< RARE MUSIC STARTSEITE

Orchesterwerke v on Heinz Tiessen

Einheit von Gehalt und Gestalt

"Das Schaffen erst schafft die Form, jedesmal aufs neue. Form steht nicht am Anfang, sondern immer wieder erst am Ende der Arbeit. (In einer süddeutschen Fachzeitschrift schrieb ich im Winter 1913/14: "Form ist nicht eine leere Hülle, die vor dem Inhalt bestände. Form ist Gestaltungs-Ergebnis.") Vorher ist Ahnung des seelischen Gehalts (des Charakters der strömenden Kraftquellen), Ahnung eines bildnerischen Vorganges, der aus pulsierenden Kräften mit traumwandlerischer Selbstverständlichkeit sich zu einer organischen Form emporentwickelt. Auch mit dem Verstande pflegt und fördert der Künstler sein wachsendes Werk, so wie der Gärtner dem Pfirsichbäumchen dazu verhilft, das zu werden, was es – von sich aus werden muß. Wachsen kann es nur von selbst, aus Keimen und Kraftquellen, denen wir weder mit unserem Willen noch mit unserem lehrbaren Wissen nahekommen, einzig mit jener unmittelbaren, gleichsam religiösen Empfindung, dem schöpferischen Instinkt: der 'Phantasie'. Die bewußte Geistesarbeit soll weder über- noch unterschätzt werden; naivste, unwillkürlichste Regungen gehen im Künstler oft mit der bewußtesten, ja raffiniertesten Arbeitsweise und Denktätigkeit ein Bündnis ein, das – bei einem und demselben Individuum – den Laien wundernehmen darf.

…das Kunstwerk hat von sich aus seine eigene Seele: sein innerer Gehalt ist nur der, der von der Kunst erzeugt und selbstverdient ist. (Man weiß, daß ein guter Tanz besser und gehaltvoller ist als ein schlechter Psalm.) Nur durch die spezifische Qualität des Einfalls und der Gestaltung wird der Wert erzeugt: die Bedeutsamkeit des Vorwurfs ist für die Leistung des Schaffenden kein Guthaben, sondern erhöhte Anforderung. (Auch dieses weiß man, läßt sich aber oft vom Sujet täuschen.)

…Wer in seinen Denkvorgängen (vielleicht aus Mode) einer rein artistischen Gesinnung huldigt und sich von Erlebnissen und Ausdrucksabsichten unbeeinflußt wähnt, kann gleichwohl seine Vorgeschichte und Entwicklung nicht verleugnen und vielleicht auch aus einer Menschlichkeit schöpfen, die unbewußt, unwillkürlich aus ihm wirkt und den ebenso engen wie hochmütigen 'Atelierstandpunkt' seines Verstandes überragt. (Der umgekehrte Fall, daß jemand Tiefstes zu geben glaubt, der nur Triviales gibt, ist natürlich der häufigere, da Nichtkönnen häufiger vorkommt als Können; praktisch liegt hierin die Hauptrechtfertigung rein artistischer Kunst.)

…Seist du Komponist, Interpret oder Hörer: nicht nur der Gehalt, auch die Gestalt, der organische Bau eines Kunstwerks muß dir zu einem unmittelbar erfühlten Erlebnis werden; genau wie die Betrachtung eines Naturorganismus, etwa eines Baumes, den du mit – nahezu physischer! – schöpferischer Einfühlung förmlich aus seiner Wurzel in den Stamm aufsteigen und in Zweige und Blüten treiben spürst!

Wenn man sich den Vorgang des Schaffens in all seinen Komponenten und Gegensätzen überlegt, scheint er tausendfältig kompliziert und unentwirrbar; wenn man schafft, ist alles einfach, selbstverständlich, einheitlich."

Heinz Tiessen, 1928 (in 'Zur Geschichte der jüngsten Musik')

 

Salambo-Suite op. 34a

(Zwei Orchesterstücke nach dem Tanzdrama op. 34, 1922/23/56)

Das dreiviertelstündige Tanzdrama 'Salambo' in drei Bildern von Lucy Kieselhausen frei nach Flaubert darf als Heinz Tiessens ambitioniertestes Werk gelten. Tiessen 1924 in 'Das Prisma' (Bochum-Duisburg): "Die Musik der 'Salambo' wurde – ursprünglich nach einem Szenarium von Lucy Kieselhausen, das später nach dem Tode der Tänzerin vom Komponisten wesentlich verändert wurde – komponiert von Mitte Dezember 1922 bis April 1923. An Stelle einer naturalistisch-impressionistischen, illustrierenden oder doch literarisch gefügigen Haltung, wie sie damals noch vorherrschend war, suchte sie den Aufbau mit klaren eigenen Umrissen zu gestalten und die Kongruenz mit der Handlung (die als Tanz, nicht als Pantomime gedacht ist) nicht im Detail, sondern nur in der großen Kurve zu geben." Lucy Kieselhausen, Schülerin Grete Wiesenthals, starb 1926. "Nach ihrem schrecklichen Unfalltode (durch Benzinexplosion im Badezimmer bei brennender Stichflamme) hatte ich keine weiteren Schritte für das Werk unternommen; ich war mir überhaupt nicht bewußt, in meiner Partitur ein wirtschaftlich ausnutzbares Wertobjekt zu besitzen, und es ist sehr fraglich, ob ich andernfalls aus einem solchen Bewußtsein praktische Folgerungen gezogen hätte. Ich bin auch nie auf den Gedanken gekommen, Erfolge auszunutzen, sondern habe mich im Gegenteil stets ganz anderen Dingen zugewandt.

'Herr Tiessen, haben Sie nicht ein Ballett geschrieben?' Diese Frage, die Hermann Bischoff im Namen des ADMV im Jahre 1928 an mich stellte, war der Auftakt für die Uraufführung der 'Salambo'. Sie fand statt im Duisburger Stadttheater (Intendant: Saladin Schmitt) am 21. Februar 1929 und wurde zum Musikfest des ADMV (3. Juli) wieder aufgenommen. (Choreographie: Julian Algo, Dirigent: Gotthold Ephraim Lessing, Salambo: Edith Judis, Matho: Werner Stammer.)

Daß Salambo, die durch ihre Pflichthandlung als karthagische Oberpriesterin die grausame Vernichtung Mathos [des Anführers der meuternden Söldner] ermöglicht hat, in meinem Tanzdrama nicht eines so passiven Todes stirbt wie bei Flaubert, sondern in der Fassung von Lucy Kieselhausen sich an Mathos Leiche selbst den Tod gibt – was auch darstellerisch ganz anders ›über die Rampe kommt‹ –, erinnerte mich an den Schluß eines der genialsten modernen Romane: 'Die kleine Stadt' von Heinrich Mann. Die schöne junge Alba Nardini, die soeben in jäher Enttäuschung ihrer Liebe den Geliebten – Tenor und Frauenliebling – Nello Gennari erstochen hat, drückt sich, Leib an Leib mit ihm, das gleiche Todesmesser ins eigene Herz. Dieser fast wie Alltagstragik anmutende Vorgang erhält in beiden Fällen durch die Situationen und Charaktere dichterische Spannkraft, und die bei aller Unvergleichbarkeit der Gestalten und Umstände doch verwandte Reaktion im letzten tragischen Ja zur Liebe hatte mir den Stoff so nahe gebracht, daß ich ihn miterleben konnte, wie es not tat, um mich voll mit ihm zu identifizieren. Der Publikumserfolg war eindeutig und wurde von der Presse bestätigt.

 

Als das, was man 'Personalstil' nennt, und als ein in imposanter Linie aufsteigendes Bühnenwerk wurde 'Salambo' vollauf gewürdigt. Besonders berührten mich die verständnisvollen Worte, mit denen Alfred Einstein im Berliner Tageblatt meine Art und Auffassung bestätigte: 'Streng gefügt und dabei lebendig; Geste von stärkstem Ausdruck und dabei Musik'. Einige nannten 'Salambo' mein stärkstes Werk. Gewisse Kritiker machten aus ihrem Mißvergnügen kein Hehl, doch auch solche waren überzeugt, daß 'Salambo' über viele Tanzbühnen gehen würde. Es kam aber anders. Immer bedrohlicher kündigte sich das herannahende politische Erdbeben an, und trotz aller erfolgversprechenden Werbechancen hatte es mit der Duisburger Aufführungsreihe [bis heute!] sein Bewenden. Die tieferen Ursachen dürfte George Antheil, der mit dem Frankfurter Erfolge seiner Oper 'Transatlantic' in ähnlicher Lage war, in seinem 'Enfant terrible'-Buche richtig aufgezeigt haben: Die 'Inhaber politischer Ämter spürten die unausweichlich wachsende Macht der Hitlergruppe'; das Hitlerwort: 'Wenn wir zur Regierung kommen, werden Köpfe rollen!' war 'für alle wankelmütigen Stadt- und Länderregierungen das Zeichen, ihre beherzten liberalen Direktoren hinauszuwerfen'. Wie in kommunizierenden Röhren nach den hydrostatischen Gesetzen die Flüssigkeitsspiegel die gleiche Höhe zeigen, so schwand, in vorgeleisteter Gleichschaltung, die mutige Initiative der Programmgestalter überall im deutschen Konzert- und Opernwesen: es trat ein alarmierender Rückgang moderner Werke ein." (soweit Tiessen 1962 in 'Wege eines Komponisten'; weitere Informationen zum Tanzdrama stellt ein Aufsatz von Lucian Schiwietz in dem von Klaus Ley herausgegebenen Sammelband 'Flauberts Salammbô in Musik, Malerei, Literatur und Film, Tübingen 1998, bereit.)

1956 komprimierte Tiessen große Teile der Salambo auf Anregung seines Schülers Sergiu Celibidache zu einer für den Konzertsaal bestimmten 'Salambo-Suite' op. 34a (Zwei Orchesterstücke nach dem Tanzdrama op. 34), die Celibidache am 7. 10. 1957 im Tiessen-Geburtstagskonzert im Titaniapalast mit dem Radio-Symphonieorchester Berlin uraufführte. Stuckenschmidt schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22. 10.) über das Konzert: "In der Hamlet-Musik, die Tiessen 1919 für Reinhardt schrieb, stehen Dinge von einer beklemmenden Dichte der Stimmung, Akkordfolgen jenseits der Tonalität, in denen eine zangenhaft zwingende Logik am Werk ist. Hauptstück jedoch war die Konzertmusik aus dem Salambo-Ballett von 1927. Tanz und Todestanz Salambos, Triumphtanz Mathos, die lyrischen Klagen des Adagios, der Trauermarsch – das ist Musik aus starker, unbeirrter Eingebung, von vegetativen Kräften der Polyphonie genährt, unverbraucht im Klang und in der dissonanten Harmonik, immer wesentlich und oft von heftigem Temperament getragen. Celibidache und das Radio-Symphonieorchester spielten mit einer Hingabe, die in vielen Proben ihren adäquaten Ausdruck fand. Ein großer, gerechter Erfolg für Tiessen."

Errungenschaft und Erbe

Man kann getrost in der 'Salambo' und dem davor, im September 1920, komponierten Streichquintett op. 32 die eigentlichen Höhepunkte von Heinz Tiessens hauptsächlicher Schaffenszeit erblicken. Die expressive Polyphonie, die Vorherrschaft des linearen Triebs, schafft ein Maximum an melischer Spannung und grell dissonanter, dabei immer profund ausgehörter harmonischer Explosivität, getaucht ins vielfältige Licht dramaturgisch klar geführter Orchesterfarben. Die Dominanz des polyphonen Prinzips führt jedoch nie dazu, daß – wie bei vielen seiner fortschrittstrunkenen Zeitgenossen und Nachfolger – die harmonische Fortschreitung ins Zufällige, Willkürliche oder schlicht Unwesentliche abtriebe. Auch die extremsten Entfernungen, die dem ungeübten Ohr quasi atonal, also bezugslos, erscheinen mögen, sind in freitonaler, an keine Lehrkonvention gebundener Weise mit dem Ausgangs- und Zielpunkt unauflöslich verkettet und lassen so die Gesamtform als vom Komponisten erlebten und demzufolge für den Hörer erlebbaren, eindeutigen prozeßualen Zusammenhang fast körperhaft mächtige Gestalt annehmen. Tiessen trieb die von Strauss und Reger angestoßenen, von Schönberg expressionistisch im seelisch-Gestischen übersteigerten freitonalen Errungenschaften weiter, indem er den darin verborgenen, "ewigen Gesetzen" nachspürte und so – im Gegensatz zur zwölftönigen Patentmethode – den unwillkürlichen, aus sich selbst funktionierenden Bau großer Formen auf der Grundlage einer Befreiung von den dur-moll-tonalen Konventionen – die von ihm angestrebte "Einheit von Gehalt und Gestalt" – ermöglichte. Sein Schüler Eduard Erdmann folgte ihm darin nach und übertrug diese Schaffensprinzipien in seinem eigenen, völlig andersartigen und im Gestalthaften hörbar mehr am freitonalen Schönberg orientierten Stil auf die Gattung der Symphonie. Auch Sergiu Celibidache trug das kreative Ethos seines Lehrers Tiessen weiter, und die künstlerisch herausragende und gesellschaftsrelevante Stellung Celibidaches in der Musik der zweiten Jahrhunderthälfte ist in dieser Form ohne Tiessen Einfluß und auch noch im fortgeschrittenen Stadium korrektive Präsenz nicht denkbar. Für Celibidache hat Tiessen eine in manchem ähnliche, wenn auch noch intensiver prägende Rolle gespielt, wie zuvor Heinrich Schenker für Celibidaches anderes musikalisches Idol, Wilhelm Furtwängler. Weitere namhafte Kompositionsschüler Tiessens, der wie vielleicht kein anderer Zeitgenosse in den korrelativen Geheimnissen der in keine Schemata sich fügenden Modulationsprozesse zuhause war, sind Josef Tal, Rolf Kuhnert, Wolfgang Steffen, Klaus Sonnenburg und der Finne Erik Bergman.

Christoph Schlüren

[Einführungstext zu Koch-Schwann-CD, Ersteinspielung]