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Halvor Haug

Unergründliche Tonwelt
'Insignia';
Symphonische Vision für Kammerorchester (1993)

'Insignia' wurde vom Organisationskommittee der Olympischen Spiele in Lillehammer in Auftrag gegeben und im August und September 1993 komponiert. Die Uraufführung gab das English Chamber Orchestra am 15. Januar 1994 in Oslo unter Widmungsträger Ole Kristian Ruud. Haug zufolge wurde 'Insignia' "zwar für eine kleinere Orchesterbesetzung geschrieben, für ein Mozart- oder (früher) Beethoven-Orchester, aber es ist eine recht umfangreiche symphonische Form in einem Satz. Der Untertitel 'Symphonische Vision für Kammerorchester' weist darauf hin, daß es sich um eine lyrisch-dramatische symphonische Dichtung handelt, wenngleich ohne programmatischen Inhalt. Eine Insignie ist normalerweise etwas, was man empfängt, eine Ehrung, ein Zeichen von Anerkennung. Ich möchte lieber eine Insignie vergeben.

'Insignia' habe ich komponiert, nachdem ich erstmals in den Lofoten im Norden Norwegens war. Die dortige Natur hat eigentlich alles: Berge wie die Alpen, umgeben vom Meer. Die Großartigkeit der Natur wirkte wie ein Schock auf mich, und ich denke, daß mich das sehr stark inspiriert hat, als ich zwei Monate später an 'Insignia' arbeitete. Obwohl es sich bei 'Insignia' um absolute Musik ohne jegliche Schilderung handelt."

Die Tonsprache ist von 'Insignia' ist harscher, dissonanter als in Haugs anderen Werken, was eine klangliche Entsprechung zur schroffen, felsigen Natur der Lofoten sein dürfte. Der erste Abschnitt gehört allein den Streichern, affettuoso, fortissimo beginnend mit einem ersten achttönigen Hauptmotiv. In 'Insignia' ist der thematische Prozeß schwieriger zu verfolgen, weil mehrere Motive und Klangtypen gleichberechtigt widerstreitend eingesetzt sind. Die erste Phrase reißt umgehend ab, eine zweite später unter Hinzutritt eines kämpferischen Motivs.

Es folgt eine längere Fortspinnung. Gegen ein gis-Tremolo profiliert sich ein neues (Pizzicato-)Motiv, mit dem später die Bläser eintreten. Deutlich artikuliert sich die Gesamtform in mehrere Abschnitte. Der zweite, Meno andante, bringt im Englischhorn-Solo das "unergründliche" Hauptmotiv der Dritten Symphonie (gis-a-cis-c), eine Haugsche Obsession, die weittragendes Melos anfacht. Nach einem Neuansatz mit quasi demselben Motiv (gis-a-c-h) wird engmaschig gesteigert ind tremolierende Fortissimo. Auch der dritte Abschnitt, Appassionatamente, operiert mit dem "unergründlichen" Motiv (d-es-g-fis), in mehreren Anläufen wird der Spannungsbogen errichtet, wechselndes Tempo (bis hin zum Allegro moderato mit dem kämpferischen Motiv in den Pauken), aleatorischer Hintergrund, Tremolo, Marcato-Schläge usw. sind Mittel auskomponierten Aufruhrs. Einer Generalpause folgt ein knapp überleitender Abschnitt, der, Largamente assai, leidenschaftlich zum Anfang Bezug nimmt. Über Paukentremolo auf fis und tiefer Streicheraleatorik folgen Melismen der Flöte. Der letzte Abschnitt, Andante, basiert wieder auf dem "unergründlichen" Motiv und steigert sich machtvoll zum Fortissimo. Aus dem gleichen Motiv stammt auch die abrundende Unisono-Floskel. Der Schluß ist Adagio, zuerst quasi Lamento, dann alternierende Melismatik, Molto tranquillo. Nach einem f-Wirbel der Pauke endet diese "Symphonische Vision" trocken mit einem piano gezupften cis der Kontrabässe.

Christoph Schlüren, 1997

[Einführungstext zu Simax CD (Ersteinspielung)]