Ein halbes Leben lang, seit er vor 25 Jahren den Leeds-Wettbewerb gewann,
spielt der in London lebende, 1947 in New York geborene Pianist
Murray Perahia sein Repertoire exklusiv für CBS/Sony Classical
ein. In den letzten Jahren war Perahia aufgrund einer Verwachsung
des rechten Daumenknochens zweimal zu einem knappen Jahr völligen
künstlerischen Verstummens gezwungen. Er hat nach dem riskanten,
aber glücklich verlaufenen chirurgischen Eingriff erstaunlicherweise
nicht nur sehr schnell wieder zur ursprünglichen Formhöhe
gefunden, sondern einen beschleunigten Reifeprozeß durchgemacht,
der in den jüngsten Chopin-, Händel-, Schumann- und Bach-Aufnahmen
grandios dokumentiert ist. Perahia, Nachfahre aus Griechenland emigrierter
sephardischer Juden, genoß nach langer Lehrzeit bei Janet
Haien die enge Zusammenarbeit mit legendären Musikern wie Pablo
Casals, Rudolf Serkin, Mieczyslaw Horszowski, Clifford Curzon, Benjamin
Britten und vor allem Vladimir Horowitz, der ihm ein Leitstern "freien
Musizierens" wurde. Während des Dirigier- und Kompositionsstudiums
am Mannes College erhielt er bei Carl Bamberger intensive Unterweisung
in der fundamentalen Formtheorie Heinrich Schenkers. Dessen kompromißlos
organisches Verstehen von Musik hat sein Spiel seither entscheidend
geprägt.
CS: Würden Sie Schenkers Methodik auch bei Debussy anwenden?
MP: Nicht, soweit ich es übersehe. Natürlicher bewegen
sich auch da bestimmte Stimmen in übereinstimmender Art. Auch
da bestehen harmonische Zusammenhänge. Bei jedem Komponisten
jedoch ist es ein anderer Zugang. Am effektivsten ist Schenker bei
Chopin oder Bach. Denn damit können Sie erkennen, wie die Prioritäten
in der Stimmführung liegen, was Ornament und was wesentlich
ist. Schenker behandelt das, was ich für die grundlegenden
Dinge halte: Konsonanz und Dissonanz. Das bedeutet, daß man
wirklich zu verstehen beginnt, was im Hinblick auf die Gesamtform
konsonant oder dissonant ist, was sich auf größere Entfernung
auswirkt und wie es zum Übrigen steht, und was lediglich im
Detail Bedeutung hat. Wußten Sie, daß Schenker noch
bei Bruckner Vorlesungen gehört hat? Daß er es sogar
zuwegebrachte, noch einige Stunden Unterricht von Simon Sechter,
dem Lehrer Bruckners, bei dem auch Schubert Kontrapunkt studieren
wollte, zu erhalten? Schenkers Argumente gründen in einer fabelhaften
Ausbildung. Dieses Training ist zu jeder Zeit unersetzlich. Die
Musik kommt nicht nur einfach von innen raus. Heute ist es
schwierig geworden, eine umfassende Tonsatz-Ausbildung zu bekommen.
Ich bin da fasziniert von der Entwicklung in Skandinavien: Die sind
weiterhin an einer freien Tonalität orientiert, haben die Idee
vom tonalen Zusammenhang, von der organischen Form nicht aufgegeben.
Das ist wohl Sibelius Einfluß.
Für mich ist es essentiell, daß ein Musikstück organisch
zusammengefügt ist. Anfang und Ende sind zueinander bezogen.
Alles ist Teil eines Ganzen. Nicht ein Abschnitt hier, ein Teil
da. Große Musik ist ein Ganzes, ist vollendet. Das kann so
weit führen, daß manche Theoretiker eine thematische
Keimzelle für die gesamte Entwicklung suchen. Das funktioniert
aber nur in bestimmten Fällen. Die organische Gestalt ist eher
in einem umfassenden harmonischen Prozeß zu finden. Das Motivische
spielt sich an der Oberfläche des alles umspannenden harmonischen
Verlaufs ab. Beides, Harmonie und Motivik, wirkt auf verschiedener
Ebene mit gemeinsamem Resultat. Das Harmonische ist das Fundament,
auf das sich alles andere ständig bezieht. Wenn der harmonische
Plan nicht tragfähig ist, zerfällt alles.
CS: War Glenn Gould sich klar über diese Problematik?
MP: Da er eine so unwiderstehliche Vibration übertrug, mit
solcher Ernsthaftigkeit, hatte er erheblichen Einfluß auf
mich. Bei Bach kann das geradezu zwanghaft auf einen einwirken,
man kann sich kaum davon befreien. Heute mag ich die Art, wie Dinu
Lipatti oder Myra Hess Bach spielten, viel lieber, und es ist dem
musikalischen Prozeß viel angemessener. Denn es ist nicht
angemessen, immer den offensichtlichen Kontrapunkt herauszuheben.
Dadurch wird die Stimmführung äußerst kurzatmig.
Und es geschieht das Gegenteil von dem, was forciert wird: Die lineare
Natur von Bachs Musik wird vom vertikalen Druck verdrängt.
Gould ist natürlich ein zu fantastischer Musiker, um das wirklich
zu zerstören. Aber er überreizt diesen Aspekt, streßt
diese Dimension unablässig aufs Extremste. Das führt zur
Vernachlässigung der weiterschauenden Artikulation. Es wird
alles kleingliedrig. Sein William Byrd hingegen ist hinreißend.
Er hätte alles gekonnt, aber er wollte nicht. Über seinen
Mozart möchte ich lieber nichts sagen.
Vergessen Sie nicht, daß die zugrundeliegende Idee, die Hauptquelle
einer Bach-Suite weiterhin der Choral ist! Nehmen Sie seine Generalbaß-Übungen
die sind als Übungen gemeint, und ich bin sicher, daß
er sie selbst geschrieben hat , da sind diese Akkorde, Akkordfolgen,
Modulationen: Das sind ausgedehnte Choräle. Aus diesen Akkorden
gewann er die lineare Entwicklung. Und aus solchen Modulationen
wachsen auch die Klaviersuiten hervor. Musik wird aus Musik gemacht,
nicht aus Worten. Es wird so viel über Rhetorik in der Musik
gesprochen. Für mich ist das Unsinn. Der Akkord, der Zusammenklang
spricht sich aus, wird hinausprojiziert, atmet, entfaltet Leben.
Wie eine Blume. Schumann sagte, alle diese Fugen seien wie Blumen,
sie entwickeln sich und erblühen. Wenn Sie aber den einzelnen
Noten für sich selbst so große Bedeutung zumessen, eliminieren
Sie die Spannung, dann neutralisieren Sie die übergeordneten
Bezüge, die wichtigsten Stationen, die Richtungen der Felder.
Die kleinen Artikulationen sind notwendig, um gewisse Aspekte der
Figur, des Metrums herauszubringen, aber sie sollten nicht herausstechen.
CS: Was ist essentiell bei Mozart?
MP: Es ist wirkliches, echtes, inneres Drama. Die klassische Form
ist überhaupt eine dramatische Form, daran ist nicht zu rütteln.
Es entwickelt sich und findet zurück ein menschliches
Drama, das aus herannahenden Spannungen und Entspannungen gespeist
wird, die die Form vorgibt. Die Vermehrung der Spannung, die die
Noten durchdringt, beispielsweise, wenn Sie zu einer Dominante gehen
die Dominante trägt eine höhere Spannung als die
Tonika und dann die Exkursionen im Dominantbereich, die in
Durchführungsabschnitten beharren: All das trägt
zur Spannung bei. Diese Spannungsfelder sind Rückgrat jeder
Formentwicklung in der Klassik. Das müssen Sie verstehen, um
ein Mozart-Konzert darstellen zu können. Dabei hat jedes der
Mozart-Konzerte einen völlig anderen Verlauf. Nichts funktioniert
nach einem gleichartigen energetischen Muster. Der Zusammenhang
ist stets einzigartig. Jedes Konzert müssen Sie ganz von Neuem
erforschen und versuchen, seine Geheimnisse kennenzulernen. Es gibt
kein Rezept für die Aneignung, und mit Formalismen wie "Sonatenform"
kommen Sie nicht weiter. Es ist eben eine lebende Form, die auf
einem harmonischen Werdegang basiert, diesen in weitem Umriß
entfaltet, und das bedeutet immer Spannungszuwachs und daraus folgend
Entspannung zum Ende. Das muß man in jedem Stück neu
begreifen und subtil gestalten: Wo ist der Höhepunkt? Wo wendet
es? Jedes Stück ist ein anderes Wesen.
CS: Als Kind haben Sie mit Ihrem Vater in der Met viel Puccini gehört
und über alles geliebt. Was ist von der Puccini-Begeisterung
geblieben?
MP: Die Liebe zum Melodischen in jedem Moment hat mich nie verlassen.
Auch wenn ich bald merkte, daß es bei anspruchsvollen Formen
nicht ausreicht, Musik nur primär nach melodischer Maßgabe
zu begreifen.
CS: Oft, wenn man historische Aufnahmen anhört, muß man
feststellen, daß heute die Fähigkeit, die Melodie weit
tragen zu lassen, seltener geworden ist.
MP: Ja. Es fehlt am bewußten Gestalten des Melodischen, vor
allem über die einzelne Phrase hinaus. Aber schon in der einzelnen
Zelle. Vielleicht liegt es an der Rock-Musik, die Sie überall
zu hören bekommen. Es ist wichtig, daß die Populärmusik
von guter musikalischer Qualität ist. Die große klassische
Musik entstand nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß populäre
und "gehobene" Musik nicht voneinander getrennt waren.
Ob Mozart, Schubert oder Beethoven die schrieben volkstümliche
Tänze, Lieder für jedermann, und in dieser Musik wurzelte
ihr Schaffen. Jetzt läuft das völlig getrennt ab: Einerseits
diese armselige Rock- und Popmusik, und andererseits die heutige
"klassische" Musik, die meist sehr esoterisch und gar
nicht zugänglich für ein größeres Publikum
ist. Das sind zwei Welten, die sich ausschließen.
CS: Was man heute mit überwiegend kommerziell ausgerichtetem,
sogenanntem Cross-Over zu überbrücken sucht.
MP: Das führt nicht weiter, und es wird nicht funktionieren,
auch wenn sich damit mancher Verkaufserfolg erzielen läßt.
Die Hauptschwierigkeit, meine ich, ist, daß die Volksmusik
im Sterben liegt. Das ist ein existentielles Problem, denn man kann
nichts dagegen tun.
CS: Wie schätzen Sie die Wirkung von Rock-Musik auf die jungen
Hörer ein?
MP: Vernichtend. Der rücksichtslos gleichförmige Beat,
die Einfachheit ohne jede Sensibilität, die extreme Lautstärke:
All das zwingt weg vom Geistigen, von der wachen Reaktion,
hin zu einem simplen Materialismus. Die Leute werden kindisch gemacht,
und sie merken das gar nicht. Sie werden von sich selbst weggebracht.
CS: Auch die meisten Kritiker sind heute mit Rock-Musik aufgewachsen.
MP: Ich weiß. Deshalb hören viele das Subtile nicht und
können nur sehr äußerliche Unterschiede wahrnehmen.
Dann passiert es, daß sie gelangweilt werden vom vielen Musikhören,
und auch von der großen Musik überhaupt. Also verlangen
sie danach, immerzu etwas "Neues" zu hören. Und merken
dabei nicht, daß diese Sucht nach "Neuem" eine Reaktion
auf die Langeweile ist. Auch äußerliche Virtuosität
kann so einen substituierenden Effekt haben.
CS: Welchen Stellenwert hat die technische Perfektion?
MP: Vom Pianistischen her können Sie nicht gut genug sein.
Nur dann sind Sie frei in der musikalischen Gestaltung. Das Virtuose
als Selbstzweck hat mich zwar nie interessiert, aber trotzdem müssen
Sie ein echter Virtuose sein, um "zuerst ein Musiker, dann
ein Pianist" sein zu können. Ich beschäftige mich
viel mit technischen Problemen, aber nicht um der technischen Beherrschung
willen. Auch Skalen übe ich nie mechanisch. Wenn einer mechanisch
übt, schlägt das sofort aufs Musizieren zurück. Das
hört man. Es tötet die unmittelbare, spontane Reaktion
ab. Alles muß vom konkreten musikalischen Ziel motiviert sein.
CS: Was ist dann Technik?
MP: Technik zeigt sich im Klang. Klang ist immer der Schlüssel
zur Technik. Mit einer mangelhaften Technik ist der Klang unausgewogen.
Was wollten die großen Komponisten? Mozart verlangte nach
einem reichen, runden Klang. Das heißt aber nicht, daß
man ein Klangfetischist sein soll. Klang entsteht in Funktion der
Musik. Er hat keine Bedeutung als Klang in sich.
CS: Wenn Sie sich heute manche Ihrer früheren Aufnahmen anhören,
würden Sie da gerne einiges noch einmal neu aufnehmen?
MP: Ich höre mir meine Aufnahmen nicht an. Aber es wäre
dann sicher so, daß ich nicht mehr so glücklich damit
sein könnte. Alles verändert sich ständig. Ich bin
ein anderer als vor zehn Jahren. Die einschneidendsten Veränderungen
geschahen während jener Zeiten, als ich wegen meiner Daumenverletzung
überhaupt nicht spielen konnte. Aber ich könnte Ihnen
nicht erklären, welcher Art diese Veränderungen waren.
Etwas im Klang hat sich verändert, hat mehr Tiefe bekommen
und ich hoffe, nicht nur im Klang. Man kann daran sehen,
daß man nicht immer ein Instrument braucht. Aber eine Krise
braucht es. Alle Krisen im Leben funktionieren so: Entweder Sie
zerbrechen darunter, oder Sie wachsen daran und gehen stärker
daraus hervor. Wir müssen uns unmittelbar den Schwierigkeiten
im Leben stellen und sie vorbehaltlos zu überwinden suchen.
CS: Konnten Sie die Situation akzeptieren?
Sie wußten ja nicht, ob Sie je wieder spielen könnten?
MP: Ja, es mußte sein. Es war qualvoll. Aber die tägliche
Beschäftigung mit der Musik gab mir meine Lebensenergie.
CS:
Vielleicht hat es Ihnen zufällig sozusagen geholfen,
daß Sie kein Publikum brauchen?
MP: Das stimmt, ich brauche kein Publikum. Meine Motivation kommt
aus der Musik. Und da ist noch so viel, was ich verstehen und lernen
möchte, daß es in gewisser Weise auch gut war, daß
ich nicht klavierspielen konnte. Ich will wirklich nicht noch einmal
so eine Zeit durchmachen, aber irgendwo war es auch ein Segen. Im
Februar 96 fing ich nach der zweiten Zwangspause wieder an,
zu spielen. Mein erster Auftritt war dann mit Celibidache Mozarts
Jeunehomme-Konzert. Das ging wie alles mit ihm wunderbar,
aber ich spürte daß ich noch nicht wieder die Kraft in
den Fingern hatte für das "größere" Repertoire,
für Schumann, Brahms, ja sogar für Beethoven. Erst im
Mai gab ich dann wieder ein Recital. Und langsam kam ich wieder.
Jetzt ist alles in Ordnung. Man sagte mir, daß es vollständig
abgeheilt ist.
CS: War es nur die Musik, die Ihnen half, einen Weg aus der Krise
zu finden?
MP: Ich denke, daß meine innere Konstitution stark ist. Aber
vor allem liebe ich die Musik so sehr, daß sie mir stets Halt
gab. Während der Zeiten und das war zweimal ein knappes
Jahr! , als ich nicht spielen konnte, studierte ich intensiv
Fugen, viel Bach, viel Analyse
CS: Kann man Form lehren?
MP: Nicht schematisch. Form wächst aus dem musikalischen Material
hervor. Sie müssen erleben, daß jede Note, jeder Teil
des Stücks notwendig und unvermeidlich in Bezug auf das Ganze
ist. Auch in der Aufführung. Es kann nur so gehen, weil es
sich immerzu auf das Weitere bezieht. Und das Weitere bezieht sich
zwingend auf das, was voranging. Form ist lebendige Erfüllung
des Materials, das Ergebnis der Intervalle in der Freiheit ihrer
Bewegung. Wenn diese sich ausdrücken und vollstrecken, ist
sie das unausweichliche Resultat.
Wenn manche Kritiker sagen, Chopin sei zwar ein Stimmungszauberer,
aber kein Meister der Form gewesen, ist das absoluter Unsinn. Chopin
verstand Form vom Wesentlichen her. Jede seiner Balladen zum Beispiel
hat ihre individuelle Form, die vom Material herrührt, von
den Motiven und der Art, wie diese arbeiten. Und wenn Sie die Fugen
großer Komponisten studieren, finden Sie eine ursächliche
Verbindung zwischen dem melodischen Aufbau des Fugensubjekts und
der Form des Stücks. Bei Bach und Händel ist das ganz
deutlich. Auch die harmonische Gesamtentwicklung ist da aus dem
ersten Subjekt geboren. Das Thema selbst bestimmt seine Verarbeitung.
CS: Wie ist aus dieser Sicht Domenico Scarlattis Formwelt beschaffen?
MP: Schenker sah in ihm den Urheber des Sonatenprinzips. In einigen
Scarlatti-Analysen demonstrierte er die organische Natur der Sonatenform.
Schenker hatte ja diese Leitidee der "Urlinie", die die
grundlegende harmonische und melodische Linie eines Stücks
ist. Denn in bestimmter Weise ist im Melos eine Grundlinie, die
durch das Stück durchgeht und dessen Haupttöne umspielt.
Händel aber hat diese Linie tatsächlich in zwei seiner
Suiten in großgedruckten Noten hervorgehoben. Er ist
ich denke, zusammen mit Carl Philipp Emanuel Bach der einzige
Komponist, der sich darüber so klar war, und es auch niederschrieb.
Schenker wußte davon und beklagte, daß Händel nicht
im Originaldruck vorlag. Einzig in der Bärenreiter-Edition
finden Sie heute diese Hervorhebungen, die nichts anderes sind als
eine "Urlinie" die also nicht eine Erfindung, sondern
eine Entdeckung Schenkers ist
Aber auch wenn sich das so schlagend bestätigt, müssen
wir uns klar darüber sein, daß jeder Zugang zur Musik
über Systematisches seine Grenzen hat, auch derjenige Schenkers.
Etwas so Flüchtiges wie Musik läßt sich nicht festhalten.
Zumindest müssen Sie sich Ihren eigenen Zugang verschaffen.
Bei Bach ist das Studium der Artikulation Grundbedingung. Bei Händel
muß man sich diese "generosity" zueigen machen.
Und so weiter
Nehmen Sie Mendelssohn, diesen unterschätzten
Komponisten. Seine Musik birgt spezielle Gefahren: Die Variations
sérieuses sind ein großartiges Werk aber wenn
Sie da zu sehr der romantischen Emotion nachgeben, gehen Sie verloren.
Und wenn Sie es zu klassisch darbieten, verlieren Sie das Spezielle.
Die Mitte ist kein so leicht zu findender Ort. Sie müssen Ihre
Instinkte wachhalten, sich auf sie verlassen können. Und singen!
Das Singen stellt klar, was natürlich ist. Und dann dürfen
Sie diese Komponisten nicht unterschätzen. Viele übersehen
die ganze Tiefe und Kraft, weil es so leicht und einfach zu sein
scheint. Ich fand das nie einfach. Auch Händel: Wie kann man
bei ihm alles, was einen bestimmten Tanzcharakter hat, in dasselbe
stilisierte Schema pressen? Alles ist von Gesang durchströmt,
durchpulst, durchlebt. Jeder Satz ist eine einzigartige Welt, auch
wenn sie sich noch so unscheinbar präsentiert.
CS: Sie spielen diese Werke auf dem modernen Konzertflügel
MP: Händel benutzt teilweise die gleichen Sätze im Orchester
wie auf dem Cembalo. Er hat es wahrscheinlich auf dem Cembalo gespielt,
aber Sie gewinnen auf dem Klavier sofort diese große, runde,
noble Klanglichkeit er war ein Organist. Er machte diese
Improvisationen, und ich denke, daß er versucht haben dürfte,
das in den Suiten wieder einzufangen. Scarlatti übrigens sagte
über Händel, er sei in der Lage, mit den geringsten Mitteln
den reichsten Klang zu entfachen. Händel verstand es, den Reichtum
der Harmonien durch die Stimmführung erst richtig zu entfalten.
Sein Kontrapunkt ist nicht weniger gediegen und verfeinert als bei
Bach. Aber zugleich ist da schon der Anfang des homophonen Stils,
einer gesanglicheren Schreibart, was auf Mozart vorausweist. Jede
Stimme ist individuell beteiligt, aber es ist nicht die Art Imitation
wie bei Bach ausgenommen die Fugen. Übrigens klingt
bis heute kein Chorsatz reicher, majestätischer als derjenige
Händels. Er war ja in den Augen Beethovens der größte
Komponist: ein wunderbarer Geist, voll Würde, Großzügigkeit,
Stolz und Noblesse.
CS: Können Sie sich vorstellen, Frescobaldi auf dem Klavier
zu spielen?
MP: Das ist nicht abwegig. Ich habe mir ein Cembalo ausgeliehen,
und ich befasse mich ernsthaft damit. Nein, ich werde nicht öffentlich
als Cembalist auftreten! Aber ich habe mich damit auf meine Bach-Aufnahmen
vorbereitet. Es geht mir nicht um den Cembaloklang und keineswegs
um eine Imitation desselben. Aber ich möchte wissen und erleben
welche Begrenzungen da waren, was als Ausdrucksmittel zur Verfügung
stand. Ich habe intensiv an Artikulation und subtilem Rubato gearbeitet,
denn das sind die einzigen Mittel, die verwendet werden konnten.
Das Ergebnis ist nicht Gleichförmigkeit! Aber eine Folge ist,
daß ich Couperin studieren möchte und Frescobaldi. Es
fasziniert mich, die Welt der Cembalomusik zu erkunden. Was letzten
Endes das Ergebnis sein wird, weiß ich nicht. Ich bin an den
Ausdrucksquellen interessiert und versuche, diese gewissermaßen
aufs Klavier zu übertragen. Es ist unmöglich, diese Musik
auf dem Instrument, für das sie geschrieben wurde, rhythmisch
strikt zu spielen, ohne den Ausdruck zu verfehlen. Zum Beispiel
muß man den Baß öfters ein wenig vor den oberen
Stimmen anschlagen. Im Hintergrund fühle ich dabei immer das
tempo continuo. Es ist ein Balanceakt zwischen tempo continuo und
dem Ausdruck, dem Gesang, der dem Stück erst Sinn gibt. Bach
selbst wünschte ausdrücklich den Cantabile-Vortrag.
CS: Wie ist Ihr Zugang zu Robert Schumanns Musik?
MP: Gerade Schumann befindet sich immer auf des Messers Schneide.
Er wollte schnellere Tempi, aber Clara bestand wegen der Faßlichkeit
auf langsameren. Doch muß beides da sein: Es braucht Klarheit
in der Phrasierung da passiert so vieles, was minutiös
niedergeschrieben ist, das muß ja irgendwie auch hörbar
werden! , aber es muß auch das Ungezügelte, Leidenschaftliche
zum Zuge kommen, der drängende Affekt, sonst fehlt das eigentliche
Idiom. Sie müssen also eine Balance anstreben, die immer bedroht
ist. Die Unsicherheit gehört genauso dazu wie der Notentext.
Es ist bei Schumann aber nicht nur die harmonische Spannung, sondern
dazu kommt ganz maßgeblich eine literarische Inspiration,
durch Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, das Erlebnis Paganini. Er ist
der einzige Komponist, bei dem ich das als essentielle Dimension
einräumen muß, und ich weiß, daß das meinen
Anschauungen, worum es sich bei Musik handele, widerspricht. Natürlich
geschieht es dann doch mit rein musikalischen Mitteln, aber man
sollte wirklich die Literatur, die das ausgelöst hat, kennen.
Einerseits ist immer dieses Uferlose, diese Rastlosigkeit in seiner
Musik, andererseits Ausdruck tief aufrichtiger Menschlichkeit. Seine
Aufrichtigkeit bewegt mich. Sie ist auch mir oberstes Prinzip.
Interview: Christoph Schlüren
(veröffentlicht in der ersten Ausgabe von Klassik Heute, April
1998)
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