Expansionscharakters
stimmt die Analogie zwischen Thema- und Werkaufbau. Alle Analytiker
haben übersehen, daß der didaktische Teil des Werkes
mit dem 24. Satz endet das ist das typische Programm für
ein didaktisches Projekt, siehe das Wohltemperierte Klavier. In
diesem Fall wäre das der Kanon in der Oktave, und in der Tat
herrscht hier für einen Augenblick Friede auf Erden. Doch da
öffnet er eine andere Tür: Es folgt die g-moll-Variation,
die längste, schmerzbeladenste mit einem alles andere in diesem
Zyklus übersteigenden Chromatizismus. Es ist im Charakter seiner
Passions-Kreuzigungsmusik: Diese Weltpein, die er sich für
solche Situationen vorbehält. Von da an bis zum Ende wird die
Musik schneller, es kommt kein Legato mehr, und es ist wie die Auferstehung
der Seele und Himmelfahrt. Das Quodlibet schließlich bringt
das Ganze wieder zurück zur Erde, und den Schluß bildet,
ruhig und friedvoll, die Aria, die hier der Kadenz im Thema entspricht.
Davor, in diesen letzten Variationen, steigt es auf und auf und
auf, unermeßlich, wie ein Wunder, wie im Thema mit der plötzlich
loslaufenden Sechzehntelbewegung schon oft gegen alle Bequemlichkeit
der Stimmführung. Das muß unwiderstehlich entstehen,
wenn man es spielt. Den Zusammenhang erlebbar werden zu lassen,
ist in den ersten 15 Variationen übrigens schwerer als im zweiten
Teil, weil die Dramaturgie etwas loser ist."
Christoph Schlüren im September 2000
(veröffentlicht im Musikmagazin tonart, 2000) |