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Anton Bruckner (1824-96) Symphonie Nr. 9
in d-moll WAB 109 (1887-96, unvollendet)

"Der Majestät aller Majestäten"

I Feierlich; misterioso II Scherzo. Bewegt; lebhaft Trio. Schnel.l Scherzo da capo III Adagio. Langsam; feierlich

Mit der Uraufführung der Neunten Symphonie in ihrer originalen Gestalt durch die Münchner Philharmoniker unter Siegmund von Hausegger am 2. April 1932 setzte jene Bewegung in der Bruckner-Pflege ein, die sich vehement für die Originalfassungen seiner Symphonien stark machte und die entstellenden Bearbeitungen der einstigen Vorreiter für Bruckners Werk allmählich der Vergangenheit anheimfallen ließ. Die einstige Uraufführung in zumal instrumentatorisch willkürlich veränderter Weise hatte am 11. Februar 1903, mehr als sechs Jahre nach Bruckners Tod, sein Anhänger Ferdinand Löwe mit dem Wiener Konzertvereins-Orchester in Wien besorgt. In beiden Fällen waren selbstverständlich nur die vollendeten ersten drei Sätze erklungen, wobei Löwe auf Vorschlag Bruckners als Finale das Te Deum spielen ließ. Vom Finale hieß es, dieses sei ein Torso, dessen zahlreich überlieferte Skizzen nur zu Forschungszwecken zu gebrauchen seien. In Wirklichkeit war das Finale weitgehend fertig komponiert, jedoch nur teilweise instrumentiert, doch ist die Autograph-Partitur aufgrund fahrlässigem Umgang mit dem Nachlaß unvollständig überliefert. Der Zustand des Unvollendet-Seins wurde vielfach verklärt, und die Meinung war verbreitet, das Werk sei gerade auch ohne Finale herrlich schlüssig, indem Bruckner im Adagio dieser Welt Lebewohl gesagt habe (tatsächlich hat Bruckner in Anbetracht des absteigenden Choralthemas im Adagio von seinem "Abschied vom Leben" gesprochen). Hinzu kam der obligatorische Aberglaube angesichts der Zahl Neun (eigentlich ist die Neunte, nimmt man die f-moll-"Studiensymphonie" und die "Nullte" hinzu, Bruckners Elfte gewesen), denn auch Beethoven, Schubert ( wenigstens der Zählung nach), Dvorák und Mahler (der laut seiner Witwe das "Lied von der Erde" aus diesem Grund nicht Symphonie nannte und von der Zehnten nur den Kopfsatz vollenden sollte) sowie später Vaughan Williams kamen über die Neunzahl nicht hinaus. Solch zahlenspekulatorischem Nonsense war Arnold Schönberg sowieso lebenslänglich verfallen (man denke an seine verhängnisvolle Triskaidekaphobie), und symbolisch für derlei Gedankengewirre mag seine Äußerung von 1912 stehen: "Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muß fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe."

Bruckner wußte, daß die Neunte seine letzte Symphonie sein würde. Sie sollte die Krönung seines Schaffens werden, und er widmete sie – so ist es überliefert, "dem lieben Gott". Entgegen früherer Angaben – so teilt Herausgeber Benjamin Gunnar Cohrs in der jüngst in der Gesamtausgabe erschienen neuen, revidierten Partitur (auch hier ist die Neunte wieder Vorreiter!) der drei vollendeten Sätze mit – begann Bruckner mit der Arbeit an der Neunten bereits am 12. August 1887, nur zwei Tage, nachdem er die erste Fassung der Achten Symphonie abgeschlossen hatte. Doch sollten gravierende Unterbrechungen eintreten, die ihn letztlich von der Vollendung abhielten. Er hatte bereits die Exposition des Kopfsatzes skizziert, als er Mitte Oktober desselben Jahres von der Ablehnung der Achten durch den ihm wohlgewogenen Hermann Levi hörte. Dies führte zu einer tiefen Krise, und daraufhin schuf er nicht nur die stark veränderte zweite und endgültige Fassung der Achten, er überarbeitete auch die Erste, Dritte und Vierte Symphonie gründlich und nahm Verbesserungen an weiteren Werken vor. Zwischendurch arbeitete er an der Neunten weiter. 1891 spielte er dem Dirigenten und Komponisten Jean Louis Nicodé aus allen vier Sätzen vor. Doch weitere Neukompositionen wurden dazwischen geschoben: 1892 der 150. Psalm und 'Das deutsche Lied', 1893 das symphonische Chorwerk 'Helgoland'. Während der Fortschritte an der Neunten verwarf er zwei Trios (mit obligatem Viola-Solo, ein Unikum in seinem Schaffen) zum Scherzo. Endlich vollendete er den Kopfsatz am 23. Dezember 1893, das Scherzo mit dem definitiven Trio am 15. Februar 1894 und das Adagio nach großer Anstrengung am 30. November 1894. Diese Arbeit ging über seine unaufhaltsam nachlassenden Kräfte, und eine Rippenfellentzündung warf ihn für ein halbes Jahr nieder. Im April 1895 erhielt er die Sterbesakramente, doch scheinen ihm diese neue Lebenskraft eingeflößt zu haben, und schon im Mai war er mit einer neuen Final-Skizze beschäftigt. Ein Jahr später war in mehreren Zeitungen zu lesen, Bruckner habe "den Schlußsatz seiner IX. Symphonie vollständig skizziert". Laut Cohrs dürfte er bis Juni 1896 "im ersten Stadium (Streicher in Tinte, Instrumentationshinweise) bis an das Satzende gelangt sein". Im Sommer 1896 handelte er sich eine schwere Lungenentzündung ein, von der er sich kurzfristig noch einmal erholte. Am 11. Oktober 1896 starb Bruckner, ohne die Instrumentation vollendet und eine beschließende Durchsicht vorgenommen zu haben.

Wodurch sich nun noch das bis heute anhaltende postume Drama um das Finale der Neunten abspielen sollte, schildert Cohrs: "Unglücklicherweise war Bruckners Wohnung im Schloß Belvedere leicht zugänglich, und die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich rasch. Bevor das Sterbezimmer versiegelt werden konnte, hatten sich schon, wie sein letzter Arzt Dr. Richard Heller berichtete, ´Befugte und Unbefugte wie die Geier auf seinen Nachlaߪ gestürzt und zahlreiche Manuskripte gestohlen. Auch die Nachlaßverwalter begingen Versäumnisse. Es wurde keine Inventarliste aufgenommen, und erst am 18. Oktober wurden die Manuskripte gesichtet." So kommt es, daß heute die Manuskriptseiten in aller Welt verstreut sind und vieles vermutlich noch irgendwo unentdeckt existiert. Aus dem eruierbaren Material haben die Bruckner-Forscher Nicola Samale, John A. Phillips, Giuseppe Mazzuca und B. G. Cohrs eine ergänzte Aufführungsfassung erstellt, deren Partitur und Stimmen im Eigenverlag der Autoren erhältlich sind. Man kann nur hoffen, daß dieses work-in-progress durch weitere Funde authentisiert wird. Natürlich wird es nicht möglich sein, das Werk an Bruckners Stelle zu vollenden, jedoch kann auf diese Art wenigstens eine Ahnung von der gigantischen Architektur jenes Finales vermittelt, in der die Energien dieser seiner gewaltigsten und harmonisch kühnsten Symphonie kulminieren und sich vereinigen sollten. Als Ersatz-Finale bestimmte Bruckner sein Te Deum, was sich nicht einbürgerte. So wird es wohl üblicherweise dabei bleiben, daß der Konzertgänger eine unvollendete Symphonie in drei Sätzen zu hören bekommt, in deren Gesamtkontext das Ende des Adagios (welches in schlüssig ist) einen "offenen Schluß" bildet. In Bruckners Kopf war das Finale vollendet, und er hat die Coda am Klavier seinem Arzt Dr. Heller vorgespielt, der ihn mit folgenden Worten zitiert: "Nun widme ich der Majestät aller Majestäten, dem lieben Gott, mein letztes Werk und hoffe, daß er mir noch so viel Zeit gönnen wird, es zu vollenden und meine Gabe gnädig aufnimmt. Ich habe deshalb vor, das Allelujah des zweiten Satzes mit aller Macht wieder im Finale zu bringen, damit die Sinfonie mit einem Lob- und Preislied an den lieben Gott endet."

 

 

Es ist fraglos abwegig, Anton Bruckner als einen Romantiker zu bezeichnen. Die späteren Romantiker haben ihn nicht verstanden, weil seine tiefe Ruhe, sein unermeßlich scheinendes Zeit- und Raumempfinden mit ihrem neurotischen Streben nicht in Einklang zu bringen war. Keineswegs ungewöhnlich ist daher folgende Mitteilung Hans Pfitzners vom 24. September 1940 an Walter Abendroth: "Ich habe neulich – besonders angeregt durch Sie – die Neunte Sinfonie von Bruckner angehört und wieder einmal mir vorgenommen, mich zu 'bekehren', und so viel schön wie nur möglich daran zu finden. Das Resultat war,daß ich nur noch viel bestimmter, als je zuvor, ihn als wahrhaft 'Großen' ablehne, fürder keine Mühe des Aufnahmewillens mehr an ihn verschwenden und von dem Urteil anderer mich gar nicht mehr beeindrucken lassen werde. Genau wie früher nehme ich die Scherzos gewissermaßen aus, als Stücke, in denen noch Musik und Einfälle vorkommen, das übrige ist uferloses Schwelgen in Dynamik und Harmonie; – ich muß es aussprechen: er ist ein überlebensgroßer Dilettant! Ich ändere meine Meinung nicht mehr, vielleicht ändert sich aber das Urteil der Welt – ich rechne nach 15–20 Jahren." Amüsanter ist eine amerikanische Kritik, die Nicolas Slonimsky in seinem unentbehrlichen 'Lexicon of Musical Invective' zitiert: "Bruckner is the greatest living musical peril, a total Antichrist. The violent nature of the man is not written on his face – for his expression indicates the small soul of an average Kapellmeister; and yet he composes nothing but high treason, revolution and murder. His music may radiate the fragrance of heavenly roses, and yet be poisoned with the sulphur of hell."

Der Kopfsatz ist der gewaltigste, den Bruckner geschrieben hat. In viel gigantischer dimensionierter Weise als im Kopfsatz von Beethovens gleichfalls in d-moll stehender Neunter muß das Hauptthema erst geboren werden. Ihm folgen – dies inzwischen der Brucknersche Königsweg der freithematischen Form – eine introvertiert lyrische zweite Themengruppe und ein primär motorisches drittes Thema. Daraus resultiert – wie schon im Kopfsatz der Achten, dessen Ende freilich seine Lösung erst mit der Kulmination im Finale findet – keine Sonatenform mit anschließender Durchführung und Reprise, denn diese durchdringen sich zu etwas Neuem. Nach der Wiederkehr des Hauptthemas bricht eine marschartige, bedrohliche Welt hervor, als habe sie die ganze Zeit über untergründig gelauert, und führt in die Katarakte des f-moll-Höhepunkts, der über einen klagenden Streicher-Abgesang zurückfindet zur Wiederkehr des zweiten und dritten Themas, bevor sich die mächtige Coda emporreckt. Was die Form des Satzes betrifft, trifft Robert Simpson (in 'The Essence of Bruckner')den Nagel auf den Kopf, wenn er sie in Statement (entspricht der Exposition) und Counterstatement (die aus der Themen-Gegenüberstellung resultierende Auseinandersetzung und deren Auflösung, also der Weg vom Beginn der Durchführung bis zum Schluß) gliedert.

Im dämonischen Scherzosatz ist, wie stets bei Bruckner, das zentrale Trio umrahmt vom beide Male identischen Scherzo. Sowohl Scherzo als auch Trio sind in sich auch als dreiteilige Formen angelegt, haben also sozusagen ihre eigene Trio-Episode. Erstmals bei Bruckner ist hier das Trio in einem schnelleren Tempo als das Scherzo (auch dies eine Parallele zu Beethovens Neunter). Im Scherzo wie im darauffolgenden Adagio geht Bruckner in seinem Dissonanzbedarf, der sich unwiderstehlich aus der Motivik und deren kontrapunktischem Kräftespiel herleitet, weiter als je zuvor. Der Themenkopf des Adagio-Hauptthemas – welcher wie im Adagio der Siebenten zunächst mottohaft isoliert bestehen bleibt und erst im zweiten und dem zum Höhepunkt führenden dritten Anlauf wirklich ins Geschehen eingreift – mag an den Kopf des Hauptthemas aus Wagners Faust-Ouvertüre erinnern. Doch wie schon von vornherein die motivische Innenspannung (Nonsprung!) ungleich größer und der Charakter kompromißloser ist, so sind auch die Folgen von in nichts dem einstigen Vorbild verbunden. Auf einen absteigenden, allen Schmerz transzendierenden Choral folgt die zweiteilige, lyrische Gegenwelt. Dem zweiten hauptthematischen Ansatz folgt eine Art erste Duchführung. Der Choral wird von einem Zitat aus der Achten Symphonie vertreten, bevor die Harmonik in der Sekundreibung der wiederholten Achtel von Oboen und Klarinetten einfriert. Nun beginnt, obligatorisch figuriert und zunächst getragen vom Seitenthema, dann vehement betrieben vom sich selbst kontrapunktierenden Hauptthemakopf, die große Steigerung, die sich in einem Höhepunkt von solch knirschender Dissonanz zusammenballt, wie ihn die Geschichte bis dahin nicht kannte. Alles weitere ist Lösung, jedoch nur für diesen Satz. Das Fehlen des Finales kann nicht wettgemacht werden.

Christoph Schlüren

(Einführungstext für Salzburger Festspiele 2001)