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Jón Leifs (1899-1968)

"Der Nordischste unter den Komponisten"

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Ein besessener Einzelgänger, der am 1. Mai 100 Jahre alt geworden wäre, war der isländische Komponist
Jón Leifs (1899-1968).
"Der Nordischste unter den Komponisten"

"Das erste und letzte Ziel bei all meiner Kompositionsarbeit ist, wahr und ich selbst zu sein – nicht einen fremden Einfluß von anderen zuzulassen, keinen Notausgang des Könnens und des Stils."
Jón Leifs steht in der isländischen Musik so einzigartig da wie Bartók in der ungarischen oder Sibelius in der finnischen. Mit dem Unterschied, daß Island ein kleines Land mit heute ca. 250.000 Einwohnern ist und Jón Leifs’ Musik in seiner Heimat bis vor wenigen Jahren auf Ignoranz und Ablehnung stieß. Schon in seinen frühen Werken sind jene eigentümlich karge Stimmführung und Rhythmik vernehmbar, die er – aufgrund des Studiums der alten isländischen Tvísöngur (Zwiegesänge) und Rímur (Reimweisen) – als seiner Mentalität gemäßen, modernen Nationalstil etablieren wollte, als Bewahrung und Wiederbelebung verschwindender Traditionen und deren Höherentwicklung zu großen, "organischen Formen". Er wollte eine Musik auf der Höhe der Zeit schaffen, die primär isländisch sein sollte, von "normannischem Charakter", den er mit Eigenschaften wie "hart, kühl, schwer, kriegerisch, heroisch, männlich" usw. umriß. Er arbeitete konsequent an der Radikalisierung seines Stils, den er von aller überflüssigen Ornamentik und geschmeidigen Vielstimmigkeit befreite. Sein Reifestil, den er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gefunden hatte, ist geprägt von blockartigen Klangfolgen, die Säulen gleich nebeneinander stehen. Er war ein absoluter Außenseiter, der sich nun auf keine Irritation durch andere Stile mehr einließ und bald in den Ruf geriet, ein monumentaler Dilettant zu sein. In modernistisch eingestellten Kreisen galt er als konservativ, in konservativen Kreisen als kakophonisch. Warum? Das Tonmaterial, welches Jón Leifs verwendete, ist archaisch: Dur-Dreiklänge in Grundstellung, parallel geführte Organum-Quinten, spröde Quart-, Sekund- und Septimdissonanzen. Die Methode, nach der er dieses überlieferte Material musikalisch in Bezug setzt, ist jedoch ebenso modern wie Messiaens Modi, wie zwölftönige oder serielle Verfahren: Es sind vor allem der Ganztonleiter entstammende Intervalle, die die Fortschreitung von Klangsäule zu Klangsäule bestimmen: überwiegend große Terz und Tritonus. Im Nacheinander der Klänge kommt es so nur selten zu direkten Quintbeziehungen, dagegen fortwährend zu enharmonischer Verfremdung. Folglich reißt die erlebbare harmonische Beziehung der Klänge zueinander meistens schon nach drei, vier Schritten ab. Daher also die statische Kühle, das schroff in sich Beharrende, stolz Aufragende der einzelnen Akkorde, Felsbrocken in einer unwirtlichen Landschaft gleich. Dieser Eindruck wird noch verstärkt dadurch, daß die Klänge selbst stabil, harmonisch in sich ruhend sind. Man nimmt ihr Strahlen umso mehr wahr, indem die Verbindung zwischen ihnen labil und fremdartig ist. Der durch die ständige Enharmonik entstehende Mangel an einprägsamer Melodie, die moderaten bis äußerst gedehnten Tempi, die parallel geführten Stimmen, der schmucklose bis monotone Rhythmus und die zackige Metrik unterstreichen diese Tendenz zur Vereinzelung, indem die Konzentration des Hörers zwangsläufig auf die Klänge selbst gelenkt wird, deren Strahlkraft in den Orchesterwerken unter Ausnutzung der instrumentalen Resonanzpotentiale höchste Intensität erreicht – hier sind vor allem die späten, von Naturphänomenen inspirierten, kurzen Tongedichte wie "Geysir" oder "Hekla" zu nennen. "Geysir" beginnt mit brodelndem Schlamm (Kontrafagott), der nach und nach emporkocht, zischend und fauchend die große Fontäne entfacht (maximaler Tonhöhenumfang des Orchestertuttis) und nach dem Höhepunkt (erreicht über rhythmische Engführung) verbreiternd allmählich wieder in sich zusammensinkt, um den Urzustand zu erreichen. Der "Geysir" ist nicht nur ein kongenial erstelltes Naturspektakel, sondern auch eine Art Porträt des modernen Orchesters als vertikales Klangwesen, dessen überwältigender Umfang sich dem Hörer unmißverständlich erschließt. Noch gewaltiger dimensioniert ist "Hekla", die klingende Schilderung eines Vulkanausbruchs, die auch im pianissimo beginnt, jedoch im Gegensatz zum "Geysir" im brachialen fortissimo endet – mit einem gigantischen Perkussions-Arsenal, in welchem 22 Spieler u. a. schwere Metallketten, Felsstücke, Ambosse, Stahlplatten, Sirenen und Kanonen bedienen. Dazu treten außerdem Chor und Elektronik.

Mehr noch als aus der isländischen Volksmusik bezog Jón Leifs seine Anregungen aus der Edda und den alten Sagenstoffen. In späten Jahren schrieb er drei Edda-Oratorien (das dritte blieb unvollendet), zuvor entstanden instrumentale Visionen mythischer Geschehnisse: die fast einstündige, durchaus auch mit traditionell sinfonischen Zügen behaftete Saga-Symphonie op. 26 (1941/42) und das 1953 vollendete, neunzigminütige choreographisch-musikalische Drama ohne Worte "Baldr" op. 34. In beiden Werken verwendet Jón Leifs an wenigen, ausgewählten Stellen den schaurig-erhabenen, hornähnlichen Klang der alten Luren. In der Saga-Symphonie kommt überdies ein großer Holzcontainer hinzu, auf welchem mit schwerem Hammer ohrenbetäubender Lärm entfacht wird. Die Uraufführung der Saga-Symphonie 1950 in Helsinki wurde aufs Demütigendste verrissen, wogegen "Baldr", wie sehr viele von Jón Leifs’ Werken, erst lange nach seinem Tod 1991 uraufgeführt wurde.
An der isländischen Nordwestküste geboren, kam der Bauernsohn Jón Leifs einjährig bereits nach Reykjavík, da der Vater Abgeordneter wurde. Die Familie war sehr wohlhabend. In Island gab es so gut wie keine professionellen Musiker. Jón ging 1916 nach Leipzig, wo er Klavier bei Robert Teichmüller und Komposition bei Graener und Szendrei studierte. In den zwanziger Jahren profilierte er sich als Dirigent und unternahm mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg eine Tournee, dank der auf Spitzbergen, den Färöern und in Island erstmals ein Sinfonieorchester zu hören war. Seine Isländischen Tänze wurden bei Salonorchestern populär. Mit seiner jüdischen Frau Annie und seinen zwei Töchtern überstand er das Dritte Reich mit Aufführungsverbot und anderen Repressalien. Im Herbst 1943 konnte die Familie mit Hilfe von Goebbels’ Skandinavien-Referent Züchner nach Schweden ausreisen. 1945 wurde Jón Leifs auf der Reise nach Island von den Amerikanern verhaftet, in der Folge jedoch vom Vorwurf der Kollaboration mit den Nazis freigesprochen. 1947 ertrank seine zweite Tochter Lif vor der schwedischen Küste. Jón Leifs schrieb zu ihrem Gedenken sein kleines, sechsminütiges a-cappella-Requiem, ein in seiner innigen Schlichtheit und Unschuld berührendes Stück, und sein zweites Streichquartett "Vita et mors". Da Jón Leifs’ Orchesterwerke immens schwierig auszuführen sind und bisher kaum von Spitzenorchestern gespielt wurden, sind es gerade einige Vokal- und Streicherwerke, die durch exzellente Aufnahmen einen unverfälschten Höreindruck ermöglichen: die 3 Streichquartette mit dem jungen schwedischen Yggdrasil-Quartett (Höhepunkt: das späte "El Greco"-Quartett) und Lieder mit Thórunn Gudmundsdóttir. Mit einem kleinen Werk für Streicher übrigens, der "Consolation" op. 66, verabschiedete sich der krebskranke Jón Leifs, der "Nordischste unter den nordischen Komponisten", von der musikalischen Welt und starb am 30. Juni 1968 in Reykjavík.
Christoph Schlüren

('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute)
 

Diskographie:
Streichquartette Nr. 1-3; Yggdrasil Quartett; BIS 691
Baldr op. 34 (Drama ohne Worte); Sinfóníuhljómsveit Æskunnar, P. Zukofsky; cp2 2 CDs 106/07
Saga-Symphonie op. 26; Iceland SO, O. Vänskä; BIS 730
Geysir op. 51, Consolation op. 66, 3 Abstrakte Bilder op. 44, Isländische Tänze op. 11, Galdra Loftur-Ouverture op. 10, Trilogia piccola op. 1; Iceland SO, O. Vänskä; BIS 830
Geysir op. 51, 3 Abstrakte Bilder op. 44, Landsyn op. 41, Hekla op. 52 (Kurzfassung); Iceland SO, P. Zukofsky; ITM 6-04
Hekla op. 52 (Langfassung); Helsinki PO, L. Segerstam; Ondine 894-2
Island-Kantate op. 13, Island-Ouverture op. 9, Elegie op. 53, Fine I op. 55, Fine II op. 56; Iceland SO, P. Sakari; Chandos 9433
Ouverture und Trauermarsch aus Galdra Loftur op. 10; Iceland SO, P. Sakari; Chandos 9180
Lieder opp. 4, 12a, 14a, 18a, 19b, 23; T. Gudmundsdóttir (Sopr.), K. Ö. Kristinsson (Klavier); SkrEf 005
Komplette Klaviermusik; Örn Magnússon; BIS 692
Tears of Stone (Musik zum Film, u. a. Requiem, Elegie op. 53); ITM 6-05
Requiem op. 33b; Hamrahlíd-Chor, T. Ingólfsdóttir; ITM 6-01
Requiem op. 33b; Kór Langholtskirkju, Jón Stefánsson; BIS 239
Präludium und Fughetta op. 3 für Violine Solo; Rut Ingólfsdóttir; ITM 8-10
Isländ. Tänze (arr. für Quintett von A. H. Sveinsson); Caput Ensemble; ITM 8-08
4 Klavierstücke op. 2; Ö. Magnusson; ITM 8-02
(Stand: 1999)