Der Gleiche und nicht der GleicheCelibidaches abermalige Rückkehr |
Maggio Musicale Fiorentino 1995: In
der Nacht vor seinem Auftritt mit den Münchner Philharmonikern
rutscht Sergiu Celibidache im Hotelzimmer auf einem Teppich aus
und zieht sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Vor allem in den
Lagern des Münchner Musiklebens jagen sich nun die Prognosen:
Das Ende von Celis "Karriere"(!). Wird Celi nie wieder
dirigieren? In seinem Alter ist das das Ende... Ob es sich dabei
um Betroffenheit oder Schadenfreude handelt, ist oft nicht klar
bei einem Mann, der wie alle ganz Großen auf Publikum und
Kritik eine polarisierende Wirkung ausübt. Doch hatten alle
Skeptiker nicht mit dem eisernen Willen, der Unbeugsamkeit des 83jährigen
gerechnet. Schon während des Münchner Krankenhausaufenthaltes
tauchte er zweimal im Rollstuhl in der Philharmonie auf, um seine
Schüler zu unterrichten. Und Anfang Juli leitete er - erstmals
seit 1982 in München - an der Pariser Schola Cantorum einen
eineinhalbwöchigen Dirigierkurs. Die dort waren, wußten,
daß er im September wieder voll einsatzfähig sei. Manche Celibidache-Bewunderer von einst
sind enttäuscht, weil das virtuose Element bei ihm eine geringere
Rolle denn je spielt, manch ausgeklügeltes kompositorisches
Detail nicht herausgearbeitet wird, öfters Einsätze verwackeln.
Oder im Scherzo, wo sich an Abschlüssen einige nicht klar darüber
waren, ob ritardando oder nicht - was aber sind diese Kratzer an
der Oberfläche gegenüber dem, was da ununterbrochen geschieht,
was - auch diesmal spürbar - immer tiefer, immer reicher, immer
bezwingender wird? Für den Kritiker mag das heißen: immer
extremer. Für den nicht mit Fragen der Kritik beschäftigten,
wachen, offenen Hörer bedeutet es: immer näher, immer
menschlicher. Celibidache und sein Orchester rühren tief an
die Seele, aber nicht an die, die sich mit den Alltagsemotionen
identifiziert. Sondern an die, die wie Sibelius auf den klaren Grund
des Sees hinabschauen will. Daß hierin nichts ergiebiger ist
als Bruckners reiche Welt, daß keiner sonst so über alle
Untiefen des Satzes hinweg die Übereinstimmung des Anfangs
mit dem Ende im Auge hatte, das läßt Celibidache begreifen.
Diesmal war vieles in einer Vollendung, mit einer Fülle des
Gehalts zu hören, wie vielleicht sonst nie. Und je mehr da
zum Tragen kommt, desto langsamer wird es natürlich. Unbeirrbar
geht einer seinen Weg, "so und nicht anders", und doch
bleibt nichts gleich. Christoph Schlüren (Original-Rezension, gekürzt erschienen in Frankfurter Rundschau, Sept. 1995) |