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Orchesterwerke von Heinz Tiessen

Einheit von Gehalt und Gestalt
Vorspiel zu einem Revolutionsdrama op. 33 (1921/26)

Dieses Stück wurde 1921 im Zuge der Musik zu Ernst Tollers 'Masse Mensch' (Regie Jürgen Fehling an der Volksbühne) skizziert und 1926 als 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' op. 33 ausgearbeitet. Das Hermann Scherchen gewidmete Werk kam am 9. März 1927 durch das Blüthner-Orchester Berlin unter Emil Bohnke zur Uraufführung. Tiessen schreibt darüber: "Nicht Vorspiel eines bestimmten Dramas. Die Entwürfe, das marschmäßige erste Thema (3/2-Takt) und das dumpfe, gequälte zweite (4/4-Takt) entstammen zwar meiner Musik zu Ernst Tollers 'Masse Mensch', die Komposition des op. 33 hat sich aber völlig davon entfernt und hat eine selbständige musikalische Gesamtgestaltung erfahren, die weder als Vorspiel zu 'Masse Mensch' möglich wäre noch auch etwa als ›Tondichtung‹ mit dem Verlauf des Dramas irgendwie parellel ginge. Skizze des Aufbaues:

A ›Sehr langsam, marschmäßig, mit größter rhythmischer Energie‹ (3/2-Takt).

B ›Dumpf und gequält‹ (Zweites Thema, 4/4-Takt, fugato).

A Reprise des ersten Teils, größer entfaltet und gesteigert zur Engführung des Fugatothemas B, mit kurzer Stretta. Generalpause.

C Zunächst intonieren geteilte Violen, die Schluß-Fuge einleitend, zart und sehnsüchtig die Weise 'Brüder, zur Sonne, zur Freiheit' in H-Dur. Modulation nach F-Dur erteilt der Trompete das Wort: sie führt das ganze Lied als dominierender Cantus firmus durch während der Fuge, deren Thematik aus Thema A entwickelt ist (Allegro, 2/2-Takt) und zuletzt in einer heftigen Krise gipfelt (Posaunen-Einsatz unisono mit Thema A), bis ein strahlender Ges-Dur-Quartsextakkord den Durchbruch zum hellen F-Dur gewährleistet. Als Coda hört man, zu melodischen Nachklängen des Cantus firmus, nur den Ton f in allen Lagen im Rhythmus des Themas A nochmals vom Pianissimo zum Fortissimo unerschütterlich emporsteigend.

Im Jahre der Uraufführung habe ich das Werk selbst zweimal auf Einladung dirigiert, in Crefeld auf dem Fest des ADMV (13. 6. 1927) und in Wiesbaden (im Schuricht-Konzert, 11. 11.)…, später noch in Königsberg… und in Berlin… Das Werk wurde oft aufgeführt, stets mit großem Erfolg, von Jascha Horenstein, Hermann Scherchen, Karl Rankl, Wilhelm Knöchel, Paul Scheinpflug, Paul A. Pisk, Anton von Webern [Wiener Erstaufführung 1929]… Es folgten bald Stuttgart, Kassel, Leningrad 1931. – Aus Furcht vor der Gestapo beschloß der Verlag, das Werk zu vernichten – bis auf einen kleinen Rest für sein Archiv und für mich. Nach Kriegsende hat in Berlin (Dezember 1946) Sergiu Celibidache mit dem Philharmonischen Orchester das Werk viermal aufgeführt, wobei auf Anordnung der sowjetischen Besatzungsmacht der Namensteil ›Revolutions-‹ fortfallen mußte, den übrigens Scheinpflug in Duisburg 1928 von sich aus gestrichen hatte."

1928 berichtete Kurt Westphal in der Februarnummer der Zeitschrift 'Die Musik': "Zweifellos gehört Tiessen zu den Begabtesten. Der Instinkt für szenisch empfundene, an szenische Darstellung gebundene Musik, der sich in mehreren seiner Bühnenmusiken offenbart hat, bewährt sich auch in diesem Vorspiel. Auch dieses Stück ist kaum getrennt von einem szenischen Vorgang denkbar. So sieht Revolution auf einem modernen Theater aus. Wirkliche Revolutionsmusik würde fesselloser sein. Hier aber ist alles geformt, Revolution in ein künstlerisches Prinzip übertragen, Revolution als Choreographie gesehen. Ausgezeichnet das Hauptthema, das sich träge in zunächst kleinen Intervallschritten vom Grunde des c erhebt, sich dann in größeren aufbäumt, um sich schließlich in der großen Septime steil aufzurichten. Organisch keimt aus dieser Exposition ein Fugato, welches das Thema von unten nach oben schichtet und sich

gleichfalls vom pp zum FFF aufreckt. Nach einer fast unveränderten Reprise des Anfangs setzt bald darauf ein dritter Aufstieg ein, nun aber mit dem Thema in der Umkehrung und in doppelt so raschem Tempo. Er gipfelt in einer von sämtlichen Instrumenten markierten rhythmischen Formel, die das Hauptthema nur mehr in seiner rhythmischen Gestalt zeigt, und endet in strahlendem F-Dur. – Der programmatische Charakter des Stückes ist unverkennbar, gedanklich und thematisch berührt es sich mit Kreneks 'Zwingburg'. Im Konzertsaal, in dem die Aufmerksamkeit des Hörers ausschließlich der Musik gilt, dürfte dieses Orchesterstück mit seiner geradezu körperlichen Wucht überstark wirken. Es ist durchaus aus dem Geist des Theaters, genauer: dem Geist tänzerischer Bewegungsdramatik geboren. Ich wünschte es mir in der Darstellung etwa durch die Wigman-Tanztruppe; die Verschmelzung von Klang und Geste müßte restlos sein."

Errungenschaft und Erbe

Man kann getrost in der 'Salambo' und dem davor, im September 1920, komponierten Streichquintett op. 32 die eigentlichen Höhepunkte von Heinz Tiessens hauptsächlicher Schaffenszeit erblicken. Die expressive Polyphonie, die Vorherrschaft des linearen Triebs, schafft ein Maximum an melischer Spannung und grell dissonanter, dabei immer profund ausgehörter harmonischer Explosivität, getaucht ins vielfältige Licht dramaturgisch klar geführter Orchesterfarben. Die Dominanz des polyphonen Prinzips führt jedoch nie dazu, daß – wie bei vielen seiner fortschrittstrunkenen Zeitgenossen und Nachfolger – die harmonische Fortschreitung ins Zufällige, Willkürliche oder schlicht Unwesentliche abtriebe. Auch die extremsten Entfernungen, die dem ungeübten Ohr quasi atonal, also bezugslos, erscheinen mögen, sind in freitonaler, an keine Lehrkonvention gebundener Weise mit dem Ausgangs- und Zielpunkt unauflöslich verkettet und lassen so die Gesamtform als vom Komponisten erlebten und demzufolge für den Hörer erlebbaren, eindeutigen prozeßualen Zusammenhang fast körperhaft mächtige Gestalt annehmen. Tiessen trieb die von Strauss und Reger angestoßenen, von Schönberg expressionistisch im seelisch-Gestischen übersteigerten freitonalen Errungenschaften weiter, indem er den darin verborgenen, "ewigen Gesetzen" nachspürte und so – im Gegensatz zur zwölftönigen Patentmethode – den unwillkürlichen, aus sich selbst funktionierenden Bau großer Formen auf der Grundlage einer Befreiung von den dur-moll-tonalen Konventionen – die von ihm angestrebte "Einheit von Gehalt und Gestalt" – ermöglichte. Sein Schüler Eduard Erdmann folgte ihm darin nach und übertrug diese Schaffensprinzipien in seinem eigenen, völlig andersartigen und im Gestalthaften hörbar mehr am freitonalen Schönberg orientierten Stil auf die Gattung der Symphonie. Auch Sergiu Celibidache trug das kreative Ethos seines Lehrers Tiessen weiter, und die künstlerisch herausragende und gesellschaftsrelevante Stellung Celibidaches in der Musik der zweiten Jahrhunderthälfte ist in dieser Form ohne Tiessen Einfluß und auch noch im fortgeschrittenen Stadium korrektive Präsenz nicht denkbar. Für Celibidache hat Tiessen eine in manchem ähnliche, wenn auch noch intensiver prägende Rolle gespielt, wie zuvor Heinrich Schenker für Celibidaches anderes musikalisches Idol, Wilhelm Furtwängler. Weitere namhafte Kompositionsschüler Tiessens, der wie vielleicht kein anderer Zeitgenosse in den korrelativen Geheimnissen der in keine Schemata sich fügenden Modulationsprozesse zuhause war, sind Josef Tal, Rolf Kuhnert, Wolfgang Steffen, Klaus Sonnenburg und der Finne Erik Bergman.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Koch-Schwann-CD, Ersteinspielung]