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Anton Bruckners V. Symphonie

Wolfgang Amadeus Mozarts
Symphonie KV 385

Auferstanden aus Ruinen

In seinem 1909 erschienenen Büchlein 'Die Symphonie nach Beethoven' schrieb der bedeutende Dirigent Felix Weingartner: "Bruckners Symphonien gleichen den Ruinen eines wundervollen Tempels, die von unkundiger Hand restauriert sind. Wir sehen mächtige Säulen, herrliche Kapitäle und gewaltige Gebälke, doch eins paßt nicht immer zum anderen, und die Lücken sind oft durch gewöhnliches Mauerwerk ausgefüllt. Das Auge muß sich daher mit der Betrachtung schöner Einzelheiten begnügen und auf einen Gesamteindruck verzichten, ebenso wie das Ohr bei Bruckners Musik." Und an anderer Stelle: "Ich gestehe, daß mich in der neuen symphonischen Musik kaum etwas mit so merkwürdigem Zauber umspinnen kann, wie ein Thema oder eine kurze Partie aus Bruckners Werken. Doch dieser Zauber verringert sich mehr oder minder im Verlauf des Werkes und schwindet mitunter gänzlich. Mein künstlerisches Empfinden hat mich bisher stets untrüglich darauf hingewiesen und wird es wohl auch ferner tun, daß das schön und groß Empfundene dauernd nur dann fesseln kann, wenn es in vollkommener Form geboten wird." Hans Pfitzner und viele andere sahen es ähnlich. Heute muten solche Einlassungen den seriösen Betrachter grotesk an. Sergiu Celibidache hat sich ein Leben lang wie nur wenige Musiker auf den Formzusammenhang konzentriert. Ob er ein Werk öfter aufs Programm setzte oder nicht, hing entscheidend vom "Gelingen der symphonischen Dimension", also von der bezwingenden Gesamtwirkung (wenigstens der einzelnen Sätze) ab, wobei er solides Epigonentum nicht als solches Gelingen akzeptieren mochte. Denn wahres Gelingen ist nur aus relativ unabhängigem Schaffen heraus möglich. Wie er nun Mahlers Zerrissenheit, seine Idee, die Symphonie müsse "die ganze Welt enthalten", schroff ablehnte, so fand er in Bruckner ein Ideal von Geschlossenheit, das weit herausragte: "Als Ganzes wirklich gelungen sind seine Vierte, Fünfte und vor allem die Achte Symphonie. Auch die drei Sätze der Neunten sind wunderbar aufeinander bezogen, doch leider fehlt der letzte Satz. In der Sechsten und Siebenten Symphonie gibt es Probleme im Finale. Bruckner hat es am weitesten gebracht als Symphoniker. Keiner hat es wie er vermocht, auch bei maximaler Gegensätzlichkeit der Gedanken immer die Identität von Anfang und Ende zu erleben."

Dem sei zugunsten Weingartners entgegengehalten, daß Bruckners kompositorisches Denken nicht nur neu und unerhört war, sondern vor allem nicht als maßgeblich respektiert wurde. Gerade die Fünfte Symphonie mit ihrer großartigen Gesamtarchitektur wurde von Bruckners treuesten Anhängern entsetzlich entstellt. Wenn Wilhelm Furtwängler sagte, das Finale der Fünften sie "das monumentalste Finale der Weltliteratur", so konnten kritische Zeitgenossen Bruckners wenig davon ahnen. Sein Schüler Franz Schalk hatte nicht nur erhebliche Veränderungen an Instrumentation (darunter ein zusätzlicher Bläserchor für die Final-Apotheose!), Dynamik und sogar Stimmführung vorgenommen, sondern darüber hinaus umfangreiche Kürzungen verfügt, die z. B. den größten Teil der Reprise des Finales betrafen. Die Form als erlebbarer Zusammenhang war damit völlig zerstört, und es darf nicht verwundern, wenn Bruckner im Zuge dessen außer von Ignoranten und Reaktionären auch von vorurteilslos eingestellten Kennern abgemahnt wurde. Bruckner selbst hat seine Fünfte, welche er die "Phantastische" nannte, nie zu hören bekommen. Aus gesundheitlichen Gründen war ihm die Teilnahme an der Uraufführung am 8. April 1894 in Graz unter Schalk, 16 Jahre nach Vollendung der Symphonie, verwehrt geblieben, der Besuch der Budapester Erstaufführung am 18. Dezember 1895 unter Ferdinand Löwe sowieso. Alle weiteren Aufführungen fanden nach Bruckners Tod statt, doch sollten sechs Jahrzehnte nach Entstehen der Fünften vergehen, bis sie erstmals in der Originalgestalt aufgeführt wurde. Von da an konnte eigentlich erst die Geschichte ihrer angemessenen Rezeption beginnen. Was Bruckner von Schalk und Löwe, auf deren Einsatz er in hohem Maße angewiesen war, hielt, ist bekannt: "Hören Sie mir auf mit diesen zwei Kerlen! Wenn die meine Symphonien spielen, kenn’ ich sie ja nimmer." Wenn trotzdem unlängst Leon Botstein seine Neueinspielung der Schalk-Edition von 1894 als Alternative anpries, hat dies heutzutage entweder einen rein historisch verstandenen Wert oder Ulkcharakter.

Bruckner war von einer begnadeten Unbeirrbarkeit, und die von Ernst Schwanzara überlieferten Worte vom 11. Januar 1892 sind bezeichnend: "Den Beethoven nannten sie seinerzeit das musikalische Schwein, er gehört ins Irrenhaus. Ich denke mir: Nur hin, nur her, nur schreiben, nicht rechts und nicht links schauen. Bis der [Hanslick] das versteht, bin ich längst schon hin. Bald nennen sie mich Narr, bald Meister. Die sollen schreien, soviel sie wollen. Wenn das, was ich schreibe, gut ist, wird es bleiben; wenn nicht, so wird es zugrunde gehen."

 

In der Fünften Symphonie hat Bruckner zum ersten Mal das Hauptgewicht ins Finale verlegt (die Endfassung der Vierten entstand später), welches zusammenfassende und krönende Funktion übernimmt. Sie ist seine kontrapunktisch komplexeste, strukturell komplizierteste Symphonie. Die engmaschigen Imitationen in den Fugato-Abschnitten des Finales deutlich herauszuarbeiten rüttelt an den Grenzen des Möglichen, so beharrlich ist das Wechselspiel der Einsätze auf engstem Raume verzahnt. Niemand verstand es da akribischer, das strukturell Wesentliche bzw. Erforderliche hörbar zu machen als Celibidache, der im Herbst 1981 mit der Fünften den finalen Höhepunkt seiner Stuttgarter Bruckner-Aufführungen anvisierte. Die extremen Kontraste, die in der Fünften noch schroffer formuliert sind als in den anderen Symphonien, sind hier nie unverbunden wirkende Ereignisse. Alles ist im gegenseitigen Bezug erlebt und durchlebt. Die Form ist an die Grenzen des Faßlichen getrieben, ohne sie zu sprengen und damit das Ausmaß der Kontraste ins Spekulative hinauszuverlegen. Im Adagio schlägt Celibidache den 6/4-Takt der Pizzicato-Streicher und läßt so die elementare Spannung zwischen 6/4- und gleichzeitigem 4/4-Takt (beginnend mit dem Thema der Solooboe) erst greifbare Realität werden. Der ganze Satz entsteht mit einer unerbittlich abgründigen Innigkeit wie nirgendwo sonst. Auch den durch alle Formstadien hindurchtragenden Spannungsbogen des grandiosen Finales, der sich erst im beschließenden Wiedererringen des B-Dur im Choralthema löst, läßt er mit einer stringenten Präzision und Bewußtheit über die Position jeder Einzelheit im Gesamtprozeß erstehen, die vergeblich ihresgleichen suchen dürften. Bruckners Fünfte Symphonie ist in der Behandlung der Orchestergruppen, in der Registersetzung seine orgelhafteste. Die Möglichkeiten des Orchesters sind andere. Das entscheidende Stichwort bei Celibidache ist Vermenschlichung. Das Gesangliche, die natürliche Phrasierung der menschlichen Stimme ist hier allgegenwärtiges Vorbild instrumentaler Gestaltung.

Feinstoffliche Ekstase

Celibidaches Mozart-Aufführungen sind sogar bei vielen seiner Verehrer auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. Oft wurden ihm Manierismus und Glättung vorgeworfen. Die schroffen Akzente, derben Fortissimi und grellen Hörner zumal der heute meist favorisierten historisierenden Aufführungspraxis, aber auch die Schwere und destabilisierende Sentimentalität der romantischen Tradition wird man bei ihm vergeblich suchen. Er verstand Mozart ganz aus der 'Urlinie' heraus, aus der immerwährenden modulatorischen Beweglichkeit aufgrund des alles determinierenden harmonischen Plans. Das fordert vom Hörer, was auch von den Ausführenden verlangt wird: höchste Geistesgegenwart, äußerste Sensibilisierung. Unter Celibidaches Leitung ist Mozarts Musik nicht unterhaltend, sie fordert vielmehr restlose Konzentration ein. Dafür bedarf es keiner überzogenen Momenteffekte. Celibidache gelingt eine feinstoffliche Ekstase, die sich oberflächlicher Hörerwartung nicht preisgibt. So begriffen vermittelt Mozarts Musik alles andere als kontinuierliche Stimmungen, in die sich nach Belieben eintauchen läßt. Die erforderliche Haltung ist absolut in medias res. Und aus solchem alle Details in ihrem einmaligen Zusammenhang umfassenden Musizieren heraus sind die Wiederholungen im Sonatenhauptsatz nicht nur überflüssige Konvention, sondern störend, ja, die ungebrochene Erfassung des Gesamtablaufs verhindernd. Anders die Wiederholungen im Menuett, welche potenzierende, konstitutiv formbildende Funktion haben. Die Tempi, die Celibidache im Juni 1976 in den Ecksätzen der 1782 komponierten 'Haffner'-Symphonie anschlug, passen nicht zu den über ihn gebildeten Klischees. Sie sind ausgesprochen frisch und lebendig, zumal bei solcher Wendigkeit der Phrasierung und Transparenz des Kontrapunkts. Die dynamischen Vorgaben sind, wie stets bei Celibidache, nicht als absolute Werte in sich verstanden, sondern relativ, also jeweils auf die konkrete Situation spezifisch angewendet und äußerst flexibel. Der zweite Satz ist breiter als üblich genommen, da Celibidache den Andante-Charakter nicht im ausgewiesenen 2/4-Takt, sondern einzig im 4/8-Metrum zu verwirklichen sah. Patentrezepte lehnte Celibidache auch in Barock und Klassik, den Domänen des Stilpurismus, ab und ließ jedes Stück als ein eigenes Wesen neu erstehen.

Christoph Schlüren