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Ideale klangliche Synthese

John-Edward Kelly und das wahre Saxophon

Nicht ohne Amüsement erzählt John-Edward Kelly, daß Richard Wagner die weitgespannte Hirtenmelodie für Solo-Englischhorn in 'Tristan und Isolde' ursprünglich dem Sopran-Saxophon zudachte. Als ihm jedoch dann zu Ohren gekommen sei, daß Adolphe Sax bei Pariser Aufführungen des 'Tannhäuser' teilweise die Hörner durch Saxophone ersetzen habe lassen (angeblich mit vorzüglichem Ergebnis), habe er in seiner Verärgerung von der Verwendung des Saxophons abgesehen. Adolphe Sax (1814-94), der sich mit wesentlichen Verbesserungen anderer Instrumente (insbesondere der Baßklarinette) und der Erfindung der Saxhörner (darunter Flügelhorn, Baßtuba usw.) bereits einen vortrefflichen Ruf erworben hatte, präsentierte sein heute berühmtestes neuerfundenes Instrument, das Saxophon, erstmals 1841 in Brüssel der Öffentlichkeit, und im Mai 1842 erklang die Novität in Paris: ein Baßsaxophon in C, dessen tiefen Tönen Berlioz "eine großartige, gewissermaßen priesterliche Ruhe" attestierte. Die Begeisterung unter den Komponisten war groß, und schnell wurde das Saxophon in der französischen Orchesterliteratur eingesetzt. Zu den frühesten Werken zählen Halévys 'Le juif errant' und ein im Original nicht erhaltenes Sextett von Berlioz, beide mit Baßsaxophon. Berühmtheit erlangte die Altsaxophonmelodie in Bizets 'Arlésienne', auch Passagen in Werken von Massenet ('Hérodiade', 'Werther') und Thomas ('Hamlet') waren bald Allgemeingut. Ursprünglich schuf Adolphe Sax zwei Gruppen zu je acht Saxophonen (Sopranino, Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Baß, Kontrabaß, Subkontrabaß): Die eine, heute noch gebräuchliche, ist wechselweise in B und Es notiert; die andere, ursprünglich für das große Orchester gedachte und heute vergessene, ist wechselweise in C und F notiert. Das heute übliche Saxophonquartett rekrutiert sich aus den Stimmlagen Sopran (gerades Rohr), Alt, Tenor und Bariton. Sax wollte mit seinem Instrument bewußt eine Fusion aus Klarinette (ähnliches, aber nicht gleiches Mundstück), Oboe (ähnliche Bohrung) und Blechblasinstrumenten (gleiches Material) schaffen, außerdem eine Brücke zum Klang der Streicher und der menschlichen Stimme schlagen, mithin eine ideale Synthese vorhandener klanglicher Eigenschaften verwirklichen, was ihm nach allgemeiner Ansicht aufs Überzeugendste gelang. Über das Saxophon-Quartett schreibt Charles-Marie Widor zudem, es mache "täuschend die Wirkung der Orgel" und: "Von allen Blasinstrumenten sind die Saxophone vielleicht die am vollkommensten den Ausdruck beherrschenden; gerade so wie die Oboe schwellen und mindern sie beliebig die Tonstärke ohne Veränderung der Klangfarbe, die stets vibrierend und sympathisch bleibt." Über die vielseitigen technischen Möglichkeiten bemerkt Gevaert: "Figuren aller Art, die auf den Oboen, Klarinetten und Fagotten spielbar sind, sind es auch auf den Saxophonen." Dabei ist das Altsaxophon mit seinem immensen Tonumfang und extrem flexiblen Klangcharakter schon zu Widors Zeiten "das beste Instrument der Familie… Seine Klangqualität ist sehr ausgeglichen; es beherrscht leicht die Höhe und verfügt zugleich über sehr schöne tiefe Töne; seine Tonstärke ist vier oder fünf Klarinetten gewachsen." Nur in scheinbarem Widerspruch dazu steht Erich Valentins Einschätzung des Saxophons: "Es ist seiner ganzen Natur nach ein ausgesprochenes Piano-Instrument", was auch für das Tenor-Saxophon gilt, welches freilich in der Tiefe heikler zu handhaben ist und sich dort mit piano-Einsätzen schwerer tut – eine Erfahrung, die der interessierte Hörer unschwer an einigen exponierten Stellen in Sergej Prokofjevs 'Romeo und Julia'-Ballettmusik nachvollziehen kann. Als erster großer reisender Saxophonvirtuose darf der 1907 geborene Sigurd Raschèr gelten. Er spielte, wie sein wichtigster Schüler Kelly, das Altsaxophon. Das Saxophon, welches wir aus Jazz, Rock, Pop und von fast allen klassischen Saxophonisten kennen, ist eigentlich gar kein Saxophon. Wer einmal John-Edward Kelly oder auch das Raschèr-Quartett gehört hat, wird verstehen, daß dies kein übertriebenes Statement ist. Und wer gegenüber dem vulgären, modulationsarmen Klang des Saxophons verständlicherweise geschmackliche Vorbehalte hat, sollte sich unbedingt John-Edward Kelly anhören, live oder auf einer der vielen CDs mit hochinteressanter zeitgenössischer Musik, die er auf konstant höchstem musikalischen und tonlichen Niveau eingespielt hat. Was für ein ganz anderer Klang! Welch erweiterte, sublimierte klangliche Dimensionen! Und die bis in die extremsten Lagen leuchtende, klare Höhe! Sein Altsaxophon klingt eher ein wenig nach Flöte, Oboe, Englischhorn oder hohem Fagott, also näher am schlanken, intensiven und klar fokussierten Klang der Doppelrohrblatt-Instrumente. Der Grund dafür ist denkbar einfach.
John-Edward Kelly spielt auf einem siebzig Jahre alten Original-Saxophon. Die entscheidenden Entstellungen am heute üblichen Instrument wurden an Bohrung und Mundstück vorgenommen. Die Bohrung des Original-Saxophons ist parabolisch-konisch (mit einer geradlinigen und einer parabolischen Innenwandseite), die der Fälschung nur konisch. Der Hohlraum im Original-Mundstück ist größer als der Beginn der Bohrung, doch heute wird fast überall das Klarinetten-Mundstück mit kleinerem Hohlraum verwendet, wodurch der Luftwiderstand verlorengeht mit der Folge, daß die Obertonbildung außer Kontrolle gerät. Daher der mißgestaltete Tröt-Ton! Charles Koechlin befand schon vor einem halben Jahrhundert in seiner epochalen 'Traité de l’orchestration', im Jazz, wo fantastische bis aggressive Klangfarben am Platze seien, werde mit anderer Technik, anderem Klang, ja beinahe einem anderen Instrumentarium (!) umgegangen. Heute kennen wir nur noch dieses "andere Instrumentarium", denn eigentlich, so Koechlin, klingt das Saxophon "weder vulgär noch oberflächlich" und ist "mit seiner zarten Leichtigkeit weit mehr als die Erinnerung an das liebliche Lächeln amerikanischer Kinostars". Hört man das heutige Saxophon, so wird man in der Tat kaum verstehen, wie Rossini einst dazu kommen konnte, zu sagen: "Das Saxophon hat den schönsten Ton, den ich je gehört habe". Oder Berlioz: "Der Ton des Saxophons kann in seiner Schönheit und Ausdruckskraft nur mit der menschlichen Stimme verglichen werden." Kelly meint dazu: "Man kann die Sache auch anders sehen. Hört man heute ein historisches Instrument, z. B. eine 200 Jahre alte Klarinette, so ist das Instrument an seinem Ton sofort zu erkennen. Hört man nun aber ein von Adolphe Sax gebautes Saxophon, so weiß man zunächst gar nicht, was man hört. Ganz einfach, weil das heutige 'Saxophon' gar keines ist!" 1981 wurde John-Edward Kelly von Sigurd Raschèr gebeten, seine Nachfolge im Raschèr-Saxophonquartett anzutreten. Er kam nach Europa und spielte bis März 1990 hauptsächlich in dieser Formation, für welche durch seine Bemühungen Kompositionen von Tristan Keuris, Miklós Maros, Nicola LeFanu, Hans Kox, Xenakis usw. entstanden. Rückblickend sagt Kelly, er wisse "wirklich nicht, welches Saxophonquartett ich sonst empfehlen könnte". Doch wollte er "eben kein 'Neue-Musik-Hengst' werden, sondern eher weniger Werke besser spielen und mich für einige wenige Komponisten mit voller Kraft einsetzen".

Zu diesen zählen neben dem Schweden Anders Eliasson, den er für den genialsten Komponisten unserer Zeit hält (wer Eliassons Musik gut kennt, wird das sicher verstehen), der zu früh verstorbene Holländer Tristan Keuris, der Finne Pehr Henrik Nordgren und viele weitere. Doch diese Musik durchzusetzen ist, trotz der unbezweifelten Qualität, nicht leicht: "Eliassons inzwischen elf Jahre alte Dritte Symphonie für Altsaxophon und Orchester ist eines der großartigsten Werke, die ich überhaupt kenne, und doch habe ich es noch nicht geschafft, daß das Stück ein erstes Mal hier in Deutschland gespielt worden wäre.
Eliasson ist ja nicht 'berühmt', also wie könnte seine Musik 'bedeutend' sein? Das ist die weitverbreitete Mentalität, und die ist ziemlich frustrierend. Aber ich spiele die Werke, die mich berühren, denn eine Musik, die mich nicht bewegt, mit der ich mich nicht völlig verbinden kann, kann ich auch nicht vermitteln." Eliassons Musik wird sich früher oder später durchsetzen, da sind Bedenken überflüssig. Aber für die meisten Hörer wird seine Saxophon-Symphonie vorerst ein Phantom bleiben, denn noch existiert keine CD-Aufnahme davon, wie auch weitere Spitzenwerke der neueren Literatur für Saxophon und Orchester wie Keuris 'Three Sonnets' oder Nordgrens 'Phantasme' bisher noch nicht eingespielt sind. Aber das Klang- und Ausdrucksspektrum des Instruments ist in genügend anderen Aufnahmen eindrucksvoll dokumentiert, so in den wilden Katarakten und der finalen Aufhellung des Konzerts von Nordgren, in Allan Petterssons 16. Symphonie, in dem innigen Tonfall von Eliassons 'Poem' oder Keuris’ Solo-Canzone, in Konzertstücken von Frank Martin, Hans Kox oder Lars-Erik Larsson. Auch wenn, ironischerweise, das Original-Saxophon für viele heutige Hörer vielleicht zunächst nicht wie ein richtiges Saxophon klingen mag.
 
Reichhaltiges modernes Repertoire
Unter den konzertanten Werken, die in der ersten Jahrhunderthälfte komponiert wurden, hält Kelly die 1938 für Sigurd Raschèr entstandene, expressiv dunkle Ballade von Frank Martin für das bedeutendste. Daneben sind sicher Jacques Iberts 'Concertino da camera' und Alexander Glasunovs Konzert (das eine mit kleinem, das andere mit Streichorchester) zu nennen, außerdem populäre Werke wie 'Scaramouche' von Darius Milhaud oder Claude Debussys 'Rapsodie', letzteres ein Werk, das der Komponist selbst geringschätzte. Doch Kelly hegt keine Zweifel, daß die beste Literatur für Saxophon in jüngerer Zeit geschrieben wurde: "Neben Anders Eliassons grandioser dritter Symphonie, einer Art Sinfonia concertante, sowie den Werken von Nordgren und Keuris möchte ich hier noch die fantastische dritte Kammersymphonie des Finnen Kalevi Aho und das irrwitzige Konzert der Engländerin Nicola LeFanu nennen, außerdem Konzerte von Krzysztof Meyer, Karel Husa, Hans Kox oder Miklós Maros. Und dann ist da natürlich die genialische letzte Symphonie von Allan Pettersson, bei der ich allerdings einige Veränderungen in der Tessitura vornehmen mußte, denn nicht immer behandelte er das Instrument idiomatisch und oft genug würde es in der originalen Lage in den Orchesterfluten ertrinken."
Vor allem dank der unermüdlichen Tätigkeit des Raschèr-Quartetts existiert heute eine unüberschaubare Fülle an Musik für Saxophonquartett, die den Klassikern von Glasunov und Florent Schmitt zur Seite tritt. Richard Strauss übrigens hat in der 'Symphonia domestica' ein Saxophonquartett verlangt, welches man freilich gerne einmal ohne die vielen verundeutlichenden Verdopplungen hören würde. Besondere Berühmtheit erlangte natürlich das Solo (Sopran- und Tenorsaxophon) in Maurice Ravels 'Boléro' und die nostalgische Melodie des herrlich sanft durchdringenden Altsaxophons im 'Alten Schloß' in den von Ravel orchestrierten 'Bildern einer Ausstellung' von Mussorgskij. Andere sehr hörenswerte Passagen finden sich z. B. in Werken von Milhaud ('La création du monde') und Ibert, in Rachmaninovs 'Symphonischen Tänzen', bei Alban Berg (Violinkonzert, 'Lulu'), Anton Webern (Quartett op. 22), Kodály ('Háry János'), Vaughan Williams (6. und 9. Symphonie, 'Job') oder Prokofjev ('Romeo und Julia', 'Leutnant Kijé').
Christoph Schlüren
 
Original und Fälschung
"Als Junge fand ich den Klang des Saxophons ausgesprochen häßlich, spielte statt dessen vorwiegend Klarinette und studierte Querflöte. Doch dann kam es anders. Ich lernte 1977 Sigurd Raschèr kennen und war von ihm so beeindruckt, daß ich meine Universitätsstudien ohne Zögern sofort unterbrach und seine Einladung annahm, bei ihm privat zu studieren. Nach dem Treffen mit ihm spielte ich nie wieder Flöte oder Klarinette, denn durch ihn begriff ich, daß das gebräuchliche Saxophon eigentlich gar kein Saxophon ist. Adolphe Sax hat nämlich 1846 in seinem Patentbrief die akustischen Eigenschaften und die entsprechende Bauweise eindeutig festgelegt. Darin stellte er genauestens die Proportionen von Bohrung und Mundstück dar, verlor aber auffallenderweise zu technischen Aspekten kaum ein Wort. Er wußte sehr wohl, daß z. B. die Mechanik so oder so gebaut werden könne, was aber für das Wesen des Instruments von keiner Bedeutung wäre. Die wirkliche Identität eines jeden Instruments liegt ja in seinem Ton! Denkt man beispielsweise an das Essentielle einer Trompete, so sind ja nicht Spielweise oder Ventile von maßgeblicher Bedeutung, sondern der Charakter ihres Tons. Jedenfalls wußte Adolphe Sax sehr genau, daß er sich vor allem um seinen neuerfundenen Ton kümmern mußte und nicht um die Mechanik, die er im Einzelnen gar nicht patentieren ließ. Darum heißt das Instrument auch Saxophon, wortwörtlich 'Die Stimme des Adolphe Sax'. Heute hat man nicht nur die Bohrung primitiver gemacht, sondern auch das leichter zu blasende Klarinetten-Mundstück eingeführt, welches das Klangbild völlig verstört. Aber man akzeptiert das miserable Resultat, weil nur die wenigsten noch wissen, wie das echte Saxophon klingt. Glücklicherweise sind noch alte Saxophone im Umlauf – es mußten ja zunächst alle Modelle entsprechend dem Patent gebaut werden! –, auch alte Mundstücke sind noch – in meist unspielbarem Zustand – zu finden. Die Gründe für die Degeneration liegen wohl in der auf Faulheit gründenden Gewohnheit der Musiker – man kann auf dem Original-Saxophon zwar sehr kräftig spielen, doch muß man diese Fähigkeit erst allmählich entwickeln – und in der kommerziellen Wirklichkeit. Bevor genügend Saxophonisten mit höheren musikalischen Ansprüchen ein echtes Saxophon verlangen, wird bestimmt keines mehr gebaut."
John-Edward Kelly

 
(veröffentlicht in Klassik Heute, 2000)