Gegen den erklärten Willen Sergiu Celibidaches erschien vor einem Jahr
ein erstes Paket mit Aufnahmen seiner Konzerte mit den Münchner
Philharmonikern als "First Authorized Edition". Nun kommt
die von vielen heißersehnte Box mit den Sinfonien Nr. 3-9,
dem TeDeum und der f-moll-Messe bei der EMI heraus. Bruckner und
Celibidache, so hieß es oft, das sei eine alles andere in
den Schatten stellende Symbiose. Hatte Celibidache zur Musik Anton
Bruckners einen besonders innigen, intensiven Zugang?
Er, der am Ende seines Lebens als der größte Bruckner-Dirigent
unserer Zeit galt, hätte dies in seiner Liebe zu Paradoxien
wohl sowohl bejaht als auch verneint. Verneint insofern, als er
aus seiner Erfahrung jegliches Spezialistentum als wider die musikalische
Natur ablehnte. Schließlich ging es ihm doch gerade darum,
über das intensive Studium aller Details und ihrer Beziehungen
untereinander zur Transzendenz der einzelnen Erscheinungen und damit
zum Gesamterleben des einmaligen Zusammenhangs, der ein musikalisches
Werk ist, vorzudringen. Celibidache hatte begriffen, daß dies
nicht über den Willen des Interpreten zu erreichen ist, weswegen
der Begriff der Interpretation ein Dorn in seinen Augen war. Es
ging ihm nicht um ein Anderes per se, und in der vergleichenden
intellektuellen Einstellung erkannte er eines der Haupthindernisse
auf dem Weg zum Musizieren: "Es gibt keine Interpretation im
musikalischen Akt. Was wollen Sie denn interpretieren? Die Topographie
des Stücks leider muß ich hier einen so statischen
Begriff verwenden, einen dynamischeren habe ich nicht , diese
Topographie ist unabwendbar gegeben. Die Art, wie Sie durch eine
Landschaft hindurchgehen, hängt natürlich von Ihnen ab
Sie tun es so, wie Sie es können. Was wollen Sie dabei
verbessern? Jede Landschaft hat ihre einmalige Beschaffenheit, für
Sie wie für die anderen. Wie kann ich dann ein Ritenuto machen,
wo der Satz ein Accelerando fordert? Und wie kann ich einen Sturm
entfachen, wo Ruhe herrscht? Die Idee vom 'genialen Interpreten',
von der so aussagekräftigen persönlichen Auslegung ist
nur Dokument persönlicher Armut, von Ignoranz, Anmaßung
und Eitelkeit."
Der Weg, den Celibidache einschlug, war vielmehr der der absichtslosen
Hingabe an die erlebte Wirklichkeit des Komponisten, der absoluten
Identifikation mit dessen Vorstellungswelt, zu der er über
die Korrelation der nicht interpretierbaren Struktur, über
das in den strukturierbaren Parametern (Harmonie, Melodie, Rhythmus)
Verankerte Zugang fand. Statische Formbetrachtung war ihm wesensfremd.
Von seinen Studenten forderte er, daß sie jede Partitur allmählich
in sich zum Leben erweckten und nicht über den unzulänglichen
äußeren Höreindruck, am Klavier oder gar mit einer
Aufnahme, auswendiglernten. Denn nichts soll zwischen dem Menschen
und seiner Tätigkeit sein, erst recht nicht eine falsche Vorstellung
als überflüssigstes Hindernis. Das Musizieren als jener
zerbrechlichste Akt, wo vollkommene Passivität und höchste
Aktivität koexistieren, duldet keinerlei Abschweifung in eigendynamische
Prozesse, die nicht aus dem Gesamtverlauf heraus motiviert sind.
Das Bewußtsein bleibt immer auf die Verwirklichung der Gesamtform
als lebendigem Organismus gerichtet, innerhalb dessen jeder Moment
seine unerläßliche Funktion hat. Je komplexer dabei die
Gesamtform beschaffen ist, desto determinierter ist der einzelne
Moment in seiner Ausführung was für so gegensätzliche
Naturen wie Bruckner oder Webern gleichermaßen gilt und bei
Letzterem auf eine empfindliche Grenze der Ausführbarkeit stößt:
Denn Weberns miniaturistische Ausformung der hochkomplizierten tonalen
Beziehungen fordert eine höchst differenzierte Realisierung
auf kleinstem Raum ein. Gibt es etwas Zerbrechlicheres? Eine Woche
Proben für einige Minuten Webernscher Orchestermusik mit diesem
hohen Risiko des Mißlingens, das wollte auch ein Celibidache
seinen musikalischen Fahrgesellen nicht zumuten.
Bei diesem auf das Gesamterlebnis gerichteten funktionalen Zugang
zu jeder einzelnen klanglichen Situation ist es klar, daß
beim Studium kein methodischer Unterschied vorgegeben ist, ob es
sich nun um ein Werk von Frescobaldi, Mozart, Tschaikowsky oder
um die bevorstehende Uraufführung eines neuen Werks handelt.
Der Unterschied entsteht erst jedesmal neu mit dem Erleben der Beziehungen
zwischen den angeeigneten Faktoren. Bewege dich wie ein Chamäleon
in der musikalischen Landschaft, und behalte stets den gesamten
Weg im Auge! Nur so, indem sie als lebendiges Wesen ersteht, ist
der spezifische Ton einer Komposition zu treffen. Das Ganze war
für Celibidache eben nicht die zusammengezählte Summe
der Details, weswegen er auch darauf bestehen konnte, von der ersten
Probe an keine Partitur zu benötigen (auch bei Uraufführungen),
indem er die Details nicht mehr als Gedächtnisleistung abzurufen
brauchte, sondern aus ihrer Sinnfälligkeit im Gesamtzusammenhang
heraus erlebte. Wissen ist unerläßlich als Voraussetzung
zur funktionellen Aneignung. Aber dann, im Akt des Musizierens,
ist kein Wissen mehr dabei. Die Aneignung geschieht, um frei zu
werden für die nächste Aneignung. Das vollzieht sich in
einem kontinuierlichen Prozeß des Nicht-anders-Könnens,
der nicht zwanghaft abläuft, sondern nur dem freien, sich spontan
betätigenden Bewußtsein zugänglich ist. "Und
wenn der starke Intellektuelle meint, Musik wäre damit [mit
dem Intellekt] zu erfassen, dann wüßte ich wirklich nicht,
warum Adorno gelebt hat und wo seine vielen Löcher im Wasser
geblieben sind."
Und doch hätte Celibidache seine besondere Affinität zu
Bruckner nicht bestritten. Er hielt ihn nach wie vor für einen
Unverstandenen, dem man aus Ratlosigkeit gegenüber seinen schöpferischen
Dimensionen die Probleme seiner Interpreten zum Vorwurf machte,
und trug sich mit dem Gedanken, ein Buch über Bruckner schreiben.
Celibidache hat kein Buch geschrieben, wie er auch keine Platten
mehr gemacht hat. Sicherlich hat er Bruckners Tonsprache,
seine Stileigenheiten geliebt. Und sicher war die der deutschen
Romantik zusprechende, Bruckners Musik tief verbundene Mentalität
seines Orchesters, der Münchner Philharmoniker, die beste Voraussetzung
für seine ohnehin vorhandene Neigung. Aber was Celibidache
an Bruckner am meisten schätzte im Gegensatz zu Mahler
, war dessen Fähigkeit und Streben nach formaler Konzentration,
nach "Interkorrespondenz aller beteiligten Werte". Hier,
in Bruckners Formwelt, griff der von ihm so gerne zitierte Zen-Satz
"Wenn ein Gras stirbt, weinen alle Wälder", denn
"Bruckner hat es von allen am weitesten gebracht als Sinfoniker.
Keiner hat es wie er vermocht, auch bei maximaler Gegensätzlichkeit
der Gedanken immer die Identität von Anfang und Ende zu erleben.
Alles hängt mit allem zusammen. So ist zum Beispiel die lange
E-Dur-Fläche am Schluß des ersten Satzes der siebenten
Sinfonie nur aus der Zurückhaltung, dieser Verzweiflung vor
der Coda heraus berechtigt."
Von organisch zusammenhängendem Erleben waren Celibidaches
Bruckner-Aufführungen erfüllt. Die extremen Kontraste
sind stets im Bewußtsein ihrer finalen Ergänzung ausgespielt.
Keine Wirkung wird vermieden, auch wird nirgends eine Wirkung gesucht,
die im Tonsatz nicht angelegt wäre. Die lyrischen zweiten Themen
sind in ihrer Essenz, ihrem kontrapunktischen Reichtum ausgekostet,
ohne je in berauschte Schwelgerei abzugleiten. Alles ist zielgerichtet.
Nicht nur die orchestrale Balance, ausgesungene Phrasierung und
sinnfällige Offenlegung der motivischen Strukturen, auch die
Kunst der Übergänge hat Celibidache kultiviert wie kein
Zweiter. Er hatte den weiten Atem für Bruckners harmonische
Artikulation, für die formkonstituierenden Notwendigkeiten
in dessen visionären Architekturen, dessen prinzipiell neue,
über bloße Ansätze bei Beethoven (7. Sinfonie, 1.
Satz) und Schubert (9. Sinfonie, 1. Satz) hinausgehende formale
Errungenschaft: "Bruckner blieb nicht bei der einfachen Gegensätzlichkeit
zweier Themen, der Sonatenform: Er explorierte die Triangulation,
die konsequent aus der Opposition von drei einander entgegengesetzten
thematischen Welten entsteht. Das bedeutet nicht einfach: 'drei
Themen' das gibts ja schon bei Beethoven , das
setzt vielmehr auch das Opponieren der harmonischen Flächen
voraus." Ein Komponist, der so entschlossen neue Dimensionen
formaler Tragfähigkeit erkundet, riskiert Unausgewogenheiten:
"Als Ganzes wirklich gelungen sind die vierte, fünfte
und vor allem in der zyklischen Geschlossenheit der Sätze
die achte Sinfonie. Die drei Sätze der neunten Sinfonie
sind wunderbar aufeinander bezogen; leider fehlt der letzte Satz.
In der dritten Sinfonie herrscht eine leichte Willkür im zweiten
Satz, und in der sechsten und siebenten Sinfonie gibt es Probleme
im Finale." Gemeint sind jeweils die Endfassungen, denn hier
hielt es Celibidache kategorisch mit Bruckners letztem Willen, nicht
ohne triumphierenden Verweis auf die viel gelungenere Gesamtdisposition
in der letzten Version der achten Sinfonie. Work-in-progress als
Ergebnis war für Celibidache möglicherweise interessant,
aber bei seiner kompromißlos an der Einmaligkeit und Unumkehrbarkeit
des musikalischen Prozesses orientierten Haltung musikalisch nicht
verwertbar.
Viele Unausgewogenheiten von Bruckners Instrumentation sind nicht
ihm anzulasten: "Nichts ist unsymphonisch bei Bruckner. Die
Schwäche der Holzbläser ist aufgrund der neueren Entwicklung
der Blechbläser zu mehr Intensität zustandegekommen. Bruckner
hat die tiefste Oktave im Orchester entdeckt und reichlich davon
Gebrauch gemacht. Eine entsprechende Dimension stand in der Höhe
nicht zur Verfügung. Dadurch fehlt oben etwas. Diese Fähigkeit,
die oberste Oktave tragfähig zu machen, ist vor allem bei den
Franzosen zu bewundern. Bei Ravel und Debussy klingt der Diskant
nie zu schwach." Was das Tempo betrifft, hat Celibidache unermüdlich
unterstrichen, daß dieses keine Existenz in sich besitzt,
sondern nur als einmalige Bedingung die Vielfalt der Erscheinungen
zu einer Einheit bindet. Tempo sei nicht dasselbe wie seine meßbare
Manifestation, die Geschwindigkeit. Diese ist abhängig von
der Informationsdichte, die nicht ein für allemal für
ein bestimmtes Stück festgelegt werden kann, denn zu viele
variable Faktoren spielen herein wie beispielsweise die Saalakustik,
die Besetzungsstärke, der Ausdrucksreichtum und die Befindlichkeit
einzelner Spieler usw. So ist das Ergebnis auch unter optimal einstudierten
Bedingungen jedesmal ein anderes, einmaliges. Hier liegt auch der
Hauptgrund für Celibidache konsequente Ablehnung der Schallplatte.
Ein anderer Grund ist der, daß ein großer Teil der Klangerscheinungen
(vor allem Obertöne, Kombinationstöne, real räumliche
Mischverhältnisse) nicht aufgenommen werden kann, folglich
eine ästhetisch wie auch immer zu rechtfertigende Entstellung
darstellt und somit die klingende Berechtigung der Tempi aushebelt.
"Das 'Langsame' bei Bruckner ist im Reichtum fest begründet.
Bruckner dauert nicht." Wenn er also auf der CD doch dauert,
dann dürfen wir uns wieder daran erinnern, was alles fehlt.
Celibidache hat die Konservierung des musikalischen Augenblicks
mit einem Foto verglichen. Man kann vieles erkennen, nur nicht,
wie es wirklich war. Daß ihn die Moden der Zeit nicht erschütterten,
ist freilich unschwer zu begreifen: "Bruckner ohne Weihe? Warum
nicht auch Suppe ohne Wasser?" Denn "was du an Bruckner
schätzst, ist nicht 'seine Musik', sondern was seine Klänge
in dir hinterlassen, was absolut nicht faßbar, nicht zu definieren
ist."
Christoph Schlüren
(Beitrag für Klassik Heute, 1998)
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