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Orchesterwerke von Heinz Tiessen

Einheit von Gehalt und Gestalt

Hamlet-Suite op. 30, Drei Orchesterstücke aus der Musik zu 'Hamlet' 1919/22

Heinz Tiessen komponierte die Musik zu Shakespeares 'Hamlet' zwischen dem 2. August und dem 19. Dezember 1919. Die Uraufführung fand am 17. Januar 1920 im Großen Schauspielhaus Berlin unter Klaus Pringsheim anläßlich der Inszenierung Max Reinhardts statt. Der 2. Satz, 'Ophelias Tod', war erstmals am 28. 2. 1920 in der Berliner Singakademie unter Hermann Scherchen als Konzertstück zu hören. Im Dezember 1922 erweiterte Tiessen die ursprüngliche Musik und richtete sie als Konzert-Suite ein. In dieser endgültigen Gestalt wurde die 'Hamlet-Suite' am 8. Juni 1923 auf dem Tonkünstlerfest des ADMV in Kassel unter Robert Laugs uraufgeführt und, so Tiessen in seiner Werkeinführung, "wurde weitgehend als stärkster Eindruck des Abends bezeichnet… Raabe hat es noch 1923 in Aachen aufgeführt; es folgten in Berlin zwei Aufführungen unter Jascha Horenstein, in Dortmund eine unter Wilhelm Sieben. Den größten Rahmen gewährte am 19. 3. 1928 die Leipziger Alberthalle im Märzkonzert der Lichtschen Chöre, als Horenstein drei Werke von mir dirigierte: außer der 'Hamlet-Suite' das 'Vorspiel zu einem Revolutionsdrama' op. 33 und als Uraufführung die (nach 1945 in 'Visionen' umbenannte) 'Totentanz-Suite' op. 29. Erst drei Jahrzehnte später, am 7. 10. 1957, erlebte ich zum ersten Mal (unter Sergiu Celibidache) die 'Hamlet-Suite' mit den heulenden Menschenstimmen, die man im Meeressturm zu hören glaubt. (Das Werk ›kam an‹.) Die mit ungleich bescheideneren Mitteln auskommende Elegie 'Ophelias Tod' war weit leichter zu realisieren. Stefan Frenkel hatte sie frühzeitig für Violine und Klavier bearbeitet, unlängst habe ich sie, angeregt von Emil Seiler, als 'Musik für Viola mit Orgel' op. 59 eingerichtet, und in der Gruppe 'Fünf Lieder nach verschiedenen Dichtern' meiner 'Zwanzig ausgewählten Lieder' ist der den Gesang umgebende instrumentale Teil freier ausgestaltet.

Über Satz I und III der 'Hamlet-Suite' ist noch zu sagen: Im Vorspiel tobt der nächtliche Meersturm, in dem man aufheulende Stimmen zu hören glaubt. Es schält sich das Hamlet-Thema heraus, dem verzerrte Klänge von des Königs Zechgelage folgen; darauf jäh emporfahrend das Hamlet-Thema, als spräche es Worte des ersten Monologs: 'O God, O God! How weary, stale, flat, and unprofitable / Seam to me all the uses of this world! / Fye on’t ! an fye ! ’tis an unweeded garden / That grows to seed; things rank and gross in nature / Possess it merely.' Stille. Zart entfaltet sich in der Oboe die Weise des letzten Ophelia-Liedes 'And will he not come again?', leise begleitet vom Hamlet-Thema der Violen, geht unter in neuem Anschwellen des Sturmes, die Klänge des Zechgelages steigern sich zum Gipfel: Mitternacht dröhnt in 12 Tamtamschlägen, grundiert vom Hamlet-Thema. Dann völliges Abklingen. – Der Totenmarsch [Tiessen schreibt vor: "Streng rhythmisch in sehr langsamem Marschtempo; ohne jede Modification"] erscheint als Huldigung des Fortinbras für Hamlet: 'For he was likely, had he been put on, / to have prov’d most royally : and for his passage, / the soldiers’ music and the rite of war / speak loudly for him.' Die szenisch gebotene Kürze des Totenmarsches machte erforderlich, ihm für die Konzertfassung einen Vorbereitungsteil voranzustellen." In der 'Hamlet-Suite' hat Tiessen zu einem ganz persönlichen, hochexpressiv verdichteten und zugleich suggestiv tonmalerischen Stil gefunden, der ihn ganz nebenbei als einen der wirklich großen Theaterkomponisten seiner Zeit ausweist.

 

Errungenschaft und Erbe

Man kann getrost in der 'Salambo' und dem davor, im September 1920, komponierten Streichquintett op. 32 die eigentlichen Höhepunkte von Heinz Tiessens hauptsächlicher Schaffenszeit erblicken. Die expressive Polyphonie, die Vorherrschaft des linearen Triebs, schafft ein Maximum an melischer Spannung und grell dissonanter, dabei immer profund ausgehörter harmonischer Explosivität, getaucht ins vielfältige Licht dramaturgisch klar geführter Orchesterfarben. Die Dominanz des polyphonen Prinzips führt jedoch nie dazu, daß – wie bei vielen seiner fortschrittstrunkenen Zeitgenossen und Nachfolger – die harmonische Fortschreitung ins Zufällige, Willkürliche oder schlicht Unwesentliche abtriebe. Auch die extremsten Entfernungen, die dem ungeübten Ohr quasi atonal, also bezugslos, erscheinen mögen, sind in freitonaler, an keine Lehrkonvention gebundener Weise mit dem Ausgangs- und Zielpunkt unauflöslich verkettet und lassen so die Gesamtform als vom Komponisten erlebten und demzufolge für den Hörer erlebbaren, eindeutigen prozeßualen Zusammenhang fast körperhaft mächtige Gestalt annehmen. Tiessen trieb die von Strauss und Reger angestoßenen, von Schönberg expressionistisch im seelisch-Gestischen übersteigerten freitonalen Errungenschaften weiter, indem er den darin verborgenen, "ewigen Gesetzen" nachspürte und so – im Gegensatz zur zwölftönigen Patentmethode – den unwillkürlichen, aus sich selbst funktionierenden Bau großer Formen auf der Grundlage einer Befreiung von den dur-moll-tonalen Konventionen – die von ihm angestrebte "Einheit von Gehalt und Gestalt" – ermöglichte. Sein Schüler Eduard Erdmann folgte ihm darin nach und übertrug diese Schaffensprinzipien in seinem eigenen, völlig andersartigen und im Gestalthaften hörbar mehr am freitonalen Schönberg orientierten Stil auf die Gattung der Symphonie. Auch Sergiu Celibidache trug das kreative Ethos seines Lehrers Tiessen weiter, und die künstlerisch herausragende und gesellschaftsrelevante Stellung Celibidaches in der Musik der zweiten Jahrhunderthälfte ist in dieser Form ohne Tiessen Einfluß und auch noch im fortgeschrittenen Stadium korrektive Präsenz nicht denkbar. Für Celibidache hat Tiessen eine in manchem ähnliche, wenn auch noch intensiver prägende Rolle gespielt, wie zuvor Heinrich Schenker für Celibidaches anderes musikalisches Idol, Wilhelm Furtwängler. Weitere namhafte Kompositionsschüler Tiessens, der wie vielleicht kein anderer Zeitgenosse in den korrelativen Geheimnissen der in keine Schemata sich fügenden Modulationsprozesse zuhause war, sind Josef Tal, Rolf Kuhnert, Wolfgang Steffen, Klaus Sonnenburg und der Finne Erik Bergman.

Christoph Schlüren

[Booklettext für Koch-Schwann-CD, Ersteinspielung]