< RARE MUSIC STARTSEITE

Halvor Haug

Unergründliche Tonwelt
Symphonie Nr. 3
'Das unergründliche Leben' (1991-93)

Halvor Haugs Formdenken ist organisch-monadisch, seine Tonsprache ist freitonal. Der formale Prozeß ist eng mit den harmonischen Hauptstationen verknüpft, diese wiederum sind nicht nicht unabhängig vom Ausgangsmaterial, von der Beschaffenheit des Protagonisten also: Ein jeder schafft sich seine eigene Welt, überläßt sich ihr aber auch. Haugs Dissonanzbehandlung, seine kollidierende Akkordik zwischen Verschmelzen und Aufbrechen, seine diatonisch geführte, chromatisch ausformulierte, ausdrucksstarke Melodik zeugen von hoher tonsetzerischer Sensibilität. Haugs Musik ist atmendes Kontinuum, das durch alle massiven Zusammenballungen und luftigen Freiräume hindurch in einer durch nichts ablenkbaren Spannung gehalten wird. In sich genommen mag es sehr episodisch wirken, aber dahinter steht höchste formale Konzentration. Wie nur ganz wenige beherrscht Halvor Haug das aus der Tradition gewachsene Instrument "Orchester", weiß seine Wirkungen einzuschätzen und die Wirksamkeit neuer Kombinationen. Er ist ein Virtuose der orchestralen Beleuchtungs- und Farbwechsel, der Integration widerstreitender Klangqualitäten im Dienste des absolut musikalischen Dramas. Diese Professionalität im Umgang mit dem scheinbar dekorativen Element kann den oberflächlich Hörenden leicht dazu verführen, hier den Wirkungsmusiker zu orten, den Manipulator der Empfindungen. Haugs Kunst jedoch läßt sich nur aus dem werkimmanenten Zusammenhang heraus begreifen, als symphonische Kunst im ursprünglichen Sinn.

Immerzu in unterschiedlichsten Erscheinungsformen taucht das viertönige, angespannte Hauptmotiv der dritten Symphonie auf: Als massives, breites Streicher-Unisono; ausdrucksneutral figurierend in der Harfe; in allerlei fortspinnender Abwandlung von keckem Herausfordern bis zu suchendem Dehnen in den Holzbläsern; in den polyphonen Fluß eingewoben in den tiefen Streichern; als aufgeregt ostinate Tremolofläche; als Marcato der Bratschen vor dichten Pianissimo-Schleiern; nach dem ersten größeren Ausbruch in langen Werten in der extremen Distanz von fünf Oktaven zwischen ersten Geigen und Bässen. Und so weiter. Die Umgebung verändert sich ständig, die intervallische Gestalt bleibt dieselbe. Was für eine unergründliche Vielgestaltigkeit sich in der kleinen Viertonzelle verbirgt! Eine Vielgestaltigkeit, die in einem Werk gar nicht auszuschöpfen ist.

Halvor Haug komponierte seine Dritte Symphonie 'Das unergründliche Leben' in einem Satz (in zwei Teilen) 1991-93 in Harestua. Das Trondheim Symphonieorchester, Auftraggeber der Komposition, spielte am 4. März 1994 in Trondheim unter seinem damaligen Chefdirigenten Ole Kristian Ruud die Uraufführung. Gegen Ende des Werks, im zweiten Teil, wird ein Tonband mit Nachtigall-Gesang zum gleichberechtigten Akteur neben der niedergeschriebenen Musik. Haug dazu: ""Ich wollte nicht besonders originell sein, indem ich ein Tonband mit Vogelgezwitscher in meiner Musik verwende. Das haben viele Komponisten vor mir schon gemacht. Außerdem fand ich es nie interessant, allein um der Originalität willen originell zu sein. Was aber vielleicht originell dabei ist: Diese Aufnahme wurde vom Komponisten und dem Dirigenten dieser Aufnahme zusammen selbst gemacht. Die Nachtigall ist in Norwegen ein seltener Vogel. Wir haben ihren Gesang im Juni 1992 in der Nähe von Oslo aufgezeichnet. Wenn nun im zweiten Teil meiner Symphonie die Vogelstimme erscheint, so habe ich das Tonband nicht als eine zusätzliche neue Farbe dem Orchester hinzufügt.

Vielmehr wurde die Musik unter Berücksichtigung des Vogelgesangs komponiert, ohne dabei aber neues musikalisches Material einzuführen.

Das Leben ist unergründlich. Ich war immer ein Amateur-Ornithologe. Aber als ich mit der Arbeit an meiner Dritten Symphonie begann, wußte ich nicht, daß sie mit dem Gesang einer Nachtigall enden würde. Manchmal geschehen Dinge in unserem Leben, die wir zuallerletzt erwartet hätten. Das macht das Leben lebenswert!"

Der Beginn von Halvor Haugs Dritter Symphonie präsentiert gleichzeitig das das ganze Werk durchdringende, viertönige Hauptmotiv in den Streichern (ais-h-d-cis) und seinen heftigen Gegensatz: unregelmäßige Marcato-Schläge des Bläser-Tutti. Abrupte Klangfeld-Wechsel, knappe thematische Fortspinnungen und das Auftreten entscheidender Nebenmotive (darunter ein scharf rhythmisiertes Sequenzmotiv) prägen das Folgende. Immer wieder wird eine neue Entwicklung aus einem neuen Ansatz geboren, gelegentlich nach einer Fermate, oft einfach mit einem neuen Klangfeld, mit einer Temporückung (breiter, sibelianischer Kontrapunkt der Bässe, dann wieder schillerndes oder auch aggressives Tremolo usw.). Doch basieren alle neuen Abschnitte auf bereits bekannten Elementen: Das Hauptthema taucht ständig auf, aber auch einige Nebenmotive, und im Poco largo präsentieren zuerst Klarinette und Horn über Terztrillern der Geigen ein Motiv, das fast die lyrische Anmut eines "Gegenthemas" hat (ges-d-f-des). In einer hochgespannten Fläche wird die fast synthetische Farbe der Schlaginstrumente im Pianissimo von Fortissimo-Walzen durchsetzt - eine bedrohliche Atmosphäre entsteht. Kontrapunktisch verdichtende Anläufe wechseln mit verhalteneren, kantableren Abschnitten. Die Spannung wächst untergründig beständig, und mit der Wiederkehr des Anfangscharakters (Marcato-Schläge contra Hauptmotiv) und der bedrohlichen Pianissimo-Fortissimo-Kontraste wird der Höhepunkt gebaut, der gedehnte Moment maximaler formaler Spannung. Die Verwandlung ins Piano überträgt dem Hauptmotiv im Staccato einen Scherzando-Anflug, und dem unvermittelt abbrechenden Holzbläsersatz folgt tatsächlich ein Quasi Scherzo-Allegro, pizzicato und genrehaft. Dann wieder abrupte Veränderungen. Der erste Teil schließt mit dem Quasi Scherzo-Typus ab.

Attacca folgt der aufgeregt tremolierende Streicher-Einfall (fff), der den zweiten Teil eröffnet. Neu kommen hier Elemente hinzu, die eine gewisse Naturnähe symbolisieren: unregelmäßige Woodblocks, vereinzelte Bläser-Glissandi, Flageolet-Gezwitscher. Aber auch das Hauptmotiv der Symphonie erobert wieder seine zentrale Stellung. Seine Weiterspinnung umgibt nun den Gesang der Nachtigall mit träumerischer Idylle. Der Nachtigallgesang verliert sich, eine großräumige melodische Entwicklung bis zum Fortissimo schließt sich an. Die Marcato-Schläge des Beginns kehren vor einem cis-Tremolo-Hintergrund wieder, münden in klare Durklänge, aus denen über tiefen Trillern der Streicher nochmals der Nachtigallgesang hervorgeht und allmählich in die Stille übergeht.

Christoph Schlüren, 1997

[Einführungstext zu Simax CD (Ersteinspielung)]