Faszinierende Erstfassung
In jener Fassung seiner Zweiten Symphonie, die wir normalerweise
zu hören bekommen, hat Bruckner vieles gerafft, ganze Passagen,
die ihm im Kontext zu weitschweifig erschienen, herausgenommen.
Die Erstfassung von 1872 ist noch sehr unbekannt. In Nowaks Gesamtausgabe
ist sie nicht erschienen. Erst 1991 veröffentlichte William
Carragan diese umfangreichere Partitur, und der alte Georg Tintner,
der nun seine lebenslange Bruckner-Beschäftigung mit dem Naxos-Zyklus
krönen darf, gibt ihr in seiner lesenswerten englischen Einführung
generell den Vorzug vor der Endfassung. Dem kann ich mich keineswegs
anschließen, aber es ist höchst faszinierend, die (hier
mehr als 71minütige) ursprüngliche, (unter Kurt Eichhorn
für Camerata ersteingespielte) Version kennenzulernen. Das
Scherzo (hier noch mit Wiederholungen der A- und B-Teile in Scherzo
und Trio) steht vor dem langsamen Satz an zweiter Stelle. Viele
Takte in der Durchführung des ersten Satzes ebenso wie längere
Strecken im Andante (der ganze Schluß wurde danach verändert)
und vor allem im Finale entfielen später wovon die Gesamtform
profitierte. Eine Vielzahl kleinerer Modifikationen kam hinzu.
Grundsätzlich hat Tintner ein gutes Gespür für Bruckners Idiom.
Doch sehr subtil ist seine Darstellung nicht. Die Phrasierung bleibt
rudimentär, wenn sie nicht ausdrücklich vorgeschrieben
ist. An kritischen Stellen kümmert er sich nicht um die vertikale
Strukturation und läßt wichtige Linien der Holzbläser
im erregten Streichergeflecht untergehen oder, meistens, von massiven
Blechklängen niederbügeln. Das ist zwar normal, aber entstellend.
Das Orchester klingt gelegentlich sehr unsauber (schrecklich die
letzten Takte!) und verfügt über mittelmäßige
Spielkultur. Fazit: Alles (auch das Klangbild!) kommt recht roh
daher, ist aber nicht völlig daneben und als Abenteuer allemal
interessant.
Christoph Schlüren
(Rezension für Music Manual)
Naxos 8.554006 |