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"Jedes Stück ist ein anderes Wesen"

Murray Perahia im Interview (1994-97)

Ein halbes Leben lang, seit er vor 25 Jahren den Leeds-Wettbewerb gewann, spielt der in London lebende, 1947 in New York geborene Pianist Murray Perahia sein Repertoire exklusiv für CBS/Sony Classical ein. In den letzten Jahren war Perahia aufgrund einer Verwachsung des rechten Daumenknochens zweimal zu einem knappen Jahr völligen künstlerischen Verstummens gezwungen. Er hat nach dem riskanten, aber glücklich verlaufenen chirurgischen Eingriff erstaunlicherweise nicht nur sehr schnell wieder zur ursprünglichen Formhöhe gefunden, sondern einen beschleunigten Reifeprozeß durchgemacht, der in den jüngsten Chopin-, Händel-, Schumann- und Bach-Aufnahmen grandios dokumentiert ist. Perahia, Nachfahre aus Griechenland emigrierter sephardischer Juden, genoß nach langer Lehrzeit bei Janet Haien die enge Zusammenarbeit mit legendären Musikern wie Pablo Casals, Rudolf Serkin, Mieczyslaw Horszowski, Clifford Curzon, Benjamin Britten und vor allem Vladimir Horowitz, der ihm ein Leitstern "freien Musizierens" wurde. Während des Dirigier- und Kompositionsstudiums am Mannes College erhielt er bei Carl Bamberger intensive Unterweisung in der fundamentalen Formtheorie Heinrich Schenkers. Dessen kompromißlos organisches Verstehen von Musik hat sein Spiel seither entscheidend geprägt.
CS: Würden Sie Schenkers Methodik auch bei Debussy anwenden?
MP: Nicht, soweit ich es übersehe. Natürlicher bewegen sich auch da bestimmte Stimmen in übereinstimmender Art. Auch da bestehen harmonische Zusammenhänge. Bei jedem Komponisten jedoch ist es ein anderer Zugang. Am effektivsten ist Schenker bei Chopin oder Bach. Denn damit können Sie erkennen, wie die Prioritäten in der Stimmführung liegen, was Ornament und was wesentlich ist. Schenker behandelt das, was ich für die grundlegenden Dinge halte: Konsonanz und Dissonanz. Das bedeutet, daß man wirklich zu verstehen beginnt, was im Hinblick auf die Gesamtform konsonant oder dissonant ist, was sich auf größere Entfernung auswirkt und wie es zum Übrigen steht, und was lediglich im Detail Bedeutung hat. Wußten Sie, daß Schenker noch bei Bruckner Vorlesungen gehört hat? Daß er es sogar zuwegebrachte, noch einige Stunden Unterricht von Simon Sechter, dem Lehrer Bruckners, bei dem auch Schubert Kontrapunkt studieren wollte, zu erhalten? Schenkers Argumente gründen in einer fabelhaften Ausbildung. Dieses Training ist zu jeder Zeit unersetzlich. Die Musik kommt nicht nur einfach von innen ’raus. Heute ist es schwierig geworden, eine umfassende Tonsatz-Ausbildung zu bekommen. Ich bin da fasziniert von der Entwicklung in Skandinavien: Die sind weiterhin an einer freien Tonalität orientiert, haben die Idee vom tonalen Zusammenhang, von der organischen Form nicht aufgegeben. Das ist wohl Sibelius’ Einfluß.
Für mich ist es essentiell, daß ein Musikstück organisch zusammengefügt ist. Anfang und Ende sind zueinander bezogen. Alles ist Teil eines Ganzen. Nicht ein Abschnitt hier, ein Teil da. Große Musik ist ein Ganzes, ist vollendet. Das kann so weit führen, daß manche Theoretiker eine thematische Keimzelle für die gesamte Entwicklung suchen. Das funktioniert aber nur in bestimmten Fällen. Die organische Gestalt ist eher in einem umfassenden harmonischen Prozeß zu finden. Das Motivische spielt sich an der Oberfläche des alles umspannenden harmonischen Verlaufs ab. Beides, Harmonie und Motivik, wirkt auf verschiedener Ebene mit gemeinsamem Resultat. Das Harmonische ist das Fundament, auf das sich alles andere ständig bezieht. Wenn der harmonische Plan nicht tragfähig ist, zerfällt alles.
CS: War Glenn Gould sich klar über diese Problematik?
MP: Da er eine so unwiderstehliche Vibration übertrug, mit solcher Ernsthaftigkeit, hatte er erheblichen Einfluß auf mich. Bei Bach kann das geradezu zwanghaft auf einen einwirken, man kann sich kaum davon befreien. Heute mag ich die Art, wie Dinu Lipatti oder Myra Hess Bach spielten, viel lieber, und es ist dem musikalischen Prozeß viel angemessener. Denn es ist nicht angemessen, immer den offensichtlichen Kontrapunkt herauszuheben. Dadurch wird die Stimmführung äußerst kurzatmig. Und es geschieht das Gegenteil von dem, was forciert wird: Die lineare Natur von Bachs Musik wird vom vertikalen Druck verdrängt. Gould ist natürlich ein zu fantastischer Musiker, um das wirklich zu zerstören. Aber er überreizt diesen Aspekt, streßt diese Dimension unablässig aufs Extremste. Das führt zur Vernachlässigung der weiterschauenden Artikulation. Es wird alles kleingliedrig. Sein William Byrd hingegen ist hinreißend. Er hätte alles gekonnt, aber er wollte nicht. Über seinen Mozart möchte ich lieber nichts sagen.
Vergessen Sie nicht, daß die zugrundeliegende Idee, die Hauptquelle einer Bach-Suite weiterhin der Choral ist! Nehmen Sie seine Generalbaß-Übungen – die sind als Übungen gemeint, und ich bin sicher, daß er sie selbst geschrieben hat –, da sind diese Akkorde, Akkordfolgen, Modulationen: Das sind ausgedehnte Choräle. Aus diesen Akkorden gewann er die lineare Entwicklung. Und aus solchen Modulationen wachsen auch die Klaviersuiten hervor. Musik wird aus Musik gemacht, nicht aus Worten. Es wird so viel über Rhetorik in der Musik gesprochen. Für mich ist das Unsinn. Der Akkord, der Zusammenklang spricht sich aus, wird hinausprojiziert, atmet, entfaltet Leben. Wie eine Blume. Schumann sagte, alle diese Fugen seien wie Blumen, sie entwickeln sich und erblühen. Wenn Sie aber den einzelnen Noten für sich selbst so große Bedeutung zumessen, eliminieren Sie die Spannung, dann neutralisieren Sie die übergeordneten Bezüge, die wichtigsten Stationen, die Richtungen der Felder. Die kleinen Artikulationen sind notwendig, um gewisse Aspekte der Figur, des Metrums herauszubringen, aber sie sollten nicht herausstechen.
CS: Was ist essentiell bei Mozart?
MP: Es ist wirkliches, echtes, inneres Drama. Die klassische Form ist überhaupt eine dramatische Form, daran ist nicht zu rütteln. Es entwickelt sich und findet zurück – ein menschliches Drama, das aus herannahenden Spannungen und Entspannungen gespeist wird, die die Form vorgibt. Die Vermehrung der Spannung, die die Noten durchdringt, beispielsweise, wenn Sie zu einer Dominante gehen – die Dominante trägt eine höhere Spannung als die Tonika – und dann die Exkursionen im Dominantbereich, die in Durchführungsabschnitten beharren: All’ das trägt zur Spannung bei. Diese Spannungsfelder sind Rückgrat jeder Formentwicklung in der Klassik. Das müssen Sie verstehen, um ein Mozart-Konzert darstellen zu können. Dabei hat jedes der Mozart-Konzerte einen völlig anderen Verlauf. Nichts funktioniert nach einem gleichartigen energetischen Muster. Der Zusammenhang ist stets einzigartig. Jedes Konzert müssen Sie ganz von Neuem erforschen und versuchen, seine Geheimnisse kennenzulernen. Es gibt kein Rezept für die Aneignung, und mit Formalismen wie "Sonatenform" kommen Sie nicht weiter. Es ist eben eine lebende Form, die auf einem harmonischen Werdegang basiert, diesen in weitem Umriß entfaltet, und das bedeutet immer Spannungszuwachs und daraus folgend Entspannung zum Ende. Das muß man in jedem Stück neu begreifen und subtil gestalten: Wo ist der Höhepunkt? Wo wendet es? Jedes Stück ist ein anderes Wesen.
CS: Als Kind haben Sie mit Ihrem Vater in der Met viel Puccini gehört und über alles geliebt. Was ist von der Puccini-Begeisterung geblieben?
MP: Die Liebe zum Melodischen in jedem Moment hat mich nie verlassen. Auch wenn ich bald merkte, daß es bei anspruchsvollen Formen nicht ausreicht, Musik nur primär nach melodischer Maßgabe zu begreifen.
CS: Oft, wenn man historische Aufnahmen anhört, muß man feststellen, daß heute die Fähigkeit, die Melodie weit tragen zu lassen, seltener geworden ist.
MP: Ja. Es fehlt am bewußten Gestalten des Melodischen, vor allem über die einzelne Phrase hinaus. Aber schon in der einzelnen Zelle. Vielleicht liegt es an der Rock-Musik, die Sie überall zu hören bekommen. Es ist wichtig, daß die Populärmusik von guter musikalischer Qualität ist. Die große klassische Musik entstand nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß populäre und "gehobene" Musik nicht voneinander getrennt waren. Ob Mozart, Schubert oder Beethoven – die schrieben volkstümliche Tänze, Lieder für jedermann, und in dieser Musik wurzelte ihr Schaffen. Jetzt läuft das völlig getrennt ab: Einerseits diese armselige Rock- und Popmusik, und andererseits die heutige "klassische" Musik, die meist sehr esoterisch und gar nicht zugänglich für ein größeres Publikum ist. Das sind zwei Welten, die sich ausschließen.
CS: Was man heute mit überwiegend kommerziell ausgerichtetem, sogenanntem Cross-Over zu überbrücken sucht.
MP: Das führt nicht weiter, und es wird nicht funktionieren, auch wenn sich damit mancher Verkaufserfolg erzielen läßt. Die Hauptschwierigkeit, meine ich, ist, daß die Volksmusik im Sterben liegt. Das ist ein existentielles Problem, denn man kann nichts dagegen tun.
CS: Wie schätzen Sie die Wirkung von Rock-Musik auf die jungen Hörer ein?
MP: Vernichtend. Der rücksichtslos gleichförmige Beat, die Einfachheit ohne jede Sensibilität, die extreme Lautstärke: All’ das zwingt weg vom Geistigen, von der wachen Reaktion, hin zu einem simplen Materialismus. Die Leute werden kindisch gemacht, und sie merken das gar nicht. Sie werden von sich selbst weggebracht.
CS: Auch die meisten Kritiker sind heute mit Rock-Musik aufgewachsen.
MP: Ich weiß. Deshalb hören viele das Subtile nicht und können nur sehr äußerliche Unterschiede wahrnehmen. Dann passiert es, daß sie gelangweilt werden vom vielen Musikhören, und auch von der großen Musik überhaupt. Also verlangen sie danach, immerzu etwas "Neues" zu hören. Und merken dabei nicht, daß diese Sucht nach "Neuem" eine Reaktion auf die Langeweile ist. Auch äußerliche Virtuosität kann so einen substituierenden Effekt haben.
CS: Welchen Stellenwert hat die technische Perfektion?
MP: Vom Pianistischen her können Sie nicht gut genug sein. Nur dann sind Sie frei in der musikalischen Gestaltung. Das Virtuose als Selbstzweck hat mich zwar nie interessiert, aber trotzdem müssen Sie ein echter Virtuose sein, um "zuerst ein Musiker, dann ein Pianist" sein zu können. Ich beschäftige mich viel mit technischen Problemen, aber nicht um der technischen Beherrschung willen. Auch Skalen übe ich nie mechanisch. Wenn einer mechanisch übt, schlägt das sofort aufs Musizieren zurück. Das hört man. Es tötet die unmittelbare, spontane Reaktion ab. Alles muß vom konkreten musikalischen Ziel motiviert sein.
CS: Was ist dann Technik?
MP: Technik zeigt sich im Klang. Klang ist immer der Schlüssel zur Technik. Mit einer mangelhaften Technik ist der Klang unausgewogen. Was wollten die großen Komponisten? Mozart verlangte nach einem reichen, runden Klang. Das heißt aber nicht, daß man ein Klangfetischist sein soll. Klang entsteht in Funktion der Musik. Er hat keine Bedeutung als Klang in sich.
CS: Wenn Sie sich heute manche Ihrer früheren Aufnahmen anhören, würden Sie da gerne einiges noch einmal neu aufnehmen?
MP: Ich höre mir meine Aufnahmen nicht an. Aber es wäre dann sicher so, daß ich nicht mehr so glücklich damit sein könnte. Alles verändert sich ständig. Ich bin ein anderer als vor zehn Jahren. Die einschneidendsten Veränderungen geschahen während jener Zeiten, als ich wegen meiner Daumenverletzung überhaupt nicht spielen konnte. Aber ich könnte Ihnen nicht erklären, welcher Art diese Veränderungen waren. Etwas im Klang hat sich verändert, hat mehr Tiefe bekommen – und ich hoffe, nicht nur im Klang. Man kann daran sehen, daß man nicht immer ein Instrument braucht. Aber eine Krise braucht es. Alle Krisen im Leben funktionieren so: Entweder Sie zerbrechen darunter, oder Sie wachsen daran und gehen stärker daraus hervor. Wir müssen uns unmittelbar den Schwierigkeiten im Leben stellen und sie vorbehaltlos zu überwinden suchen.

CS: Konnten Sie die Situation akzeptieren? Sie wußten ja nicht, ob Sie je wieder spielen könnten?
MP: Ja, es mußte sein. Es war qualvoll. Aber die tägliche Beschäftigung mit der Musik gab mir meine Lebensenergie.
CS: Vielleicht hat es Ihnen – zufällig sozusagen – geholfen, daß Sie kein Publikum brauchen?
MP: Das stimmt, ich brauche kein Publikum. Meine Motivation kommt aus der Musik. Und da ist noch so viel, was ich verstehen und lernen möchte, daß es in gewisser Weise auch gut war, daß ich nicht klavierspielen konnte. Ich will wirklich nicht noch einmal so eine Zeit durchmachen, aber irgendwo war es auch ein Segen. Im Februar ’96 fing ich nach der zweiten Zwangspause wieder an, zu spielen. Mein erster Auftritt war dann mit Celibidache Mozarts Jeunehomme-Konzert. Das ging – wie alles mit ihm – wunderbar, aber ich spürte daß ich noch nicht wieder die Kraft in den Fingern hatte für das "größere" Repertoire, für Schumann, Brahms, ja sogar für Beethoven. Erst im Mai gab ich dann wieder ein Recital. Und langsam kam ich wieder. Jetzt ist alles in Ordnung. Man sagte mir, daß es vollständig abgeheilt ist.
CS: War es nur die Musik, die Ihnen half, einen Weg aus der Krise zu finden?
MP: Ich denke, daß meine innere Konstitution stark ist. Aber vor allem liebe ich die Musik so sehr, daß sie mir stets Halt gab. Während der Zeiten – und das war zweimal ein knappes Jahr! –, als ich nicht spielen konnte, studierte ich intensiv Fugen, viel Bach, viel Analyse…
CS: Kann man Form lehren?
MP: Nicht schematisch. Form wächst aus dem musikalischen Material hervor. Sie müssen erleben, daß jede Note, jeder Teil des Stücks notwendig und unvermeidlich in Bezug auf das Ganze ist. Auch in der Aufführung. Es kann nur so gehen, weil es sich immerzu auf das Weitere bezieht. Und das Weitere bezieht sich zwingend auf das, was voranging. Form ist lebendige Erfüllung des Materials, das Ergebnis der Intervalle in der Freiheit ihrer Bewegung. Wenn diese sich ausdrücken und vollstrecken, ist sie das unausweichliche Resultat.
Wenn manche Kritiker sagen, Chopin sei zwar ein Stimmungszauberer, aber kein Meister der Form gewesen, ist das absoluter Unsinn. Chopin verstand Form vom Wesentlichen her. Jede seiner Balladen zum Beispiel hat ihre individuelle Form, die vom Material herrührt, von den Motiven und der Art, wie diese arbeiten. Und wenn Sie die Fugen großer Komponisten studieren, finden Sie eine ursächliche Verbindung zwischen dem melodischen Aufbau des Fugensubjekts und der Form des Stücks. Bei Bach und Händel ist das ganz deutlich. Auch die harmonische Gesamtentwicklung ist da aus dem ersten Subjekt geboren. Das Thema selbst bestimmt seine Verarbeitung.
CS: Wie ist aus dieser Sicht Domenico Scarlattis Formwelt beschaffen?
MP: Schenker sah in ihm den Urheber des Sonatenprinzips. In einigen Scarlatti-Analysen demonstrierte er die organische Natur der Sonatenform. Schenker hatte ja diese Leitidee der "Urlinie", die die grundlegende harmonische und melodische Linie eines Stücks ist. Denn in bestimmter Weise ist im Melos eine Grundlinie, die durch das Stück durchgeht und dessen Haupttöne umspielt. Händel aber hat diese Linie tatsächlich in zwei seiner Suiten in großgedruckten Noten hervorgehoben. Er ist – ich denke, zusammen mit Carl Philipp Emanuel Bach – der einzige Komponist, der sich darüber so klar war, und es auch niederschrieb. Schenker wußte davon und beklagte, daß Händel nicht im Originaldruck vorlag. Einzig in der Bärenreiter-Edition finden Sie heute diese Hervorhebungen, die nichts anderes sind als eine "Urlinie" – die also nicht eine Erfindung, sondern eine Entdeckung Schenkers ist…
Aber auch wenn sich das so schlagend bestätigt, müssen wir uns klar darüber sein, daß jeder Zugang zur Musik über Systematisches seine Grenzen hat, auch derjenige Schenkers. Etwas so Flüchtiges wie Musik läßt sich nicht festhalten. Zumindest müssen Sie sich Ihren eigenen Zugang verschaffen. Bei Bach ist das Studium der Artikulation Grundbedingung. Bei Händel muß man sich diese "generosity" zueigen machen. Und so weiter… Nehmen Sie Mendelssohn, diesen unterschätzten Komponisten. Seine Musik birgt spezielle Gefahren: Die Variations sérieuses sind ein großartiges Werk – aber wenn Sie da zu sehr der romantischen Emotion nachgeben, gehen Sie verloren. Und wenn Sie es zu klassisch darbieten, verlieren Sie das Spezielle. Die Mitte ist kein so leicht zu findender Ort. Sie müssen Ihre Instinkte wachhalten, sich auf sie verlassen können. Und singen! Das Singen stellt klar, was natürlich ist. Und dann dürfen Sie diese Komponisten nicht unterschätzen. Viele übersehen die ganze Tiefe und Kraft, weil es so leicht und einfach zu sein scheint. Ich fand das nie einfach. Auch Händel: Wie kann man bei ihm alles, was einen bestimmten Tanzcharakter hat, in dasselbe stilisierte Schema pressen? Alles ist von Gesang durchströmt, durchpulst, durchlebt. Jeder Satz ist eine einzigartige Welt, auch wenn sie sich noch so unscheinbar präsentiert.
CS: Sie spielen diese Werke auf dem modernen Konzertflügel…
MP: Händel benutzt teilweise die gleichen Sätze im Orchester wie auf dem Cembalo. Er hat es wahrscheinlich auf dem Cembalo gespielt, aber Sie gewinnen auf dem Klavier sofort diese große, runde, noble Klanglichkeit – er war ein Organist. Er machte diese Improvisationen, und ich denke, daß er versucht haben dürfte, das in den Suiten wieder einzufangen. Scarlatti übrigens sagte über Händel, er sei in der Lage, mit den geringsten Mitteln den reichsten Klang zu entfachen. Händel verstand es, den Reichtum der Harmonien durch die Stimmführung erst richtig zu entfalten. Sein Kontrapunkt ist nicht weniger gediegen und verfeinert als bei Bach. Aber zugleich ist da schon der Anfang des homophonen Stils, einer gesanglicheren Schreibart, was auf Mozart vorausweist. Jede Stimme ist individuell beteiligt, aber es ist nicht die Art Imitation wie bei Bach – ausgenommen die Fugen. Übrigens klingt bis heute kein Chorsatz reicher, majestätischer als derjenige Händels. Er war ja in den Augen Beethovens der größte Komponist: ein wunderbarer Geist, voll Würde, Großzügigkeit, Stolz und Noblesse.
CS: Können Sie sich vorstellen, Frescobaldi auf dem Klavier zu spielen?
MP: Das ist nicht abwegig. Ich habe mir ein Cembalo ausgeliehen, und ich befasse mich ernsthaft damit. Nein, ich werde nicht öffentlich als Cembalist auftreten! Aber ich habe mich damit auf meine Bach-Aufnahmen vorbereitet. Es geht mir nicht um den Cembaloklang und keineswegs um eine Imitation desselben. Aber ich möchte wissen und erleben welche Begrenzungen da waren, was als Ausdrucksmittel zur Verfügung stand. Ich habe intensiv an Artikulation und subtilem Rubato gearbeitet, denn das sind die einzigen Mittel, die verwendet werden konnten. Das Ergebnis ist nicht Gleichförmigkeit! Aber eine Folge ist, daß ich Couperin studieren möchte und Frescobaldi. Es fasziniert mich, die Welt der Cembalomusik zu erkunden. Was letzten Endes das Ergebnis sein wird, weiß ich nicht. Ich bin an den Ausdrucksquellen interessiert und versuche, diese gewissermaßen aufs Klavier zu übertragen. Es ist unmöglich, diese Musik auf dem Instrument, für das sie geschrieben wurde, rhythmisch strikt zu spielen, ohne den Ausdruck zu verfehlen. Zum Beispiel muß man den Baß öfters ein wenig vor den oberen Stimmen anschlagen. Im Hintergrund fühle ich dabei immer das tempo continuo. Es ist ein Balanceakt zwischen tempo continuo und dem Ausdruck, dem Gesang, der dem Stück erst Sinn gibt. Bach selbst wünschte ausdrücklich den Cantabile-Vortrag.
CS: Wie ist Ihr Zugang zu Robert Schumanns Musik?
MP: Gerade Schumann befindet sich immer auf des Messers Schneide. Er wollte schnellere Tempi, aber Clara bestand wegen der Faßlichkeit auf langsameren. Doch muß beides da sein: Es braucht Klarheit in der Phrasierung – da passiert so vieles, was minutiös niedergeschrieben ist, das muß ja irgendwie auch hörbar werden! –, aber es muß auch das Ungezügelte, Leidenschaftliche zum Zuge kommen, der drängende Affekt, sonst fehlt das eigentliche Idiom. Sie müssen also eine Balance anstreben, die immer bedroht ist. Die Unsicherheit gehört genauso dazu wie der Notentext. Es ist bei Schumann aber nicht nur die harmonische Spannung, sondern dazu kommt ganz maßgeblich eine literarische Inspiration, durch Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, das Erlebnis Paganini. Er ist der einzige Komponist, bei dem ich das als essentielle Dimension einräumen muß, und ich weiß, daß das meinen Anschauungen, worum es sich bei Musik handele, widerspricht. Natürlich geschieht es dann doch mit rein musikalischen Mitteln, aber man sollte wirklich die Literatur, die das ausgelöst hat, kennen. Einerseits ist immer dieses Uferlose, diese Rastlosigkeit in seiner Musik, andererseits Ausdruck tief aufrichtiger Menschlichkeit. Seine Aufrichtigkeit bewegt mich. Sie ist auch mir oberstes Prinzip.

Interview: Christoph Schlüren

(veröffentlicht in der ersten Ausgabe von Klassik Heute, April 1998)