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Leidenskosmos - Entpersönlichung

Allan Pettersson und andere Musik

Wenn ein Mensch schreit vor Schmerz über das Schwarz dieser Welt, und seine Schreie, da er ein symphonisch berufener Komponist ist, sich in riesenhaft verzerrten Klangdomen artikulieren, die er zu Papier brachte und sich dabei, verkrüppelt an Leib und Seele, immer mehr entfernte vom Kalkül mit den realen Klangverhältnissen seines Instruments - des Orchesters; wenn dieser kreativ getriebene Mensch sich also in überquellendem Erleben immer mehr von der in ihren Möglichkeiten beschränkten praktischen Aufführungssituation entfernte, dann muß die (Gewissens-)Fragestellung sich selbst hinterfragen: Inwieweit ist eine authentische Ausführung möglich? Sprich: Ist es authentischer, wenn ich mich strikt nach dem im Notentext Fixierten richte, auch wenn die entscheidenden, das Geschehen eigentlich bestimmenden Vektoren dann verdeckt werden, im instrumentalen Dickicht verschwinden? Oder ist es besser, zugunsten der Klarheit der Entwicklung in jedem Moment behutsam einige "Korrekturen" einzuführen, die das Hervortreten der wichtigsten Stimme ermöglichen, die es ermöglichen, das zu hören, was der Komponist mutmaßlich vor seinem inneren Ohr wahrnahm?

Der amerikanische Saxophonist John-Edward Kelly, der überragende Künstler in notierter Musik auf diesem Instrument in unserer Zeit und der Einzige, der dieses nach den originalen Maßgaben von Adolphe Sax spielt, hat sich bei Allan Petterssons 16. und letzter Symphonie (faktisch einer Sinfonia Concertante mit Saxophon Solo) für letzteren Weg entschieden. Wo notwendig, um nicht in den hochwogenden Orchestermassen zu ertrinken, oktaviert er seine Stimme, was on stage sicher notwendiger war als auf der klanglich ohnehin manipulierten Aufnahme (ein paarmal im Piano fragt man sich, ob's wirklich nötig ist oder einfach nur so wundervoll klingt). Damit verleiht er diesem vehement weltabgeschotteten Werk eine durchtragende Kontinuität, die alle zerhackenden Attacken, alle hochfahrenden Zerrissenheiten überbrückt, ohne irgendetwas zu glätten. Im Gegenteil - was bisher außer Ida Haendel wohl keiner so erreicht hat: Den konventionsabgewandt zerklüfteten Verzweiflungsgesang des späten Pettersson unzweideutig zusammenhängende Gestalt werden zu lassen.
Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau, Mai 1996)von Christoph Schlüren