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Orchesterwerke von Heinz Tiessen

Einheit von Gehalt und Gestalt

2. Symphonie op. 17 Stirb und Werde! (1911/12)

Die Symphonie in F 'Stirb und Werde!' entstand zwischen dem 14. Juni 1911 und dem 17. Oktober 1912 und wurde am 22. Mai 1914 unter Hermann Abendroth in Essen auf dem Tonkünstlerfest des ADMV (Allgemeiner Deutscher Musik-Verein) uraufgeführt. Die etwas gestraffte zweite Fassung gelangte am 18. Januar 1922 unter Hermann Scherchen in Berlin zur Uraufführung, der "sie mit seiner hinreißenden Wiedergabe zu großen Erfolgen führte, sie auch für sein Engagementsdebut bei der Frankfurter Museumsgesellschaft (9. April 1922) neben Beethovens Pastorale aufs Programm setzte". Im Vorwort zur bei Ries & Erler erschienenen Partitur vermerkte Tiessen: "Das Motto 'Stirb und Werde!' (aus Goethes 'Selige Sehnsucht') deutet keine formale Zweiteilung und Gegenüberstellung an, sondern – als Einheit – die unablässige Selbsterneuerung im Menschenleben. Die Symphonie will rein als Empfindungsstrom durchlebt werden, der durch Leidenschaften und Kämpfe zur Höhe des Lebens – zu Schmerz, Überwindung und Tod – und darüber hinaus wieder zum ewig weiterschreitenden Leben führt." Aus diesem "Programm" ist auch die Verankerung des jungen Tiessen in den romantischen Idealen zu ersehen, die sich zudem in Vortragsanweisungen wie "Mit größter Wucht und Leuchtkraft" (Augmentation des Hauptthemas in den Blechbläsern am Höhepunkt), "Sehr getragen und wuchtig, in härtestem Schmerz" (Wiederkehr des "dritten Themas") oder "Langsam und groß, gleichsam ins Überirdische wachsend" (f-c-Ostinato von Pauken und tiefen Pizzicati) ausweist. Die Gestaltung der Gesamtform ist überaus originell und meisterhaft, harmonisch kühn und stringent, mit bezwingender Dramaturgie der prägnanten Motivik, die nirgends ins Willkürliche ausschweift. Die drängende, markante erstthematische Welt ist bereits von ganz persönlicher Statur. Die lyrische Gegenwelt mit ihren mannigfaltigen motivischen Bildungen und Verflechtungen läßt zwischendurch die Vorbilder Strauss und auch Wagner aufscheinen, ein klagendes "drittes Thema" gesellt sich hinzu. Eine reguläre Durchführung der sonatenartig exponierten Gegensätze findet nicht statt, der durchführende Charakter durchdringt sich nach dem Höhepunkt nach und nach mit dem repriseartigen und mündet in die Rückkehr des Anfangscharakters. Tiessen hat sein kompositorisches Ethos 1911 (bevor Busoni diesen Begriff einführte) folgendermaßen formuliert: "Das Ziel der Kunst ist Klassizität… Aufgabe der Zukunft ist es, die sich noch als Selbstzweck aufdrängenden Errungenschaften der Neuromantik für die Gestaltung einer neuen, modernen Klassizität zu gewinnen."

Errungenschaft und Erbe

Man kann getrost in der 'Salambo' und dem davor, im September 1920, komponierten Streichquintett op. 32 die eigentlichen Höhepunkte von Heinz Tiessens hauptsächlicher Schaffenszeit erblicken. Die expressive Polyphonie, die Vorherrschaft des linearen Triebs, schafft ein Maximum an melischer Spannung und grell dissonanter, dabei immer profund ausgehörter harmonischer Explosivität, getaucht ins vielfältige Licht dramaturgisch klar geführter Orchesterfarben. Die Dominanz des polyphonen Prinzips führt jedoch nie dazu, daß – wie bei vielen seiner fortschrittstrunkenen Zeitgenossen und Nachfolger – die harmonische Fortschreitung ins Zufällige, Willkürliche oder schlicht Unwesentliche abtriebe. Auch die extremsten Entfernungen, die dem ungeübten Ohr quasi atonal, also bezugslos,

erscheinen mögen, sind in freitonaler, an keine Lehrkonvention gebundener Weise mit dem Ausgangs- und Zielpunkt unauflöslich verkettet und lassen so die Gesamtform als vom Komponisten erlebten und demzufolge für den Hörer erlebbaren, eindeutigen prozeßualen Zusammenhang fast körperhaft mächtige Gestalt annehmen. Tiessen trieb die von Strauss und Reger angestoßenen, von Schönberg expressionistisch im seelisch-Gestischen übersteigerten freitonalen Errungenschaften weiter, indem er den darin verborgenen, "ewigen Gesetzen" nachspürte und so – im Gegensatz zur zwölftönigen Patentmethode – den unwillkürlichen, aus sich selbst funktionierenden Bau großer Formen auf der Grundlage einer Befreiung von den dur-moll-tonalen Konventionen – die von ihm angestrebte "Einheit von Gehalt und Gestalt" – ermöglichte. Sein Schüler Eduard Erdmann folgte ihm darin nach und übertrug diese Schaffensprinzipien in seinem eigenen, völlig andersartigen und im Gestalthaften hörbar mehr am freitonalen Schönberg orientierten Stil auf die Gattung der Symphonie. Auch Sergiu Celibidache trug das kreative Ethos seines Lehrers Tiessen weiter, und die künstlerisch herausragende und gesellschaftsrelevante Stellung Celibidaches in der Musik der zweiten Jahrhunderthälfte ist in dieser Form ohne Tiessen Einfluß und auch noch im fortgeschrittenen Stadium korrektive Präsenz nicht denkbar. Für Celibidache hat Tiessen eine in manchem ähnliche, wenn auch noch intensiver prägende Rolle gespielt, wie zuvor Heinrich Schenker für Celibidaches anderes musikalisches Idol, Wilhelm Furtwängler. Weitere namhafte Kompositionsschüler Tiessens, der wie vielleicht kein anderer Zeitgenosse in den korrelativen Geheimnissen der in keine Schemata sich fügenden Modulationsprozesse zuhause war, sind Josef Tal, Rolf Kuhnert, Wolfgang Steffen, Klaus Sonnenburg und der Finne Erik Bergman.

Christoph Schlüren

[Einführungstext zu Koch-Schwann-CD, Ersteinspielung]